Chronologie der deutschen Gewerkschaftsbewegung von den
Anfängen bis 1918 / Von Dieter Schuster. Mit einem Vorw. von Rüdiger
Zimmermann und Registern von Hubert Woltering. - Bonn : Bibliothek der
Friedrich-Ebert-Stiftung, 1999
Der 1. Verbandstag der Hirsch-Dunckerschen Gewerkvereine in Berlin diskutiert nach dem Waldenburger Streik ausführlich über Streiks. Obgleich von einzelnen Vertretern betont wird, daß die gepredigte Versöhnung zwischen Kapital und Arbeit aus dem Grunde unausführbar sei, weil der größte Teil der Arbeitgeber von ihr nichts wissen wolle, so wird doch eine Resolution angenommen, in der es heißt, daß "im Prinzip jede Arbeitseinstellung als den beteiligten Parteien, Arbeitnehmer wie Arbeitgeber, schädlich zu verwerfen sei". Deshalb soll eine Kommission Normen darüber feststellen, unter welchen Verhältnissen eine Beteiligung an derselben statthaft sei.
Stichtag:
26./29. August 1871
Bei dieser Gelegenheit wird auch die prinzipielle Frage nach dem Verhältnis zwischen Kapital und Arbeit erörtert. M. Hirsch führt aus, daß zwischen beiden kein Gegensatz, sondern eine natürliche Harmonie der Interessen bestehe. Allerdings mache sich ein Gegensatz insofern geltend, als der Kapitalist das Interesse habe, für möglichst viel Arbeit möglichst wenig Lohn zu zahlen, während der Arbeiter für möglichst wenig Arbeit möglichst viel Lohn zu erhalten wünsche. Aber diese Erscheinung erkläre sich daraus, daß die natürliche Harmonie durch die plötzliche großindustrielle Entwicklung momentan gestört sei und der Ausgleich sich noch nicht vollzogen habe. Die Abhilfe könne durch den kollektiven Vertragschluß zwischen der Gesamtheit der Arbeiter und Arbeitgeber als gleichberechtigter Faktoren geschaffen werden. Deshalb seien gewerbliche Schiedsgerichte und Einigungsämter nach dem englischen Vorbilde zu schaffen.
Schiedsgerichte müssen durch freie Wahl aller Arbeitgeber und Arbeitnehmer, möglichst nach Berufszweigen geordnet, gebildet werden. Noch wichtiger seien ständige Einigungsämter zur Regelung der Lohn- und Arbeitsverhältnisse, welchen sich die Arbeitgeber und Arbeitnehmer freiwillig aber bindend unterordnen und welche nachweislich die verderblichen Arbeitseinstellungen zu verhüten vermögen. Es sei wünschenswert, daß die Mitglieder der Schiedsgerichte zugleich die Einigungsämter bilden.
Der Verbandstag nimmt diese Auffassungen einstimmig in einer Resolution an.
Der Verbandstag empfiehlt die Gründung von Produktivgenossenschaften, ohne jede Staatshilfe. Bei Unterstützungskassen lehnen die Delegierten jeden staatlichen Zwang ab, sind aber für eine freiwillige Beteiligung der Arbeitgeber.
Den Ortsvereinen wird die Förderung der Bildungsbestrebungen empfohlen. Der Verbandstag fordert alle Gewerk- und selbständigen Ortsvereine auf, den "Gewerkverein" zu abonnieren.