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TITEL/INHALT

Chronologie der deutschen Gewerkschaftsbewegung von den Anfängen bis 1918 / Von Dieter Schuster. Mit einem Vorw. von Rüdiger Zimmermann und Registern von Hubert Woltering. - Bonn : Bibliothek der Friedrich-Ebert-Stiftung, 1999

Stichtag:
Mai 1873

Im "Volksstaat" erscheinen mehrere nicht gezeichnete Artikel "Praktische Emanzipationswinke", die sich mit der Zweckmäßigkeit der Gewerkschaften beschäftigen. Diese Artikel wollen beweisen, daß es ein verhängnisvoller Irrtum sei, die Gewerkschaften der rein politischen Bewegung direkt unterzuordnen. Klar sei allerdings, daß es die politische Bewegung sei, durch die sich die Arbeiter die volle Gleichberechtigung und die Abschaffung der Klassenherrschaft zu erkämpfen habe. Aber klar sei auch, daß die Befreiung des Arbeiterstandes nicht das Werk eines Jahrzehnts sein könne. Es nutze nichts, die Massen auf die soziale Revolution zu vertrösten. Der Trieb des Arbeiterstandes nach Befreiung sei tatsächlich vorhanden und er betätige sich auch. Sei es in politischer Agitation oder in gewerkschaftlicher Tätigkeit, immer gehe das Bestreben darauf hinaus, sich Unabhängigkeit zu erkämpfen. Es sei aber stets so gewesen, daß sich die Unterdrückten zunächst gegen die drückendsten Fesseln gewehrt hätten, und darum sei es verständlich, daß sich der Arbeiter zunächst bemühe, widerliche Fabrikordnungen zu beseitigen, kurze Arbeitszeit, geregelte Löhne und dergleichen zu erkämpfen. Das sei die Vorschule des Proletariats, die es an Erfahrungen bereichere, von Irrwegen ablenke und die festen Positionspunkte schaffe, von denen aus die Arbeiter endlich die wirkliche Ursache ihrer Knechtschaft erkennen und an ihrer Beseitigung arbeiten könnten. Es müsse sich nun darum handeln, dieser Erkenntnis Vorschub zu leisten, damit die Arbeiter den Kampf mit dem Bewußtsein führen lernten, daß es gelte, die Ursachen des wirtschaftlichen Kampfes zu beseitigen. Da zeige sich nun, daß die gewerkschaftlichen Bestrebungen den Gedanken an die Emanzipation der Arbeiterklasse zum Reifen bringe, und deshalb müßten diese sich natürlicherweise bildenden Organisationen den rein politischen gleichgestellt werden.
Es sei ein guter Gedanke des Erfurter Gewerkschaftskongresses gewesen, die Unabhängigkeit der Gewerkschaftsbewegung vom politischen Parteigetriebe zu befürworten. Die Gewerksgenossenschaften seien der feste Untergrund und das starke Gemäuer, das der politischen Agitation feste Haltepunkte und Stetigkeit verleihe. Sie könnten der politischen Bewegung nie schaden, sondern stets nützen, deshalb seien Beschlüsse, wie der des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins, sie aufzulösen, geradezu ein Frevel. Vor allem sei es wichtig, neue Mitglieder durch belehrende Vorträge und Schriften zu gewinnen, Arbeitsnachweise, Reiseunterstützungen usw. einzuführen. Ein Statutenparagraph könne gern ausdrücken, daß Religion und Politik fernzuhalten seien. Das ändere nichts daran, daß die Gewerkschaften in Wirklichkeit durch Wahrung der gemeinsamen Interessen schon politisch wirkten. Dies werde verstärkt durch die Beschäftigung mit den Gesetzen über Arbeiterschutz und dergleichen. Dazu kämen die Verfolgungen, denen die organisierten Arbeiter durch die Behörden ausgesetzt seien, diese im Verein mit Volksversammlungen, Wahlen usw. bringe dann den Gewerkschaftlern den Gedanken bei, wie vieles sie mit der sozialdemokratischen Partei gemeinsam hätten. Es werde sich ihnen die Überzeugung aufdrängen, daß der Sozialismus eine geschichtliche Notwendigkeit sei, die nur planmäßig gefördert zu werden brauche.



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