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2.3. Metteur in Lübeck (1866 – 1874)

„Nach Deutschland zurückgekehrt, ist Dietz seit 1866 in der Buchdruckerbewegung tätig" (Schwäbische Tagwacht 1913).

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2.3.1. Anfänge gewerkschaftlicher und sozialdemokratischer Organisation in Lübeck

Als Heinrich Dietz Ende 1866 (Schwäbische Tagwacht 1922) in seine Heimatstadt zurückkehrte, war der Krieg schon beendet (Kautsky 1913, S. 4). Seine jüngere Schwester, Doris, war 1865 gestorben (AHL, Gen.Reg.), die Mutter wahrscheinlich auch. Der Stiefvater Peter Klein war inzwischen in das Altenheim des Hl. Geist-Hospital am Kuhberg übergesiedelt [Ob Heinrich Dietz’ Mutter noch lebte, war nicht mehr festzustellen. Sie wäre zu der Zeit 62 Jahre alt gewesen (AHL, Gen.Reg.). Der Stiefvater starb im Januar 1870 im Hospital (AHL Gen.reg.).] (Adreß- buch L. 1866; Holm 1900, S. 139). Christian Dietz, der ältere, jetzt 30jährige Bruder, hatte sich als Schneider in der oberen Glockengießerstraße Nr. 240 niedergelassen [Nach Ollenhauer (1963, S. 10), NDB (1957), Läuter (1966, S. 202), Deckert (1975, S. 214), Knobloch (1981) und ESZ (1981, S. 16) wandte sich Heinrich Dietz von Rußland aus direkt nach Hamburg . Melderegister führte die Stadt Lübeck erst ab 1884, so daß unklar blieb, wo Heinrich Dietz nach seiner Rückkehr und während der nächsten Jahren gewohnt hat.] (Adreßbuch L. 1866).

Trotz der damals relativ hohen Arbeitslosigkeit unter den norddeutschen Buchdruckern (Krahl 1916, S. 315) fand Heinrich Dietz Arbeit bei Christoph Marquardt Ed als ‘Metteur-en pages’ (Corr. 19[1881]Nr. 139 vom 2. 12.). Der ehemalige Herausgeber des „Bergedor- fer Wochenblattes" war 1865 von Bergedorf nach Lübeck übergesiedelt [Eds von J. Bock übernommene Druckerei lag in der großen Petersgrube, an der Ecke zur Trave im Haus Nr. 461.] und gab hier eine Zeitung unter dem Titel „Eisenbahn-Zeitung" heraus.

Seit Heinrich Dietz aus St. Petersburg zurück war, hatte sich die politische Situation mit der Bildung des Norddeutschen Bundes relativ stabilisiert. Im Juli 1867 trat die Verfassung in Kraft. Mit ihr erhielten die Männer in diesem Gebiet das allgemeine, gleiche, direkte Wahlrecht und Gewerbefreiheit in allen Mitgliedstaaten. Verbote gegen die Koalitionsfreiheit wurden aufgehoben. Die Hansestädte waren zwar nicht erfreut über die Eingliederung in einen Staatenbund, in dem Preußen mit 17 von 43 Stimmen die Übermacht hatte, konnten sich aber nicht ausschließen.

Der Allgemeine Deutsche Arbeiterverein Lassalles faßte auch in Lübeck Fuß. Im Oktober 1866 hatte sich ein „Zweigverein des großen deutschen Arbeitervereins konstituiert und als Programm das allgemeine, gleiche und direkte Wahlrecht auf sein Banner geschrieben" („Lübecker Vaterstädtischen Blätter", zit. in: Osterroth 1973, S. 3). Sozialdemokraten der ‘Eisenacher’ Richtung gab es in Lübeck nur sehr wenige. Die Lassalle-Anhänger beschlossen schon 1869, Nichtmitglieder von ihren Versammlungen auszuschließen, wegen der „Liebknecht-Bebelschen Schurkereien, die den Delegierten die Zeit stehlen". Sie hofften, daß „unsere Reihen von derartigen Consorten gesäubert sind" (ADAV-Protokolle 1980, S. 240).

Die wenigen Lübecker Buchdruckergehilfen hatten schon 1849 einen Ortsverein des Gutenbergbundes (eine Vorläufer-Organisation des Buchdruckervereins) und eine Kranken- und Sterbekasse gegründet. Mit dem Zusammenbruch des zentralen Gutenbergbundes 1853 schien zunächst aller Elan geschwunden zu sein: „Jahrelang blieben die Lübecker Buchdrucker jeder gewerkschaftlichen Arbeit fern. Der ‘Gutenberg-Verein’ sank zum Vergnügungsverein herab. [...] Die Johannisfeste blieben bis zum Jahre 1867 Höhepunkte im Leben der Lübecker Buchdruckergesellen" [Das Johannisfest wurde bei den Buchdruckern eigentlich um den Namenstag von Johannes Gutenberg am 24. Juni herum gefeiert. In Lübeck war aber die Rede von dem „traditionellen Wintervergnügen" , d.h., es ging hier um ein Fest am Namenstag Johannes (= 27. Dez. Buchdrucker-Verein, S. 44f.).] (Buchdrucker-Verein, S. 35ff., zit. S. 41f.).

Nachdem aber im Mai 1866 in Leipzig [Dort hatten die Buchdrucker 1862 einen Fortbildungsverein ins Leben gerufen und gaben seit 1863 ihr Vereinsblatt, den „Correspondent", heraus.] der ‘Deutsche Buchdrucker-Verband’ gegründet worden war (Herbig 1980), beschlossen auch die Lübecker Buchdruckergehilfen „in einer außerordentlichen Generalversammlung am 19. Januar 1867 [...] den Anschluß an den ‘Deutschen Buchdrucker-Verband’" (Buchdrucker-Verein 1924, S. 43). Einer der dort versammelten 39 Gehilfen [Um diese Höhe schwankten die Mitgliederzahlen bis 1876 (S. 94). Es war gleich beschlossen worden, die Namen derjenigen im „Correspondent" zu veröffentlichen, die nicht Mitglieder des neugegründeten Buchdrucker-Verbandes waren (Buchdrucker-Verein 1924, S. 43).] war der 23jährige Schriftsetzer Heinrich Dietz (Buchdrucker-Verein, S. 22), der später, am 18. April 1868, zum Schriftführer gewählt wurde (S. 87). Im Oktober desselben Jahres bildeten sich überall in Deutschland Gauvereine, auch der Lübecker Buchdruckerverein wurde „als selbständige Mitgliedschaft des Verbandes anerkannt" (S. 44). Als Gewerkschaft distanzierten sich die Buchdrucker deutlich von jeglicher Parteipolitik: „Zu den leitenden Grundsätzen dieser Gewerkschaft gehörte von Anfang her, daß parteipolitische und religiöse Bestrebungen innerhalb des Rahmens der Organisation nicht verfolgt werden durften. Die Durchführung dieses Grundsatzes wurde mit größter Strenge gehandhabt. [...] ‘Dem Setzer muß es gleichgültig sein, ob er heute konservative, morgen liberale Dinge setzt, ob er heute die Bibel, morgen Darwin unter die Hände bekommt’" (Bürger 1899, S. 167).

C. M. Ed, Heinrich Dietz’ Arbeitgeber, war dem Prinzipal-Verein nicht beigetreten und versuchte, Zwietracht zwischen den bei ihm beschäftigten Buchdruckern und ihrer gewerkschaftlichen Vertretung zu sähen. In seiner Zeitung veröffentlichte er „mit unverhohlener Freude die Notiz [...], die Buchdruckergehilfen Deutschlands wollen sich vereinigen, um der Tyrannei ihres Vorstandes entgegenzutreten"! Ein Gehilfe bei Ed (und man kann annehmen, daß das Heinrich Dietz war) versuchte, dieser Lüge öffentlich entgegenzutreten. Das gelang nicht, im Gegenteil ergriff ein Berufskollege die Partei des Druckereibesitzers. Heinrich Dietz hatte als Schriftführer der Ortsgruppe Lübecks auch die Aufgabe, im Fachblatt der Buchdrucker über den Stand der Bewegung zu berichten. Er kommentierte die Zustände in Eds Geschäft mehrfach im „Correspondent", hier mit der ironischen Bemerkung: „Ob der Herr wohl etwas gedacht hat, als er dies sagte, oder ob er es in süßer Gewohnheit seiner ‘Zeitung’ nachbetet?" (Corr. 6[1868]Nr. 41 vom 9. 10.)

Das Gewerkschaftsleben bestand jedoch nicht nur aus Sitzungen, auch das gesellige Leben hatte eine große Bedeutung. So traf man sich im Winter 1868 wieder zum traditionellen Johannis-Fest [Standesunterschiede, unterschiedliche Formen der ‘Geselligkeit’ in den Bevölkerungsgruppen schränkten die Partnerwahl erheblich ein. „Die Arbeiterin und der Arbeiter [und das trifft wohl auch auf das Handwerkermilieu in der Hansestadt zu, agr.] suchten und fanden ihre Partner in der Umgebung ihrer Familie und ihres Wohnens, im Quartier, seltener über den Arbeitsplatz, immer aber auch über die örtlichen Festlichkeiten, den Jahrmarkt, das öffentliche Vereinsfest [...]. Es kann nicht übersehen werden, daß [...] sich Liebschaften und festere Bande zwischen jungen Leuten oftmals auf solchen Festen knüpften" (Ritter/Tenfelde 1992, S. 619 und 833)] . Möglicherweise hatte Heinrich Dietz auf diesem Fest eine junge Frau getroffen, zu der er sich hingezogen fühlte, denn er wurde im nächsten Jahr zum ersten Mal Vater: Seine älteste Tochter Anna Henriette Wilhelmine wurde am 27. Oktober 1869 in Berlin geboren. Ein halbes Jahr später, am 14. Juni 1870, bestellte er mit der (wieder?) schwangeren Helene Zülow [Helene Zülow war die nichteheliche Tochter einer Dienstmagd und eines Gutsverwalters aus der Umgebung Lübecks. Zu vermuten ist, daß die Mutter wegen der unehelichen Geburt nach Berlin ging. Auch Heinrich Dietz’ ältester Bruder war vorehelich geboren. Beim Aufgebot und der Eheschließung ist eine gemeinsame voreheliche Tochter nicht erwähnt. Laut Stuttgarter Familienregister war Anna für ehelich erklärt (StA Stg, Fam.Reg., Bd. 77). Die Vaterschaft von Johann Heinrich Wilhelm Dietz steht bei den Vornamen der kleinen Anna wohl außer Zweifel. Ob die Mutter wirklich Helene Zülow war, ist zwar wahrscheinlich, konnte aber nicht endgültig geklärt werden. Vor der Reichsgründung galten restriktive Eheschließungsgesetze, so daß der Anteil der unehelichen Geburten an den insgesamt lebend Geborenen noch 12,3 % betrug, „und zwar häufig infolge einer auf Konsens der Partner beruhenden, nicht durch kirchliche Trauung rechtsförmig gewordenen Beziehung" (Ritter/Tenfelde 1992, S. 545). Nach der deutschen Statistik fiel dieser Prozentsatz 1872 auf 8,9 %, 1873 lag er bei 9,1 %, blieb dann lange relativ konstant und stieg erst 1914 wieder auf über 11 % an (Bevölkerung und Wirtschaft 1958, S.20).] das Aufgebot (AHL Procl.reg.). Die evangelische Trauung fand eine Woche danach, am 28. Juni, in der St. Marien-Kirche statt. Die Eheleute (und die inzwischen 8 Monate alte Anna?) bezogen eine Wohnung in der unteren Marlesgrube Nr. 506 [Erstmalig nach seiner Rückkehr aus St. Petersburg erschien die Angabe „Dietz, Johann Heinrich Wilhelm, Schriftsetzer, unt. Marlesgrube 506" im Lübecker Adreßbuch, Nachtrag für das Jahr 1870. In der Marlesgrube, die eine der Hauptzufahrtsstraßen in die Stadt war, lagen eine Reihe von Wirtshäusern und „Herbergen mit Ausspann" (Kommer 1981[b], S. 184).] Der Sohn Fritz, eigentlich Friedrich Georg Johannes, kam dort am 26. Januar 1871 zur Welt. Die Mutter war 23, Heinrich Dietz inzwischen 27 Jahre alt.

Ob Heinrich Dietz inzwischen über seine Gewerkschaftsarbeit hinaus politisch interessiert oder sogar aktiv geworden war, kann nicht mehr nachgewiesen werden. Obwohl vom ADAV angefeindet, existierte erst 1873 eine kleine Ortsgruppe der ‘Eisenacher’ (vgl. Osterroth 1973, S. 5). Im gleichen Jahr verzeichnete der ADAV 57 Mitglieder. Auf der Liste steht Heinrich Dietz’ Name nicht (AHL, Pol.amt Nr. 485) [Nach – allerdings recht vager – Mitteilung der „Schwäbischen Tagwacht" (1913) – darauf beruhend: Heymann (1930), Schröder (1986) und Kutz-Bauer (1988, S. 288) soll Heinrich Dietz auf Anregung ‘seines Freundes’ (Heymann) August Geib 1871 Mitglied der SDAP geworden sein. Das ist aber nach der Quellenlage eher unwahrscheinlich.] Er selbst selbst bezeichnete sich später als damals überzeugten Anhänger Ferdinand Lassalles (HD an KK, 28. 4. 1886, IISG, K D VIII, Br. 104). Auf mehreren gut besuchten Volksversammlungen des ADAV sprachen überwiegend Hamburger Referenten (AHL Pol.amt Nr. 501), mehrfach Georg Wilhelm Hartmann, aber nicht August Geib [Georg Hartmann fiel bereits 1880 nach einigen Streitereien bei der SPD-Führung in Ungnade (siehe dazu weiter unten) und äußerte sich später (Hartmann 1893) auch über H. Dietz sehr abfällig. Ob das der Grund ist, warum es Heinrich Dietz später vielleicht nicht mehr opportun schien, Hartmann als seinen ersten Kontakt zur Sozialdemokratie zu nennen, muß offen bleiben. Vgl. auch Kap. 3.1.] Der zur Reichstagswahl erneut in Lübeck kandidierende Hartmann bekam im Januar 1874 2.230 Stimmen, halb so viel wie der erfolgreiche nationalliberale Kandidat (Osterroth 1973, S. 6). Der Einfluß der Sozialdemokraten war gegenüber 1871 auch in Lübeck erheblich gestiegen [Georg Hartmann hatte 1871 – als Zählkandidat – nur 543 von 2.480 abgegebenen Stimmen herahlten.] Daß Heinrich Dietz von seinem Wahlrecht Gebrauch gemacht hatte, kann als sicher gelten.

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2.3.2. Gewerkschaftsfunktionär in Norddeutschland

Heinrich Dietz, der auch 1870/71 nicht in den Krieg ziehen mußte, setzte seine Gewerkschaftsarbeit in Lübeck fort. Der Leipziger Buchdrucker-Verein hatte während des deutsch-französischen Krieges einen ‘Waffenstillstand’ mit den Prinzipalen geschlossen, lediglich der Kontakt unter den Gehilfen sollte aufrechterhalten und Errungenes verteidigt werden (Corr. 8[1870]Nr. 59 vom 27. 6. und Nr. 81 vom 12. 10.). An die Verbandszeitschrift meldete der Schriftführer Dietz, in Lübeck ließe die Disziplin doch sehr zu wünschen übrig. So verlangte er energisch, die Minderheit müßte sich nun endlich an die Beschlüsse der Mehrheit halten! Organisatorische Maßnahmen, wie zum Beispiel die Einführung nur noch monatlicher Treffen, sollten Abhilfe schaffen. Darüber hinaus beschloß man, die lokalen Regeln mehr an die Verbandsstatuten anzupassen (Corr. 8[1870]Nr. 36 vom 7. 5. und Nr. 81 vom 12. 10.). Großen Erfolg brachten diese Neuregelungen aber nicht, denn im April 1871 wurde in einer recht gut besuchten Generalversammlung der Lübecker Buchdrucker einmal mehr über Disziplinlosigkeit und Unpünktlichkeit geklagt. Nun suchte man einen neuen Schriftführer, „da der bisherige, Herr H. Dietz, sich nicht geneigt zeigte, eine Wiederwahl anzunehmen; demselben wurde sodann, in Anbetracht seiner Verdienste um den Verein, der Dank der Anwesenden zuteil" (Corr. 9[1871]Nr. 35 vom 23. 4. [In der Lübecker Buchdrucker-Vereinschronik stand 1870 . Danach müßte aber die Zuschrift aus Lübeck erst ein volles Jahr später im „Correspondent" veröffentlicht worden sein.] ; Hervorhebung im Orig.).

Aus der Gewerkschaftsarbeit zog sich Heinrich Dietz aber nicht etwa zurück, er wurde im Gegenteil ein Vierteljahr später, im September 1871 zum Vorsitzenden Lübecker Buchdruckervereins gewählt. Heinrich Dietz übernahm damit die Führung von 41 Buchdrukkergehilfen in einem Ortsverein, von dem er noch nach der Versammlung im Januar 1872 konstatieren mußte, „daß eigentlich in Verbandsangelegenheiten hier bis jetzt nichts weiter geschehen ist, als daß die Steuern prompt und exakt abgeliefert worden" waren. Was die Löhne der Setzer betraf, so hatte sich nichts daran geändert, „daß hier am schlechtesten bezahlt wird von allen umliegenden Städten – 5-6 Taler gewisses Geld [‘Gewißgeld’, auch ‘festes Geld’, d.h. fester Wochenlohn (Dröge 1978, S. 329). Vgl. auch Kap. 2.2.] . – Ein Tarif existiert gar nicht" (Corr. 8[1870]Nr. 48, 18. 6.).

Heinrich Dietz engagierte sich in den nächsten Jahren stark in seiner Gewerkschaft, um diese Mißstände abzustellen. Er gewann erhebliches Ansehen und Einfluß unter den Buchdruckern im gesamten norddeutschen Raum, indem er Kontakte zu den Gewerkschaftsführern der umliegenden Städte knüpfte und den Anschluß seines kleinen Ortsvereins an den Gau Mecklenburg betrieb (Corr. 10[1872]Nr. 8 vom 27. 1. und Nr. 72 vom 7. 9.).

Nach der Zurückhaltung während des Krieges hatten die Buchdrucker reichsweit gewerkschaftliche Auseinandersetzungen um Tarifentlohnung und Arbeitszeitverkürzung begonnen. Zur Durchsetzung der Forderungen war es nötig, alle Kräfte zu bündeln. Schon auf dem Rostocker Gautag im September 1872 betrieb Heinrich Dietz deswegen die Vereinigung der Schweriner und der Lübecker Vereinsgruppen. Er hatte aber noch weitreichendere Pläne: Heinrich Dietz konnte dort erreichen, daß der (nun vereinigte) Gauvorstand darüberhinaus „eine Vereinigung der Gaue Mecklenburg-Lübeck und Schleswig-Holstein und eine Ausdehnung unserer Kassen auf Schleswig-Holstein" in die Wege leiten sollte. So gestärkt konnte man nun an erfolgreiche Lohnkämpfe denken. Heinrich Dietz erhielt die Zustimmung der Mehrheit für den Antrag: „Die Delegierten des Gaues Mecklenburg-Lübeck halten dafür, daß es notwendig ist, eine Preisaufbesserung in den vier größeren Städten des Gaues und zwar noch in diesem Winter durchzuführen, und verpflichten sich, in ihren Ortsvereinen dafür zu agitieren" (Corr. 10[1872]Nr. 80 vom 5. 11.).

Noch im September 1872 nahm Heinrich Dietz in Hamburg an einer Konferenz der Gauvorsteher von Hamburg-Altona, Mecklenburg, Lübeck und Schleswig-Holstein zur Vorbereitung der Tarifkämpfe teil. Dort wurde auch über die Vereinigung der Buchdruckereigehilfen zu einem Nordgau beraten. Die Schleswig-Holsteiner lehnten den Vorschlag aber ab. Ihnen war dieser Nordgau zu groß, sie unterstützten lediglich gegenseitige Besuche der Gautage (Corr. 11[1873]Nr. 12, 8. 2. und Nr. 13 vom 12. Febr.).

Zurück in Lübeck konnte Heinrich Dietz erreichen, daß sich an der nun einsetzenden ‘Preisbewegung’ auch die Lübecker Gehilfen beteiligten und ihrem Lohnkampf mit Streiks Nachdruck verliehen. Mehrfach stand deswegen im „Correspondent", Buchdruckergehilfen anderer Regionen sollten Lübeck und Rostock (wo ebenfalls gestreikt wurde) meiden, um ihren Gewerksgenossen nicht als Streikbrecher in den Rücken zu fallen (z. B. Corr. 10 [1872]Nr. 98, Nr. 99). Nach abschließenden Verhandlungen schloß Heinrich Dietz als Lübecker Gewerkschaftsführer den Vertrag ab. Im Dezember 1872 wurde „der Hamburger Tarif unter Zustimmung der Prinzipale und Gehilfen eingeführt" (Corr. 10[1872]Nr. 102 vom 21. 12.).

1873 fand der Mecklenburg-Lübecker Gautag in Lübeck statt (Buchdrucker-Verein 1924, S. 89). Als Lübecker Ortsvereinsvorsitzende eröffnete Heinrich Dietz die Versammlung am 14. September und wurde als stellvertretender Vorsitzender in das ‘Tagungsbüro’ gewählt. Als Schriftführer fungierten die Lübecker Gehilfen Robert Werner und Th. Hörnig [Vgl. Kap. 3.3.] . Aus Hamburg waren Friedrich Erdmann Schulz [Vgl. Kap. 2.4.] und L. Rosenthal als Gäste erschienen. Zu Ehren der Gäste luden die Lübecker Buchdrucker anschließend zu „einem allgemeinen Commers mit Damen und Tanz, welcher bis zum frühen Morgen des folgenden Tages die Deputierten, Gäste und Mitglieder des Lübecker Ortsvereins in der frohesten, durch keinen Zwischenfall getrübten Stimmung beisammenhielt" (Corr. 11[1873]Nr. 83 vom 15. 10.).

Der Gewerkschaftsvorsitzende Dietz wurde Anfang 1873 noch einmal Vater, nachdem er mit der Familie bereits 1872 in die Hartengrube, Nr. 758 des Marienquartiers, umgezogen war (Adreßbuch L., 1872, 1873), eine Parallelstraße zur Marlesgrube. Am 17. Februar kam dort die Tochter Doris [Eigentlich Johanna Elisabeth Minna Dorothea (AHL, Gen.Reg.)] zur Welt [Die Sorge für die drei Kinder war ausschließlich Sache der Mutter. Wenn man bedenkt, daß ihrem Mann nach einem 10-12stündigen Arbeitstag, bei 6 Werktagen in der Woche und Gewerkschaftstreffen am Wochenende für die Familie wenig Zeit geblieben sein dürfte, war das in den Anfangsjahren mit einem nicht sehr üppigen Lohn für Helene Dietz bestimmt nicht immer einfach.]

Reichsweit setzten die Buchdrucker und Schriftsetzer 1873 den zehnstündigen Arbeitstag und einen ‘Normaltarif’, d.h. einheitliche Entlohnung der Setzer und Drucker, durch (Krahl 1916, S. 351ff.) [Anstelle der bisherigen Bezahlung der Setzer nach jeweils 1.000 ‘n’ im Text trat die Alphabetberechnung. Danach gab es genaue Regelungen über die Höhe der Bezahlung von jeweils 1000 Buchstaben verschiedener Satzarten, über Zuschläge für fremdsprachliche Texte sowie die Aufräumarbeiten (Krahl 1916, Anh. S. 28ff.).] Danach erhielt ein verheirateter Setzer tariflich einen „Minimallohn zwischen 20,50 und 26,00 Mark". Die etwas besser gestellten Metteure und Akzidenzdrucker bekamen dagegen ‘festes Geld’. In Lübeck hatte es zusätzliche Schwierigkeiten gegeben. Insbesondere der Druckereibesitzer Ed versuchte, eigene Regelungen durchzusetzen. Der endgültige Bruch mit dem bei ihm beschäftigten Vereins-Vorsitzenden war abzusehen. Im „Correspondent" warnte Heinrich Dietz [Die Berichte aus Lübeck trugen sein Autorenkürzel ‘De.’] den schließlich doch noch dem Prinzipalverein beigetretenen C.M.Ed („ehrenfester Ritter von der Feder"), daß es mit ihm nun wohl kein gutes Ende nehmen könnte. Ed hatte in seiner Zeitung den Gehilfen-Verein angegriffen, die „Leipziger Terroristen" hätten es auf seine Taschen abgesehen. Danach konzentrierte sich die Lübecker ‘Preisbewegung’ ganz auf Eds Druckerei. Der drohte zuletzt, er könnte auch Frauen einstellen, die die Setzarbeit in längstens einem Vierteljahr erlernen würden (Corr. 11[1873]Nr. 2 vom 4. 1.). Mit seiner Einschüchterungstaktik hatte Ed Erfolg, die bei ihm beschäftigten Gehilfen „küßten denn auch dankbar die züchtende Hand, da sie kein Heil darin sahen, den Verband in seinem ‘Terrorismus’ persönlich zu unterstützen; sie kehrten als freie Männer dem bösen Verbande den Rücken und wandten sich ihrem besseren Genius zu; nur ein einziger Verworfener reichte dem gestrengen Herrn seine Kündigung ein, indem er erklärte, nicht ohne Normaltarif leben zu können" (Corr. 11[1873]Nr. 98 vom 6. 12.).

Der ‘einzige Verworfene’ fand nach seiner Kündigung eine neue Stellung in der Firma der Gebr. Borchers [Friedrich Crome, Mitinhaber der Firma Gebr. Bochers, hatte 1872 die „Lübecker Zeitung" gegründet. Sie brachte tägliche Nachrichten, als Ergänzung der amtlichen „Lübeckischen Anzeigen" (Dahms, S. 10; Rey/Schmidt-Römhild 1924, S. 44f.).] Heinrich Dietz errang dort als Metteur eine Vertrauensstellung. Seinen Rat nahm sich der Besitzer der Firma und Herausgeber der „Lübecker Zeitung" und der „Lübecker Nachrichten", Dr. Friedrich Crome, manchesmal zu Herzen. Heinrich Dietz wurde von Wilhelm Dahms, der dort 1874 eine Lehre begann und später die Drukkerei übernahm, als ‘ungemein gewandt und scharfsinnig’ bezeichnet: „Schien dem Metteur Dietz dieser oder jener Artikel des geistvollen, mit sehr spitzer Feder ausgestatteten Dr. Crome zu scharf, und glaubte er eine Abänderung in seinem Sinne herbeiführen zu sollen, dann ging er zu diesem ins Büro [...], um solch eine Änderung zu befürworten. Gar manches Mal mag es ihm geglückt sein" (Dahms, S. 10f.).

Kurz danach legte der Ortsvereins-Vorsitzende seine Ämter im Buchdruckerverein nieder [Bei der Durchsicht des „Correspondenten" fällt auf, daß die Lübecker Buchdrucker danach nur noch sehr wenige Berichte veröffentlichten.] und gab auch seine Arbeit bei der Firma Gebr. Borchers auf. Heinrich Dietz, inzwischen 30 Jahre alt, bemühte sich im Frühsommer 1874 um eine Stellung in Hamburg, dem zweitgrößten Druckort in Deutschland [Über die Gründe für einen solchen Wechsel können nur Vermutungen angestellt werden. Möglicherweise spielte eine Rolle, daß die seit 1873 einsetzende wirtschaftliche Rezession (die ‘Gründerkrise’) und der konjunkturelle Abschwung (vgl. Schröder 1957; Kutz-Bauer 1988; Ritter/Tenfelde 1992) nun auch das Lübecker Druckergewerbe betraf. Vielleicht reduzierte die Firma der Gebr. Borchers ihr Personal und/oder senkte die Löhne, so daß das Auskommen für die jetzt fünfköpfige Familie Dietz knapp wurde.] Dort boten 67 Buchdruckereien aller Art (Adreßbuch HH 1874) ausreichende Arbeits- und Aufstiegsmöglichkeiten. In Lübeck gab es 1874 nur sechs Druckereien [Der vormalige Vorsitzende des Buchdruckervereines, Dawoski, hatte kurze Zeit zuvor eine kleine Firma gegründet. Sie ging aber schon 1876 wieder ein (Buchdrucker-Verein, S. 22). ], so daß Heinrich Dietz unter diesen Möglichkeiten weder leicht die Firma wechseln noch beruflich in seiner Heimatstadt weiterkommen konnte. Zudem war die Drucktechnik in Lübeck nicht so fortgeschritten, auch das dürfte ein gewichtiger Grund für den Umzug gewesen sein. Als Leiter des Lübecker Ortsvereins kannte er den Hamburger Gewerkschaftsvorsitzenden Friedrich Erdmann Schulz, war auch selbst schon in Hamburg gewesen. In der Lübecker Gewerkschaftsbewegung stieß Heinrich Dietz offenbar an zu enge Grenzen. Möglicherweise zog es ihn auch in die Metropole der Arbeiterbewegung [Die Struktur der deutschen Arbeiterbewegung veränderte sich zu der Zeit (vgl. dazu Groh/Brandt 1992, S. 28: „Mit dem Übergang zur Fabrikindustrie und den Zentralisierungserscheinungen dieser Industrie um 1870 beginnt eine neue Etappe der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung als Emanzipationsbewegung, da sich ihre Rekrutierungsbasis veränderte. [...] An die Stelle des ‘Arbeiter-Gesellen’, der noch bis Ende der 60er Jahre den Haupttyp des sozialdemokratisch organisierten Arbeiters und auch noch für weitere Jahrzehnte seine Führer stellte, war der Industriearbeiter getreten" ).] Als Funktionär der Buchdruckergewerkschaft nahm Heinrich Dietz in Hamburg sicherlich keine Arbeit ohne Rücksprache an [Seit Beginn des Jahres 1874 hatten die Hamburger im „Correspondenten" immer wieder darauf hingewiesen, daß alle Buchdrucker, bevor sie dort eine Anstellung suchten, sich unbedingt mit dem Hamburg-Altonaer Gauvorsitzenden in Verbindung setzen sollten.] Vielleicht war sie ihm sogar von den dortigen Kollegen angetragen worden.

Sein Bruder Georg, der gelernte Spediteur, war schon im März 1868 nach Hamburg umgezogen und nahm zunächst eine Stellung als Ladengehilfe an [Georg Dietz wurde im September 1870 Soldat im deutsch-französischen Krieg, kehrte aber schon im November nach Hamburg zurück, möglicherweise war er verwundet worden (StAH, Meldewesen A 5).] Inzwischen war der jüngere Bruder verheiratet und hatte seine Wohnung am Bohnsplatz Nr. 27 in der Hamburger Neustadt. Im Jahre 1871 eröffnete er dort eine Spedition (Mobilien-Transport und Güterbeförderung).

Heinrich Dietz ließ sich als Lübecker Staatsangehöriger am 11. Mai 1874 einen Heimatschein ausstellen [Der Anspruch auf öffentliche Unterstützungsleistungen war an den Besitz des Heimatrechts gebunden (Voss-Louis 1987, S. 103). Nur dieses berechtigte einen Staatsangehörigen, der im ‘Ausland’ (auch im deutschen Ausland) in Not geriet, zur Rückkehr in seine Stadt oder in sein Land. Zum Nachweis diente der ‘Heimatschein’. ] (AHL, Pol.amt Nr. 502, Rücks. Bl. 251) und fuhr zunächst allein nach Hamburg voraus.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | Juni 1998

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