FES HOME MAIL SEARCH HELP NEW
[DIGITALE BIBLIOTHEK DER FES]
TITELINFO / UEBERSICHT



TEILDOKUMENT:




Lutz Hoffmann:
Europäische Union und Wirtschaft


Die nordamerikanische Freihandelszone (NAFTA) wird jenseits des Atlantiks häufig als der größte Wirtschaftsraum der Welt bezeichnet. Es ist richtig, daß NAFTA bevölkerungsmäßig etwas größer ist als das Europa der Zwölf. Das ändert sich aber mit dem Beitritt von vier EFTA-Staaten. Im Vergleich zur Europäischen Union ist NAFTA weit entfernt von einem zusammenhängenden Wirtschaftsraum. Die Handelsschranken werden erst Zug um Zug abgebaut, was in Europa schon weitgehend erreicht ist, und die Mobilität der Produktionsfaktoren über die Grenzen hinweg, vor allem die Freizügigkeitsgarantie für Arbeit, ist nicht vergleichbar mit der in Europa. Die europäische Entwicklung, die mit den Verträgen von Paris und Rom begonnen hat, ist in der Welt einzigartig. Sie hat zu einem zusammenhängenden Wirtschaftsraum geführt, in dem nicht nur der Austausch von Gütern und Dienstleistungen sowie die Wanderung von Produktionsfaktoren weitestgehend liberalisiert sind, sondern der auch in vielen Bereichen über einen zentralisierten wirtschaftspolitischen Entscheidungsprozeß, der sich ständig erweitert, verfügt.

Page Top

Das ökonomische Grundproblem: Allokative Effizienz versus regionale Verteilung

Die zahlreichen ökonomischen Vorteile eines großen Wirtschaftsraums sind inzwischen hinreichend bekannt. Wo keine Wirtschaftsgrenzen bestehen, kann sich ein intensiver Wettbewerb entfalten, der dafür sorgt, daß Güter und Dienstleistungen mit den niedrigst möglichen Kosten hergestellt werden. Dadurch kann insgesamt mehr produziert werden als bei Segmentierung der Märkte, und die Firmen können durch große Absatzmengen Kosteneinsparungen in der Produktion erzielen. Auch sind die Absatzkosten als solche geringer, wenn keine oder nur sehr geringe administrative und finanzielle Barrieren zwischen Regionen bestehen. Dem europäischen Wirtschaftsraum wird daher zu Recht nicht nur eine einmalige Verbesserung des gesamtwirtschaftlichen Ertrags nachgesagt, sondern auch eine längerfristig positive Wirkung auf das Wachstum aller beteiligter Länder.

Diese wirtschaftlichen Vorteile eines einheitlichen Binnenmarktes für Güter und Produktionsfaktoren sind unbestritten und waren bisher die politische Triebkraft des Vereinigungsprozesses. Im Vertrag von Maastricht wurde mit der Festlegung auf einen Weg zur Europäischen Währungsunion die Ausräumung des letzten wichtigen Unterschiedes zwischen innereuropäischem Handel und dem Handel innerhalb eines Landes angestrebt. Gleichzeitig wird von politischer Seite immer wieder gefordert, die mitteleuropäischen Länder möglichst rasch in die Europäische Union einzubeziehen, wofür mit der bereits erfolgten Assoziierung einer Reihe von Ländern und laufenden Verhandlungen mit weiteren der erste Schritt getan wurde. Beides ist im Grunde nichts anderes als die konsequente Weiterentwicklung des Binnenmarktkonzeptes. Dennoch stößt es auf zum Teil vehementen Widerstand. Die Gründe liegen in regionalen Verteilungsproblemen im weitesten Sinne, die immer in der einen oder anderen Weise in größeren Wirtschaftsräumen auftreten und daher auch im europäischen Integrationsprozeß von vornherein angelegt waren.

Verteilungsprobleme entstehen dadurch, daß einige Regionen Wettbewerbsvorsprünge gegenüber anderen haben, dadurch positive Handelsüberschüsse im interregionalen Güteraustausch erzielen, rascher wachsen und infolgedessen ihren Wohlstand stärker und schneller mehren als andere. Es ist die Integration selbst, die diesen Prozeß befördert, weil sich in einem einheitlichen Binnenmarkt Wettbewerbsvorteile besser durchsetzen können, als wenn Handelsschranken bestehen. Die klassische Ökonomie lehrt zwar, daß durch regen Güteraustausch und Wanderung der Produktionsfaktoren Vor- und Nachteile einzelner Regionen sich ausgleichen und es daher keiner wirtschaftspolitischen Einflußnahme bedarf, aber übersieht dabei notorisch, daß es sich selbst verstärkende regionale Polarisierungstendenzen gibt und die Wanderungsbereitschaft der Menschen begrenzt ist, insbesondere innerhalb eines Marktes, der anders als etwa in den Vereinigten Staaten von Nordamerika durch viele unterschiedliche Sprach- und Kulturräume gekennzeichnet ist.

Die Europäische Union hat dieser Tatsache in zweierlei Weise Rechnung getragen. Erstens hat sie das Subsidiaritätsprinzip etabliert, nach dem Wirtschaftspolitik nach wie vor auf nationaler Ebene betrieben werden kann und nur dort auf der zentralen Ebene stattfinden soll, wo die jeweilige Aufgabe auf nationaler Ebene nicht befriedigend gelöst werden kann. Allerdings sind der nationalen Politik durch den Binnenmarkt selbst - zum Beispiel Wegfall handelspolitischer Instrumente - Grenzen gesetzt. Das zweite Prinzip sind finanzielle Ausgleichsmechanismen in der Gestalt der „Strukturfonds", durch die wirtschaftlich weniger starke Regionen Leistungen der wohlhabenderen Regionen erhalten.

Über die ökonomischen Konsequenzen der mit der Schaffung des europäischen Binnenmarktes zwangsläufig einhergehenden Verschiebung der wirtschaftspolitischen Einflußnahme von der dezentralen auf die zentrale Ebene ist wenig Verläßliches bekannt. Ihr politisches Gewicht erhält sie auch eher durch die Angst vor einer fernen zentralen Bürokratie, die nationale und regionale Interessen ignoriert, und dem daraus abgeleiteten Wunsch nach größtmöglicher Selbstbestimmung. Für die Verteilungsmechanismen besteht hingegen der begründete Verdacht, daß sie der ökonomischen Effizienz zuwiderlaufen. Nicht nur private Investitionen, sondern auch staatliche Mittel sollten prinzipiell dort eingesetzt werden, wo sie für die Gesellschaft insgesamt den größten Ertrag erwirtschaften. Das können, aber müssen nicht strukturschwache Regionen sein. Für viele Randlagen ist eher plausibel, daß sie einen geringeren Ertrag staatlicher Mittel erbringen. Solche Effizienzverluste müssen den Effizienzgewinnen des Binnenmarktes gegengerechnet werden. Sie dürften um so größer sein, je zahlreicher die strukturschwachen Regionen mit geringem Entwicklungspotential sind und je mehr staatliche Mittel für regionale Verteilungszwecke aufgewandt werden.

Diese in der Europäischen Union angelegte Grundproblematik tritt sowohl in der Diskussion um die Währungsunion wie in der Frage der Erweiterung der Mitgliedschaft nach Osten auf. Sie hat auch in der gerade beschlossenen Norderweiterung der Europäischen Union eine wichtige Rolle gespielt. Ich werde im folgenden zunächst auf die Währungsunion und anschließend auf die Frage der Erweiterung eingehen.

Page Top

Die Europäische Währungsunion

Die Europäische Währungsunion ist deswegen im Spannungsfeld der regionalen Interessen ein sensitives Problem, weil sie die nationale wirtschaftspolitische Einflußmöglichkeit nachhaltig reduziert. Man kann daher durchaus zu Recht die Frage stellen, ob sie mit dem Subsidiaritätsprinzip überhaupt vereinbar ist. Durch Verlagerung der Geldpolitik auf eine zentrale Notenbank wird den Mitgliedstaaten das bei weitem wichtigste Instrument makroökonomischer Steuerungspolitik genommen. Das läßt sich wie folgt illustrieren.

Wenn Lohn- und Produktivitätsentwicklung in den einzelnen Mitgliedstaaten deutlich voneinander abweichen, kommt es zu unterschiedlichen Inflationsraten. Eine zentrale Geldpolitik kann nur die gesamte Inflation durch Geldmengen- oder Zinssteuerung beeinflussen, aber nicht die Inflationsunterschiede. Wenn einige Mitgliedstaaten sehr stark inflationieren, wird die zentrale Notenbank eine restriktive Geldpolitik betreiben müssen. In den inflationierenden Mitgliedstaaten reicht das vielleicht aus, um den Preisauftrieb in Grenzen zu halten. Mitgliedstaaten, die sich von vornherein stabiler verhalten haben, werden aber von der restriktiven Geldpolitik gleichermaßen betroffen. In ihnen besteht die Gefahr, daß deflationäre Tendenzen auftreten, die zu Firmenzusammenbrüchen und Arbeitslosigkeit führen. Gibt es umgekehrt nationale Verantwortlichkeiten der Geldpolitik, dann können die einzelnen Mitgliedstaaten den geldpolitischen Kurs entsprechend ihrer monetären Instabilität adjustieren. Schaffen sie das nicht, so daß nach wie vor die Inflationsraten auseinanderdriften und damit Ungleichgewichte im interregionalen Güteraustausch auftreten, dann können sie immer noch durch die Adjustierung des Wechselkurses dem entgegenwirken.

Bei alledem spielt auch eine wichtige Rolle, daß nationale Sensitivitäten gegenüber inflationären Entwicklungen sehr unterschiedlich sind und es keine goldene Regel dafür gibt, welche Inflationsrate für hohes und stabiles Wachstum die richtige ist. Das bundesdeutsche Glaubensbekenntnis, daß maximale Stabilität die beste aller Welten sei, widerspricht eindeutig der empirischen Erfahrung rasch wachsender Länder, insbesondere in Ost- und Südostasien, die für alle anderen Zwecke gern als wirtschaftspolitisches Vorbild hingestellt werden.

Derartigen regionalen Differenzierungen kann in einer Währungsunion nicht mehr Rechnung getragen werden. Die geldpolitischen Regeln werden einheitlich bestimmt und gelten für alle gleichermaßen. Die Einwirkung geht aber weit über den geldpolitischen Bereich hinaus. Alle preisbeeinflussenden staatlichen und außerstaatlichen Maßnahmen müssen sich an der zentral festgelegten Geldpolitik orientieren, wenn nicht Verlust an regionaler Wettbewerbsfähigkeit und Beschäftigung riskiert werden soll. Konkret bedeutet das, daß in ohnehin strukturschwachen Regionen mit unterdurchschnittlicher Produktivitätsentwicklung auch die Löhne und andere Lohnkostenelemente nur unterdurchschnittlich zunehmen dürfen. Diese Regionen können auch nicht mehr durch niedrige Zinsen ihre Entwicklung stimulieren. Auch in der Gestaltung preistreibender staatlicher Abgaben, seien sie nun auf kommunaler, regionaler oder staatlicher Ebene, muß man sich an der Entwicklung in der Gemeinschaft insgesamt orientieren. Das heißt, daß nur über öffentliche Defizite größeren Ausmaßes umfangreiche Investitionen zur Verbesserung der regionalen Infrastruktur und zur allgemeinen Förderung des regionalen Wachstums finanziert werden könnten. Aber gerade das wiederum würde dem geldpolitisch angestrebten Stabilisierungsziel zuwiderlaufen, wenn von Haushaltsdefiziten inflationäre Risiken ausgehen.

Es sind diese Mechanismen, die zur Formulierung der Konvergenzkriterien für den Eintritt in die Europäische Währungsunion im Vertrag von Maastricht geführt haben. Mit der Einhaltung der Konvergenzkriterien in der - gegenwärtig erreichten - zweiten Stufe auf dem Weg zur Währungsunion soll ein wirtschaftspolitischer Gewöhnungsprozeß eingeleitet werden, der deutlich abweichendes Verhalten in der Währungsunion weniger wahrscheinlich macht. Gelingt die Konvergenz nicht, dann ist damit zu rechnen, daß eine einmal gegründete Währungsunion bald wieder zerfällt. Die nationalen und regionalen Spannungen, die zwangsläufig auftreten, sind in einem demokratischen System nicht überwindbar. Sie können nur abgebaut werden, wenn Ausgleichsmechanismen auf nationaler Ebene (wieder) zugelassen werden.

Manche sehen in dem Auftreten oder der bloßen Gefahr größerer Spannungen auch eine Chance zur Disziplinierung „unvernünftigen" wirtschaftspolitischen Verhaltens. Als Beispiel wird häufig das Frankreich der achtziger Jahre aufgeführt, das unter dem Regime des Europäischen Währungssystems zu einer Politik größerer makroökonomischer Stabilität gezwungen wurde, weil es aus übergeordneten Gründen eine Abwertung des Franc vermeiden wollte. Der Disziplinierungszwang ist sicher noch erheblich größer, wenn Wechselkursänderungen überhaupt nicht mehr möglich sind, weil es keine unterschiedlichen Währungen mehr gibt. In dieser Disziplinierung wird der große Vorzug einer Währungsunion gesehen. Allerdings muß man wohl fragen, wer hier eigentlich wen nach welchen Kriterien diszipliniert. Das hängt entscheidend davon ab, welche Stimmenverteilung in den geldpolitischen Entscheidungsgremien der Europäischen Zentralbank vorläge und welche Stabilisierungsphilosophie sich durchsetzte. Europa kritisiert nicht zu Unrecht, daß die sehr rigide deutsche Stabilisierungspolitik allein schon aufgrund des Gewichts Deutschlands in der Europäischen Union alle anderen dominiert. Was für Deutschland gut sein mag, muß aber nicht gut für alle anderen sein. Um es noch einmal zu betonen, es gibt keine wirtschaftswissenschaftlich vertretbare Meßlatte für den wachstums- und beschäftigungspolitisch optimalen Stabilitätsgrad.

Der Disziplinierungszwang wird häufig auch dahingehend positiv interpretiert, daß er den Wettbewerb zwischen den Mitgliedstaaten bzw. den Regionen stimuliert. Um den negativen Folgen eines überproportionalen Inflationsrisikos zu entgehen, könnten Mitgliedstaaten deutlich unterdurchschnittliche Lohnentwicklungen im Vergleich zum Produktivitätsanstieg anstreben und versuchen, sich auf diese Weise Wettbewerbsvorteile gegenüber anderen zu verschaffen. Sie könnten auch, wenn ihnen der gesetzgeberische und administrative Spielraum dazu belassen bleibt, mit niedrigen Gebühren und Steuern Investoren anzulocken versuchen. Allerdings bedeutet das bei Einhaltung der Konvergenzkriterien für das Staatsdefizit, daß gleichzeitig geringere öffentliche Leistungen in der Gestalt von Infrastruktur, Ausbildung, Gesundheitswesen oder sozialer Sicherung bereitgestellt werden.

Page Top

Innereuropäischer Finanzausgleich

Diesem Problem versucht man durch Verstärkung der innereuropäischen Finanztransfers zu begegnen. Bereits 1975 wurde der Europäische Regionalfonds (EFRE) errichtet. 1987 wurde die EG-Kommission beauftragt, ein umfassendes Konzept für den wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalt, für das sich bald der Ausdruck „Kohäsionspolitik" einbürgerte, zu entwerfen. Das Ergebnis war das sogenannte Delors-Paket. Hierbei ging es im wesentlichen um die weitere Ausgestaltung und wechselseitige Abstimmung der drei sogenannten Strukturfonds, das heißt neben dem Europäischen Regionalfonds um den Europäischen Sozialfonds (ESF) sowie den Europäischen Ausrichtungs- und Garantiefonds für die Landwirtschaft (EAGFL). Auch die Aufgabenstellung für die Europäische Investitionsbank wurde vermehrt in den Dienst des Regionalausgleichs gestellt. Verstärkt wurde die regionale Komponente der Europäischen Förderungspolitik im Vertrag von Maastricht durch den Kohäsionsfonds. Ähnlich wie bei den anderen Fonds gelten für seine Mittelverwendung sozio-ökonomische Kriterien, insbesondere der Lebensstandard gemessen am Pro-Kopf-Einkommen. Durch ihn werden unter anderem Infrastrukturvorhaben für transeuropäische Netze im Bereich Verkehr in den Ländern Irland, Griechenland, Portugal und Spanien durch nicht rückzahlbare Zuschüsse (bis zu 85 %) gefördert. Aber auch Umweltschutzvorhaben können Unterstützung erhalten.

Im sogenannten Delors-II-Paket, vorgelegt im Januar 1993, wurden nach kontroversen Verhandlungen die Mittel des Kohäsionsfonds festgelegt und auch die Mittel der übrigen Strukturfonds nach oben revidiert. Danach kommt es bis 1999 etwa zu einer Verdoppelung des Mittelzuflusses in die vier Kohäsionsländer, was einen Betrag von knapp 60 Mrd. DM (zu Preisen von 1992) bis zum Jahre 1999 bedeutet. Der neue Kohäsionsfonds wurde mit einem Anfangsbetrag von etwa 3 Mrd. DM für 1993 angesetzt, wobei eine Erhöhung auf 5 Mrd. DM bis 1999, ebenfalls zu Preisen von 1992 gerechnet, vorgesehen ist. Ergänzend hierzu wurde 1993 ein neues Finanzinstrument für die Ausrichtung des Fischereisektors (FIAF) eingerichtet und ein neuer europäischer Investitionsfonds mit einer Ausstattung von 4 Mrd. DM sowie eine neue Darlehensfazilität der Europäischen Investitionsbank über 10 Mrd. DM geschaffen. Im Ende letzten Jahres vorgelegten „Weißbuch über Wachstum, Wettbewerbsfähigkeit und Beschäftigung" wird ein weiteres Finanzinstrument angesprochen. So ist daran gedacht, zur Finanzierung der transeuropäischen Netze Unionsschuldverschreibungen über insgesamt 80 Mrd. DM aufzulegen, die zudem durch ein Darlehensvolumen der Europäischen Investitionsbank über 77 Mrd. DM, Bürgschaften des Investitionsfonds für Wandelschuldverschreibungen über 11 Mrd. DM sowie Ausgaben aus dem Gemeinschaftshaushalt von 60 Mrd. DM (vor allem aus den Strukturfonds und dem Kohäsionsfonds) ergänzt werden sollen, was sich insgesamt zu 230 Mrd. DM summiert. Auf Jahresbasis gerechnet sind das immerhin 0,36 % des Bruttoinlandsprodukts der Gemeinschaft. Diese Initiativen sind allerdings im Europäischen Rat am Veto Deutschlands und einiger anderer Mitgliedstaaten gescheitert. Die Diskussion hat aber sehr deutlich gemacht, wie groß das regionale Spannungspotential im europäischen Binnenmarkt schon jetzt ist und was man in einer Währungsunion darüber hinaus erwarten kann. In anderer Form handelt es sich hier auf europäischer Ebene um die konsequente Anwendung von Maßnahmen, wie sie schon lange auf nationaler Ebene eingesetzt werden. In Deutschland sind das die „Gemeinschaftsaufgabe Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur" sowie die Zuweisungen nach Artikel 104a (4) des Grundgesetzes.

Der in der öffentlichen Diskussion und im Europäischen Rat sichtbar gewordene Widerstand gegen die Kommissionsvorschläge wäre sicher nicht so stark ausgefallen, wenn nicht eine Reihe von Ländern, die Nettozahler in der Union sind, allen voran Deutschland, aus unterschiedlichen Gründen hohe öffentliche Defizite in ihren nationalen Haushalten gehabt hätten. Dieser Widerstand könnte nur dann ausgehebelt werden, wenn die Union eigene Steuerhoheit hätte, wie sie beispielsweise für eine CO2-Steuer angestrebt wird. Bislang ist dies an dem Einstimmigkeitspostulat gescheitert. In Deutschland hat das Bundesverfassungsgericht hier gleichfalls schwer überwindbare Hürden aufgebaut, indem es die Zustimmung von Bundestag und Bundesrat verlangte. Dies ist der politische Hintergrund, weshalb die Kommission Finanzierungsmöglichkeiten über Anleihen und die Europäische Investitionsbank ins Spiel gebracht hat.

Gegen die Ausweitung der Finanzmittel für den Regionalausgleich wurden aber nicht nur die leeren öffentlichen Kassen, sondern auch ordnungspolitische Bedenken ins Feld geführt. Es ist nicht garantiert, daß Zuweisungen von Brüssel an die Kohäsionsländer nicht Mitnahmeeffekte mit sich bringen und damit das Prinzip der Additionalität verletzen. Auch ist keineswegs sichergestellt, daß Projekte finanziert werden, die im nationalen und europäischen Rahmen eine hohe Priorität verdienen. Als Negativbeispiel hierfür mag man den unlängst eingeweihten Kanal in Irland anführen, der schon im vorigen Jahrhundert wegen Unwirtschaftlichkeit nach kurzer Zeit wieder außer Betrieb genommen wurde. Besonders groß ist das Risiko von Mitnahmeeffekten, wenn der Fördersatz sehr hoch ist, nämlich 85 %, wie jetzt im Kohäsionsfonds geplant. Auch hier gilt, was nichts kostet, ist weniger wert und verdient daher geringere Sorgfalt. Eine hohe Eigenbeteiligung gewährleistet eher, daß ein effizienter Mitteleinsatz zumindest angestrebt wird.

Das führt zu der Forderung, daß eine Verstärkung der regionalen Förderung unbedingt mit einer besseren Kontrolle und Planung ihres Einsatzes einhergehen müßte. Manches deutet darauf hin, daß dies gegenwärtig nicht geschieht. Der Europäische Rechnungshof hat sich hierzu bereits geäußert. Im Grunde geht es hier um die Anwendung von Prinzipien, wie sie im Geschäft internationaler Finanzinstitutionen bereits gang und gäbe sind, nämlich die Konditionalität, durch die die Mittelvergabe an bestimmte wirtschaftspolitische und projektspezifische Bedingungen geknüpft ist.

Page Top

Die Osterweiterung

Die hier dargelegten Probleme sind wesentlich mitverantwortlich dafür, weshalb gegenüber dem Beitritt mitteleuropäischer Staaten erhebliche Bedenken bestehen, während der Beitritt der Nordstaaten und Österreichs vergleichsweise geringe Schwierigkeiten bereitete. Im Gegenteil, vom Beitritt dieser Staaten kann sogar eine Entlastung von Problemen der Union erwartet werden, da sie alle als Nettozahler einzustufen sind und daher das Finanzierungsproblem der europäischen Regionalpolitik eher erleichtern als erschweren. Ganz anders sieht es für die mitteleuropäischen Länder aus. Sie alle wären Nettoempfänger regionaler Ausgleichszahlungen, und zwar auf lange Zeit und in großer Höhe. Gemessen am Pro-Kopf-Einkommen liegt ihr Entwicklungsniveau im Vergleich zum ärmsten Land der Europäischen Union, Portugal, bei weniger als der Hälfte. Eine Beibehaltung der bisherigen finanziellen regionalen Ausgleichsmodalitäten würde also nicht nur das Budget der Gemeinschaft für diese Zwecke gewaltig aufblähen, sondern diese Länder auch in Konkurrenz zu den bisherigen Förderländern bringen. Das würde zusätzlich zu den befürchteten ökonomischen Schwierigkeiten große politische Probleme für die Beitrittsverhandlungen mit sich bringen.

Die Osterweiterung um die vier Visegradstaaten (Polen, Ungarn, Tschechische Republik, Slowakische Republik) würde nach groben Schätzungen bis zu 28 Mrd. DM bis 1999 an Finanzierungsmitteln im Rahmen der Regional- und Agrarpolitik erfordern. Das wäre deutlich mehr als das Doppelte der durch die Norderweiterung zusätzlich erzielbaren Einnahmen. Am größten wäre die Belastung durch Polen, schon allein aufgrund der größeren Bevölkerung im Vergleich zu den drei anderen Staaten.

Politischer Widerstand ist von den weniger entwickelten Ländern der Europäischen Union nicht nur deswegen zu erwarten, weil sie mit finanziellen Einbußen rechnen müssen, sondern auch, weil die mitteleuropäischen Länder in einer Reihe von Produktionszweigen als unmittelbare Konkurrenten auftreten könnten. Dort, wo die südeuropäischen Staaten und Irland gegenwärtig Wettbewerbsvorteile aufgrund niedrigerer Lohnkosten haben, könnten sie von den mitteleuropäischen Staaten zukünftig leicht ausgebootet werden. Wird die Europäische Währungsunion eingeführt, hätten die Südeuropäer noch nicht einmal die Möglichkeit, sich durch Wechselkursänderungen gegenüber nachteiligen Außenhandelswirkungen zur Wehr zu setzen.

Wenn die Visegradstaaten in die Europäische Union aufgenommen werden sollten, wäre das ein wichtiger Präzedenzfall für den Beitritt weiterer osteuropäischer Staaten. Eine Verweigerung insbesondere gegenüber den baltischen Staaten und Slowenien wäre nur schwer zu begründen. Im Schlepptau würden dann auch die südosteuropäischen Staaten folgen. Die Grenze der Europäischen Union würde sich Zug um Zug weiter nach Osten verschieben.

Die heutigen Mitglieder der Europäischen Union müssen sich fragen, ob sie eine solche Entwicklung wollen. Aus ökonomischer Sicht ist die Erweiterung des Binnenmarktes bei hinreichender Anpassungsflexibilität längerfristig für alle beteiligten Länder von Vorteil. Sicher werden kurz- bis mittelfristig Anpassungsfriktionen auftreten, wenn die Länder im Osten mit ihren niedrigen Lohnkosten auf den westeuropäischen Markt drängen und die Westeuropäer die osteuropäischen Märkte mit technisch und qualitativ hochwertigen Gütern überschwemmen. Aber die Wirtschaften und Märkte der osteuropäischen Länder werden auch überdurchschnittlich stark wachsen, und zwar um so mehr, je intensiver der Warenaustausch mit dem Westen wird. Dadurch entstehen hier neue Absatzmärkte, die den Verdrängungseffekt der Importe aus Mittel- und Osteuropa leicht überkompensieren können. Aufgrund bisheriger Erfahrungen mit wirtschaftlich weniger entwickelten Ländern ist aber damit zu rechnen, daß Westeuropa im Austausch mit dem Osten Handels- und Leistungsbilanzüberschüsse erzielen wird. Das bedeutet, daß Westeuropa Kapital nach Mittel- und Osteuropa exportieren muß, vorzugsweise in der Form von Direktinvestitionen. Insgesamt gesehen besteht überhaupt kein Grund zu der Befürchtung, daß die Vorteile des so erweiterten Binnenmarktes geringer ausfallen sollten als die in der Europäischen Gemeinschaft in der Vergangenheit beobachteten oder daß gar gravierende ökonomische Nachteile entständen.

Diese Vorteile sind eventuellen zusätzlichen finanziellen Belastungen aus den Finanztransfers gegenüberzustellen. Aber selbst wenn diese Vorteile sehr groß wären, würde sich kaum der politische Widerstand gegen wesentlich höhere Zahlungen entkräften lassen, da erstens die Vorteile kaum zu quantifizieren sind und sie zweitens sehr viel später als die Zahlungen eintreten würden. Von daher gesehen wären wesentliche Änderungen im System der Finanztransfers erforderlich.

Eine Möglichkeit bestünde darin, die Zuweisungen für alle Empfängerländer drastisch zu senken. Die verbleibenden Beträge würden rasch die Frage aufwerfen, ob so stark verringerte Zahlungen überhaupt noch irgendeinen sichtbaren Effekt haben können. Die Alternative wäre, daß die Zahlungen je nach Entwicklungsstand sehr viel stärker abgestuft werden als bisher. Regionen wie Ostdeutschland, das jetzt in Zielstufe 1 eingeordnet ist, vor allem aber die Ziel-2-Regionen in den höher entwickelten Mitgliedstaaten, könnten beispielsweise bald ganz herausfallen. Auch die Südeuropäer und Irland würden wesentlich weniger erhalten. Dafür würden entsprechend höhere Zuweisungen an die neuen Beitrittsländer geleistet. Die dritte Alternative wäre, daß man die Zahlungen nur noch auf transeuropäische Projekte, wie sie jetzt im neuen Weißbuch der Kommission angesprochen werden, beschränkt.

Aber auch in anderen Bereichen müßten Differenzierungen vorgesehen werden. So ist die Ausdehnung einer Währungsunion, die schon im „Europa der Zwölf oder Sechzehn" auf erhebliche Probleme stieße, auf Beitrittsstaaten aus Mittel- und Osteuropa völlig indiskutabel. Die deutsche Vereinigung hat deutlich gezeigt, welche verheerenden Wirkungen eine Währungsunion für Länder mit sehr ungleichen Wettbewerbsbedingungen haben kann. Hier wäre also mit Sicherheit ein Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten angezeigt. Ähnliches gilt sicher auch für die Wanderung von Arbeitskräften und die Niederlassungsfreiheit.

Insgesamt gesehen ist die Osterweiterung ökonomisch gesehen sinnvoll. Sie kann aber nicht im Rahmen des bisherigen Regelwerks der Europäischen Union vollzogen werden. Dabei geht es nicht notwendigerweise darum, für alle Länder neue Regeln zu finden, sondern zuzulassen, daß für verschiedene Länder unterschiedliche Regelungen gelten. So etwas politisch durchzusetzen, ist sicherlich außerordentlich schwierig. Es scheint mir aber der einzige Weg zu sein, der echte Zukunftsperspektiven für Mittel- und Osteuropa innerhalb der Europäischen Union eröffnet.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | März 1998

Previous Page TOC Next Page