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2.2. Wanderschaft: St. Petersburg (1862 – 1866)

„So weit das Auge reichen konnte, sah man die Ausdehnung der mächtigen Stadt mit den unzähligen goldgedeckten Kuppeltürmen, von denen herab die Sonne einen Reflex auf die übrigen Dächer verbreitete, als sei die ganze Stadt mit Gold bedeckt. [...] In der Tat, ich habe viel Herrliches und Schönes gesehen, aber einen Anblick, wie ihn St. Petersburg von der See in hellem Sonnenschein gewährt – einen solchen Anblick dürfte man wohl vergebens anderswo in der Welt suchen" [Im „Correspondent", dem Fachblatt der Buchdruckergehilfen, schilderte hier ein Setzerkollege begeistert seinen ersten Blick auf die beeindruckende Stadt St. Petersburg (Aufzeichnungen 1870, Nr. 1).] .

Ganz ähnlich muß der erste Eindruck gewesen sein, den der frischgebackene Schriftsetzer Heinrich Dietz von St. Petersburg gewann, als er mit dem Dampfschiff 1862 die Neva herauffuhr [Vgl. dazu auch Kap. 2.1.] . Die Reise war durch die Dampfschiffahrtslinie zwischen Travemünde und St. Petersburg für damalige Verhältnisse einfach. Heinrich Dietz war am Ziel seiner Wanderschaft angelangt [Weitere (russische) Städte werden in den vorhandenen Quellen als Ziel der Wanderzeit nicht genannt. Undeutlich dagegen der „Vorwärts" (1913), Mehring (1913) und Schröder (1986): Heinrich Dietz habe „als Schriftsetzer in verschiedenen deutschen und russischen Städten" , „mehrere Jahre in russischen Druckereien" gearbeitet, bzw.: „Wanderschaft (SU, D)" , oder: „hatte er in seinen Lehr- und Wanderjahren ein großes Stück Deutschlands und Rußlands kennengelernt" (Kampffmeyer 1933, S. 69) . Eine ‘Wanderung’ nach Rußland im eigentlichen Sinne des Wortes ist nach allen Quellenangaben zeitlich gar nicht möglich gewesen.] .

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2.2.1. Als Schriftsetzer in der Zarenhauptstadt

Obwohl die Buchdrucker sich selbst als ‘Zunft’ bezeichneten, waren sie doch im herkömmlichen, gewerberechtlichen Sinne nicht als Zunft organisiert und unterlagen deshalb keinem Wanderzwang. Doch auf moralischen Druck der älteren Gehilfen waren auch die Buchdrucker ‘auf der Walze’, um die Stellung der älteren Familienväter oder das heimische Lohnniveau nicht zu gefährden. Nicht zuletzt diente die Wanderzeit dazu, Erfahrungen zu sammeln und weiter zu lernen: „Das alte Gesellenwandern bedeutete Fortbildung, in erster Linie aber Arbeitslosigkeit, Arbeitslosenunterstützung und Arbeitsnachweis" (Beier 1966, S. 100). Anders als viele ihrer Handwerkskollegen zog es die Buchdruckergehilfen oft ins Ausland: „Der deutsche Buchdruckergehilfe ist von jeher im besseren Sinne des Wortes Weltenbummler gewesen" (Krahl 1916, S. 74).

Verschiedene norddeutsche Hansestädte unterhielten ständige diplomatische Vertretungen in der damaligen Hauptstadt des Zarenreichs und am russischen Hof (Menke 1963, S. 47). Im Vordergrund standen natürlich die Handelsbeziehungen. Die zahlreich in St. Petersburg niedergelassenen Deutschen wurden als liberal und offen geschildert, allerdings streng nach den verschiedenen Gruppen getrennt: Da gab es die in St. Petersburg selbst Geborenen, die Deutschen aus den russischen Ostseeprovinzen (Litauen, Lettland, Estland) und die ‘Ausländer’, die direkt aus Deutschland kamen (Aufzeichnungen, Nr. 17).

‘Ausländische’ Buchdrucker fanden in St. Petersburg leicht eine Stellung (‘Condition’), weil sie der deutschen Sprache so korrekt mächtig waren, wie es gebraucht wurde: „Die Stellung, welche dieselben den Russen gegenüber einnehmen, ist meist eine hervorragende, und unter den drei verschiedenen Arten von Deutschen ist es dann wieder die ausländische, welche den übrigen voransteht. [...] Die Deutschen fungieren zum größten Teile als Metteure, Akzidenzsetzer, Faktor und Faktorgehilfen" [Akzidenzen sind kleinere Drucksachen, Flugblätter, Formulare, Prospekte u.ä. Ein Metteur ist ein „Setzer, der die Herstellung des glatten Satzes überwacht und die Seiten umbricht" (Dröge 1978, S. 353). Als Schriftsetzer konnte man keine Meisterausbildung machen, der ‘Faktor’ war also ein noch weiter aufgestiegener Setzergehilfe.] (Aufzeichnungen, Nr. 8). Insgesamt arbeiteten etwa 400 deutsche Setzer, Drucker und Maschinenmeister in den rund 100 Petersburger Druckereien. Die wenigsten dieser Geschäfte waren reine russische Einrichtungen. Die Bezahlung (‘Ga- ge’) der Setzer war mit 40 Rubel im Monat hervorragend, und die niedrigen Lebenshaltungskosten in St. Petersburg verschafften den ‘Jüngern der Schwarzen Kunst’ finanziell ein gutes Auskommen: „Die Anforderungen an die im gewissen Gelde [Auch ‘festes Geld’ genannt: Im Gegensatz zur Berechnung des Lohnes nach gesetzten Buchstaben (Alphabetberechnung) oder früher nach der im Text vorkommenden Anzahl der ‘n’ (n-Berechnung) ist ein fester Monats- oder Wochenlohn gemeint.] stehenden Gehilfen sind nicht im entferntesten hoch, vielmehr sehr gelinde. Das Wort Quälen kennt man hier nicht, vielmehr muß die Arbeit einen gemütlichen Fortgang haben" (Aufzeichnungen, Nr. 9, Hervorhebung im Orig.).

Im Petersburger Buchdrucker- und Schriftgießerverein, in dem allerdings fast nur ausländische Deutsche Mitglieder waren, saßen dann nach zehnstündigem Arbeitstag „Prinzi- pale und Gehilfen [...] in trauter, geselliger Unterhaltung beim Bier zusammen" (Aufzeichnun- gen, Nr. 11). Das alles führte dazu, „daß von den in’s Ausland wandernden Deutschen nur wenige zurückkehren, und ein Gleiches ist der Fall bei denen, die nach Rußland gehen. [...] Weil auch dort der deutsche Arbeiter von dem Bewußtsein getragen wird, daß er Mensch ist, daß er von seiner Arbeit mehr als das Vegetieren hat – deshalb kehrt er nur in Ausnahmefällen zurück" (Auf- zeichnungen, Nr. 16).

Heinrich Dietz arbeitete als Schriftsetzergehilfe in einer Petersburger Druckerei, lernte die russische Sprache und erwarb Kenntnisse über den inländischen Buchhandel [Nicht stimmen kann deswegen Schälickes (1952) Aussage, nach 1862 „arbeitete er zwei Jahre in einer Petersburger Druckerei" , weil Heinrich Dietz erst 1866 zurückkehrte (s. weiter unten). Auch die Angabe: „muß Dietz schon 1860-61 [...] nach Petersburg gekommen sein" (Läuter 1966, S. 202, Fußnote 101) kann nicht stimmen. Danach hätte Heinrich Dietz schon nach drei, bzw. vier Jahren ausgelernt haben müssen (vgl. FN 17 im Kap. 2.1). ] (vgl. Plechanov 1894; Schwäbische Tagwacht 1913; Vorwärts 1913). Das war eher ungewöhnlich, denn bisher kam „der deutsche Setzer auch nur ausnahmsweise dazu, Russisch zu setzen, wenigstens was glatten Werk- oder Zeitungssatz anlangt, denn für dieses Genre hat man die billigere russische Arbeitskraft oder die russischen Setzer" (Aufzeichnungen, Nr. 9). Nicht nur an dieser Stelle vermittelt der hier zitierte Bericht im „Correspondent" den Eindruck, als hätten die Deutschen aller drei genannten Gruppen auf ihre russischen Kollegen herabgesehen. Danach wäre die Annahme einer ‘Condition’ in einer russischen Druckerei eigentlich unter der Würde eines deutschen Schriftsetzers oder Buchdruckers gewesen. Möglicherweise bekam Heinrich Dietz – als qualifizierter Auslandsdeutscher – bald eine gehobene Position in einer Petersburger Druckerei [Zum Erwerb russischer Sprachkenntnisse – und zwar soviel, daß seine Fertigkeiten für den Satz mit kyrillischen Buchstaben ausreichten – war mit Sicherheit einige Zeit nötig. Ob er dann N.G. Cernysevskij tatsächlich persönlich gekannt haben kann (vgl. weiter unten), wird fraglich.] .

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2.2.2. Kontakte zur russischen oppositionellen Bewegung

„Im Zarenreich hatte er H.D., agr. tiefe Einblicke gewonnen in die Ideen der Freiheitskämpfer. Die Männer, die Kerker und Verbannung nicht scheuten, um ihr Volk von der Knute zu erlösen, waren ihm Vorbild fürs Leben" (Keil 1956).

In St. Petersburg beeindruckte Heinrich Dietz nicht nur der oben geschilderte Glanz und Reichtum, sondern ihn erschütterte auch das große soziale Elend. Georg Schöpflin berichtete später darüber: „Der Aufenthalt in der damaligen russischen Hauptstadt, die aufmerksame Beobachtung des politischen, wirtschaftlichen Lebens, vor allem der für den Sohn der deutschen Hansastadt zuerst kaum faßbaren primitiven Lebensbedingungen der Arbeiter wirkten sich bei dem aufgeweckten, wissensdurstigen und kritisch nachdenklichen Jünger Gutenbergs sehr tief aus; sie waren wohl von mitentscheidendem Einfluß auf die Prägung seiner ganzen geistigen Haltung" [G. Schöpflin ist der einzige, der über den jungen Heinrich Dietz persönliche Aussagen machte: „Er dachte und sprach auch stets mit unverkennbarer innerer Wärme von St. Petersburg" (ebd.).] (G. Schöpflin 1947, S.8).

1861 waren Unruhen im Zarenreich ausgebrochen, und eine politische Opposition formierte sich. Die Regierung Alexanders II, der sich als Reformer verstand, konnte „es nicht über sich bringen [...], auch nur den Schatten der akademischen Freiheit zu dulden". Es gärte unter den Studenten, geheime Verbindungen mit den fortschrittlichen Offizieren und der demokratischen Intelligenz entstanden (UdSSR 1977, S. 112). Sie verbreiteten Flugblätter – der Zensur zum Trotz recht offen. „Die revolutionäre Bewegung der sechziger und siebziger Jahre war eine Bewegung der kleinbürgerlichen Intelligenz" (Pokrovskij 1930, S. 181). Große Teile der Opposition konzentrierten sich um den „Zovremennik" (Der Zeitgenosse). Nikolaj Gavrilovic Cernysevskij, führender Redakteur der Monatsrevue, war eine der herausragenden Persönlichkeiten [Cernysevskij war in den oppositionellen Kreisen Rußlands nicht unumstritten, Herzen und Bakunin bekämpften ihn: Cernysevskij wäre ein Stubenhocker, ein Bücherwurm gewesen, der das Volk nicht gekannt habe (W.J. 1891, Nr. 139, S. 1136).] (vgl. UdSSR 1977).

Die zaristischen Behörden richteten ab 1861 – als Cernysevskij seinen Aufsätzen eine immer schärfere Diktion gab (Plechanov, S. 90) – ihr besonderes Augenmerk auf den „Zov- remennik", „der bis zum Jahre 1863 mehr Leser zählte, als irgend eine andere russische Revue und dessen weitgreifendem Einfluß nur durch eine gewaltsame Unterdrückung ein Ende gemacht werden konnte. [...] Die eigentliche Seele des Journals war der [...] Kritiker und Romanschreiber Tschernitscheffski [Die alte Transkribierung russischer Buchstaben ist hier unverändert zitiert.] , das anerkannte Haupt der revolutionären Partei in Petersburg" (Eckardt 1873, S. 241).

In den oppositionellen Kreisen erwartete man einen Aufstand der unzufriedenen Bauern (Plechanov 1894, S. 104). Ende Mai 1862 brach in verschiedenen Petersburger Stadtteilen, deren Außenbezirke meistens aus kleinen Holzhäusern bestanden, eine Reihe von Bränden aus, die von der Regierung den ‘Nihilisten’ angelastet wurden. Die konservative Presse verlangte nach strengen Maßregelungen, ein Grund für repressives Vorgehen war gefunden (Grünwald 1963, S. 178). Der „Zovremennik" wurde eine Zeit lang verboten. Cernysevskij verhaftete man am 7. Juli 1862, nachdem er immer wieder denunziert worden war (Plechanov, S. 111; Grünwald, S. 180).

Auch Heinrich Dietz kam in der Zarenhauptstadt mit der russischen oppositionellen Bewegung in Kontakt [In den durchgesehenen Quellen wurde nichts darüber erwähnt, ob in St. Petersburg bereits Gruppen sozialistisch orientierter Deutscher existierten. Ab 1864 hielt sich zum Beispiel auch Josef Dietzgen dort auf, er leitete eine staatliche Lohgerberei und schrieb in St. Petersburg sein erstes großes Werk „Das Wesen der menschlichen Kopfarbeit. Eine abermalige Kritik der reinen und praktischen Vernunft" (Dietzgen 1930, S. XI).] . Er war später sehr stolz darauf, daß ihm nicht nur „das große Glück zuteil wurde, den großen Sozialisten Tschernischewski persönlich kennen zu lernen" (Kautsky 1913, S. 4), den „Lehrvater einer ganzen Generation russischer Revolutionäre" (ESZ 1981, S. 15), sondern auch, „dessen Anerkennung als Setzer an einem seiner Werke zu gewinnen" [Für diese persönliche Bekanntschaft wäre höchstens ein Vierteljahr lang Zeit gewesen. Ob das allerdings ausreichte, um so gute russische Sprachkenntnisse zu erwerben, um Cernysevskij gleich mit seinen Fähigkeiten im kyrillischen Buchstabensatz zu beeindrucken, scheint unwahrscheinlich. Gar nicht zutreffen können die Datierungen „1864 – 1866 Buchdrucker in St. Petersburg" (Biogr. Lexikon 1970) und ESZ (1981, S. 29): „1864-66 Auf Wanderschaft. Setzergehilfe in St. Petersburg" .] (Kautsky ebd.). Laut Plechanovs Biographie verfaßte Cernysevskij Anfang der 60er Jahre, d.h. in den Jahren vor seiner Inhaftierung, keine größeren Werke mehr, seine Texte durften erst sehr viel später und dann auch nur im Ausland erscheinen [Der Roman „Prolog zum Prolog", unter dem Pseudonym Wolgin geschrieben, erschien z.B. erst 1877 in London (Plechanov, S. 75). Die Schrift „Kritik der philosophischen Vorurteile gegen die kommunistische Landgemeinde", die zum Vorwand für die Verhaftung 1862 diente, wurde schon 1858 veröffentlicht.] . Wenn Heinrich Dietz Cernysevskij wirklich selbst gekannt hatte, dann ist stark zu vermuten, daß er – als deutscher Schriftsetzer mit Erfahrungen bei der Herstellung von Zeitungen – möglicherweise bei der Druckerei des „Zovremennik" angestellt war.

Man konnte Cernysevskij die Zugehörigkeit zu einer revolutionären Vereinigung nicht nachweisen und verzögerte seinen Prozeß fast zwei Jahre lang (Plechanov, S. 113; Düwel, S. 536, 538). In der Festung Peter-Paul, als Untersuchungsgefangener in Einzelhaft, begann er, seinen programmatischen Roman „Was tun?" zu schreiben. Das Manuskript entkam der Zensur durch ein ‘Versehen’ der Untersuchungskommission und konnte 1863 in drei Teilen im „Zovremennik" erscheinen. Es hatte einen ungeheuren Erfolg (Düwel, S. 566; UdSSR, S. 114; Plechanov, S. 117). Denkbar ist, daß Heinrich Dietz sich durch Mitarbeit an der Veröffentlichung dieses Romans die Anerkennung des Sozialisten errang [Cernysevskij hätte aber dem deutschen Setzer sein Lob dann nicht mehr persönlich übermitteln können.] .

Cernysevskijs Prozeß fand erst im Frühjahr 1864 statt. Darin wurde er zu 14 Jahren Zwangsarbeit im Bergwerk sowie zu anschließender lebenslanger Verbannung nach Sibirien verurteilt und verlor alle bürgerlichen Rechte. „Am 13. Juni 1864 [An anderer Stelle wurde der 19. Mai 1864 als Datum der ‘zivilrechtlichen Vollstreckung’ genannt, an dem das Urteil verlesen wurde „in Anwesenheit einer großen Zahl von Generälen und Herren und Damen der besten Gesellschaft, aber auch von Anhängern und Verehrern [...], die dem großen Tribunen Blumen zuwarfen" (UdSSR 1977, S. 180) .] fand auf dem Mystinsky-Platz (im Stadtviertel Peski) die Verlesung des Urteils über den großen russischen Sozialisten statt. Blaß, mager, abgehärmt, wurde er an den Schandpfahl gestellt, und er stand schweigend da, mit dem Rücken gegen den Beamten gewendet, der das Urteil verlas. Sodann mußte der Verurteilte über sich die Zeremonie des Degenzerbrechens ergehen lassen, worauf der Henker seine Hände in Ringe zwängte, die an das Schafott geschmiedet waren. In diesem Augenblick fiel ein Blumenstrauß auf das Schafott, und in der Menschenmenge, die den Platz erfüllte, wurden Äußerungen der Sympathie für den Verurteilten laut" (Plechanov 1894, S. 124).

Der 21jährige Heinrich Dietz stand mit in der Menge, die Zeuge dieser entwürdigenden Zeremonie wurde, bei der Cernysevskij auch noch ein Schild mit der Aufschrift ‘Politi- scher Verbrecher’ umgehängt wurde (Düwel, S. 563f.). Zusammen mit Freunden wollte er den Verbannten auch noch am Bahnhof verabschieden, aber da „stellte sich heraus, daß man Tschernyschewsky schon vorzeitig weggeschafft hatte" (Schwäbische Tagwacht 1913).

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2.2.3. Das Attentat auf den Zaren

In der Zwischenzeit war in Deutschland nach dem Bruch zwischen Preußen und Österreich 1865 umfangreich aufgerüstet worden. Als Österreich 1866 Holstein und Lauenburg besetzte, „wurden die Lübecker durch eine preußische Note ultimativ aufgefordert, dem neugegründeten Norddeutschen Bundesstaat beizutreten sowie die eigenen Truppen zu mobilisieren und sie dem preußischen König zur Verfügung zu halten" [Vgl. Kellenbenz 1971, S. 626; Müller/Krieger 1986, insbesondere S. 174f; Ahrens 1988, S. 617f. (Danach hatten die reichsfreien Städte – also auch Lübeck – versucht, sich so lange wie möglich aus dem Konflikt herauszuhalten. Eine andere Meinung vertritt dazu Holm (1900, S. 101): „Lübeck war unter den ersten und eifrigsten Anhängern des 1866 von Preußen eingenommenen Standpunktes" . Vgl. auch Voss-Louis 1987, S. 91. ] (Ahrens 1988, S. 618). Verbunden mit dieser Aufforderung war die versteckte Drohung, Preußen würde das Lübecker Gebiet nur bei Folgeleistung respektieren. Bürgermeister Curtius vermutete zu Recht, daß die Hansestädte ‘von Österreich nichts zu hoffen, von Preußen aber alles zu fürchten hätten’ (Ahrens, S. 618): Am 16. Juni 1866 brach der Krieg aus.

In Rußland beobachteten einige interessierte Kreise wohlwollend, wie sich Preußen anschickte, Deutschland unter seine Führung zu bringen: „Der russische Außenminister [...] intrigierte mit allen Mitteln gegen die Habsburger" (Pächter 1968, S. 28f.). Hoffnungen der russischen Opposition hatten sich in den Jahren 1863 und 1864 auf Polen gerichtet, wo man für eine bürgerliche Demokratie kämpfte. Durch Cernysevskijs Verurteilung stieg die Unzufriedenheit weiter an, die Oppositionellen ließen sich trotz des Siegs der zaristischen Reaktion nicht abschrecken oder entmutigen. Neue Gruppen und kleine Organisationen entstanden.

Ein Student der Hochschule in Moskau machte Anfang April 1866 schon früher geäußerte Drohungen wahr: Karakozov versuchte, den ‘größten Feind des Volkes’, Alexander II. zu erschießen. Daraufhin verschärften sich die Repressionen, zahlreiche Angehörige der Moskauer antizaristischen Gruppe wurden verhaftet und der Attentäter Karakozov im September 1866 hingerichtet (Grünwald, S. 182ff.). Zur gleichen Zeit beendete Heinrich Dietz seinen Aufenthalt in St. Petersburg [1865 war Heinrich Dietz ganz sicher noch in St. Petersburg. Daß in die Akten des StA Ludwigsburg (StA Lb F 201, Bü 627, 6. 10. 1881) aufgenommen wurde, Heinrich Dietz hätte 1865 in Lübeck eine 5tägige Gefängnisstrafe wegen Fundunterschlagung verbüßen müssen, konnte nicht ihn selbst betroffen haben. Wahrscheinlich lag eine Verwechslung mit seinem Bruder Georg vor.] .

Ob wirklich der Kriegsausbruch und die Bedrohung seiner Heimatstadt Lübeck Ursache seiner Abreise war, bleibt sehr fraglich [Die vorhandenen Berichte weisen fast durchgängig auf den Kriegsausbruch hin: „Der Krieg von 1866 rief ihn von Petersburg [...] in die Heimat zurück" (Keil 1956; ähnlich Kautsky 1913). Mehring behauptete sogar: „Die militärische Gestellungspflicht rief Dietz [...] nach Deutschland zurück" (1913). Kautsky (1913), der ihn zitierende Deckert (1975, S. 214), Osterroth (1960) und Knobloch (1981) sahen ihn freiwillig abreisen. Andere Autoren hielten seine Enttäuschung über den Abschied fest, z.B. Ollenhauer (1963, S. 9f) und der „Vorwärts" (1913). G. Schöpflin drückte sich undeutlicher aus: Heinrich Dietz hätte aus St. Petersburg „zu seinem Leidwesen infolge des Kriegsausbruchs zwischen Preußen und Österreich (1866) abreisen" müssen (1947, S. 8). ] . Daß Heinrich Dietz als Patriot seiner Heimatstadt oder vielleicht seinen Angehörigen zu Hilfe kommen wollte, darf bezweifelt werden: In Lübeck hatte er außer seinem älteren Bruder keine nahen Angehörigen mehr. Heinrich Dietz mußte auch Militärdienst leisten: Er war ‘militairfrei’ [Zur Rekrutierung für das 679 Mann starke Bundeskontingent aus Lübeck mußten alle jungen Männer, die in der Stadt heimatberechtigt waren und das zwanzigste Lebensjahr vollendet hatten, an einem Losverfahren teilnehmen. Dieser Verpflichtung konnte man sich durch Nummerntausch oder andere Stellvertretung entziehen (vgl. Adreßbuch L. 1860, S. 28f.). Heinrich Dietz hatte also entweder eine hohe Nummer gezogen, die generell vom Wehrdienst befreite, sich – gegen Bezahlung – vertreten lassen, oder von der Möglichkeit Gebrauch machen können, nach der die Wanderschaft als Alternative zur Soldatenzeit galt (Beier 1966, S. 100).] (AHL, Procl.reg.). Es gibt auch keinerlei Hinweise darauf, daß den deutschen Staatsangehörigen in Rußland durch den Kriegsausbruch unmittelbare Folgen erwuchsen [Keine der durchgesehenen Schriften über russische Geschichte und Außenpolitik (Pokrovskij 1930; Grünwald 1963; Pächter 1968; Jelavich 1974; UdSSR 1977) bemerkte, daß sich das Verhältnis zu einem der Kriegsgegner so verschärfte, daß deswegen deutsche Handwerker die zaristische Hauptstadt verlassen mußten.] .

Deutlich war, daß sich Rußland zu dieser Zeit überwiegend mit innenpolitischen Auseinandersetzungen befaßte: „Russia, as we have seen, throughout the sixties remained preoccupied with the problems of internal reforms" (Jelavich 1974, S. 148). Eine Bemerkung des schon mehrfach aus dem „Correspondent" zitierten deutschen Setzers in Petersburg legt einen ganz anderen Sachverhalt nahe: Es war eine zaristische Zensurbehörde eingerichtet worden, „eine Folge des Attentats vom 4. April 1866 auf den Kaiser, indem man den armen Buchdruckern die Schuld davon in die Schuhe zu schieben wußte" (Aufzeichnungen 1870, Nr. 11).

In Verbindung mit der Verurteilung und Hinrichtung des Attentäters Karakosov muß es eine Welle von Untersuchungen und Repressionen gegen alle diejenigen gegeben haben, die mit den Oppositionellen in Verbindung gebracht werden konnten. Anzunehmen ist deshalb, daß auch der ‘Buchdrucker’ Heinrich Dietz es für dringend angebracht hielt, St. Petersburg zu verlassen, bevor man sich allzu genau für seine Kontakte zu den russischen Demokraten interessierte.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | Juni 1998

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