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TITEL/INHALT

Chronologie der deutschen Gewerkschaftsbewegung von den Anfängen bis 1918 / Von Dieter Schuster. Mit einem Vorw. von Rüdiger Zimmermann und Registern von Hubert Woltering. - Bonn : Bibliothek der Friedrich-Ebert-Stiftung, 1999

Stichtag:
27. Dezember 1884

Der Berliner Polizeipräsident übergibt dem preußischen Innenminister eine Denkschrift "Die Gewerkschaftsbewegung in Deutschland", in der er feststellt, daß die geringe Lebenskraft der "Gewerkvereine" sich namentlich auch darin zeige, daß "dieselben auch nach der zeitweiligen völligen Beseitigung der sozialdemokratischen Konkurrenz durch das Sozialistengesetz nicht weiter Wurzel zu schlagen vermochten. Neuerdings hat der Versicherungszwang des Krankenkassengesetzes diese Gewerkvereine wieder zu einem gewissen Aufflackern gebracht und ihnen, ihrer Krankenkassen wegen, eine Anzahl neuer Mitglieder zugeführt.
Die mannigfachen, in den Einrichtungen der 'Gewerkvereine' hervorgetretenen Mängel, der an Despotismus streifende Zentralismus in der Organisation und das steigende Mißtrauen der Arbeiter in das von den 'Gewerkvereinen' proklamierte Prinzip der bloßen Selbsthilfe, wird für die Gewerkvereine auch für die Folge 'nur eine kümmerliche Entwicklung' prognostiziert.
Umso lebenskräftiger haben sich von jeher die von der sozialdemokratischen Parteileitung vor Erlaß des Sozialistengesetzes als 'Gewerkschaften' begründeten oder begünstigten Vereinsbildungen erwiesen.
Die besondere Eigentümlichkeit der (deutschen) Gewerkschaftsbewegung und zugleich die Hauptquelle der Schwierigkeiten für die Behandlung derselben seitens der Behörden liegt jedenfalls in dem Zusammenfließen wirtschaftlicher und politischer Tendenzen, welche bei den gegenwärtig bestehenden Gewerkschaften nicht sowohl in dem offiziellen Programm als in dem tatsächlichen Verhalten derselben hervortritt.
Erstreckt sich die politische Tendenz der Gewerkschaften nur auf die Mittel zur Durchführung eines an sich unpolitischen wirtschaftlichen Programms (Regelung der Arbeitszeit, des Arbeitslohnes, der sonstigen Arbeitsbedingungen, der Frauen- und Kinderarbeit und dergleichen), so entspringt dieselbe durchaus naturgemäß der richtigen Erwägung, daß ein derartiges Programm in großem Stil und mit nachhaltiger Wirkung kaum allein durch den bloßen Druck der vereinigten Arbeiter auf die Arbeitgeber, sondern, wenn überhaupt, so nur unter Mitwirkung politischer Faktoren, insbesondere der Gesetzgebung, verwirklicht werden kann.
Weniger natürlich, aber auf die Dauer gleichfalls schwer vermeidlich erscheint das Eindringen der politischen Tendenz auch in die 'Ziele' der Gewerkschaftsbewegung. Die Anknüpfung der gewerkschaftlichen Agitation an gewisse, den Arbeitern in ihren Tagessorgen besonders empfindliche Punkte bringt die Leiter der gewerkschaftlichen Organisationen in ein ganz besonders enges persönliches und sachliches Verhältnis zu ihren Gewerksgenossen. Der Besitz der gewerkschaftlichen Vertrauensposten wird also von Natur zu einem Machtmittel von so besonderer Bedeutung, daß es nur zu begreiflich ist, wenn politische Parteien sich um denselben aufs eifrigste bemühen. Dafür bilden die Verbände im allgemeinen eine Elitetruppe. Deshalb sind die Fachverbände das sicherste Mittel zur Beherrschung der Arbeitermassen."

Die meisten Fachvereine werden als Sammelpunkte sozialdemokratischer Elemente geschildert. Besonders groß sei der Einfluß in den Organisationen der Manufakturarbeiter, Maurer, Metallarbeiter, Schneider, Schuhmacher, Tabakarbeiter und Tischler.
Dem Polizeipräsidenten sind z.Z. 13 gewerkschaftliche Zentralverbände bekannt:
Allgemeiner Weißgerber-Verband (Sitz: Altenburg);
Verband der Glacéhandschuhmacher (Sitz: Altenburg);
Deutscher Xylographenverband (Sitz: Stuttgart);
Unterstützungsverein Deutscher Buchdrucker (Sitz: Stuttgart);
Unterstützungsverein deutscher Hutmacher (Sitz: Leipzig);
Unterstützungsverein der Bildhauer Deutschlands (Sitz: Stuttgart);
Verband deutscher Zimmerleute (Sitz: Berlin);
Zentralverband der deutschen Tischler- (Schreiner-) Vereine (Sitz: Stuttgart);
Deutscher Manufakturarbeiter und -arbeiterinnenverein (Sitz: Gera);
Zentralverband der Schneider und verwandten Berufsgenossen Deutschlands (Sitz: Hamburg);
Verband der Steinmetzen Deutschlands (Sitz: Berlin);
Unterstützungsverein deutscher Schuhmacher (Sitz: Gotha);
Reiseunterstützungsverein deutscher Tabakarbeiter (Sitz: Bremen).
Der Polizeipräsident stellt weiter fest: "Die Statuten dieser Verbände sind häufig nach Form und Inhalt denjenigen der älteren aufgelösten Gewerkschaften sehr ähnlich.
Die Gewerkschaftsbewegung bleibt noch gegenüber der Zentralkassenbewegung zurück, obwohl die treibenden Elemente bei beiden durchaus die gleichen sind.
Gleichwohl kann aus solchen Verhältnissen in Zukunft keineswegs auf eine geringere Lebensfähigkeit der Gewerkschaftsbewegung geschlossen werden, obwohl das Fernbleiben von den Krankenkassen eher zu spüren ist als von den Gewerkschaften. Leute ohne vorausblickenden Gemeinsinn sich daher von den Fachorganisationen umso eher auszuschließen geneigt sind, als die Mitglieder derselben leicht in eine sehr exponierte Stellung gegenüber den Arbeitgebern und den Behörden geraten, und die von den Verbänden erreichten Erfolge häufig von selbst auch den außerhalb derselben stehenden Gewerksgenossen zugute kommen."
Der Polizeipräsident äußert gegen eine strengere Anwendung der verschiedenen Gesetze Bedenken, da damit "auch wertvolle und immer unentbehrlicher werdende Organe zur Vertretung berechtigter wirtschaftlicher Fachinteressen vernichtet werden". Auch ließen sich neue Organisationsbestrebungen nicht völlig ausschalten, "so drängt sich die Frage auf, ob nicht der Versuch an der Zeit ist, in positiver Weise die Gewerkschaftsbewegung bei der Auffindung der richtigen Ziele zu unterstützen und derselben einen festen gesetzlichen Boden zu bereiten, auf welchem ihre naturwüchsigen wirtschaftlichen Bestrebungen zu einer gesunden Entwicklung gelangen könnten, gleichzeitig aber allen schädlichen Abirrungen im staatlichen und gesellschaftlichen Interesse ausreichend vorgebeugt wäre."
Er schlägt deshalb ein Reichsgesetz vor, das den Wirkungskreis und die besonderen Rechte der gewerkschaftlichen Organisationen klar und deutlich abgrenzt, wie andererseits die Stellung der Staatsgewalt zu derselben einheitlich zu regeln hätte.
"Durch den Erlaß eines Reichsgesetzes würde der Staat nicht nur großen sozialen Gefahren vorbeugen, sondern auch den Anfang zu der korporativen Ausgestaltung des Arbeiterstandes machen, nach welcher derselbe, dem heutigen Zuge der Zeit entsprechend, ebenso wie andere Erwerbsstände instinktiv zu ringen scheint."
Die Denkschrift wird zu den Akten gelegt.



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