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Wichard Woyke:
Europäische Union und Deutschland


Die Behandlung des Themas „Europäische Union und Deutschland" kann auf vielfältige Art und Weise erfolgen. Es kann normativ untersucht werden. Es kann empirisch-analytisch anhand der Politikfeldanalyse in den verschiedenen Sektoren vorgenommen werden, z.B. der Agrarpolitik, der Finanzpolitik, der Wirtschafts- und Währungspolitik etc. Es kann mit Hilfe demoskopischer Daten ein Stimmungsbild der Gesellschaft in bezug auf die Europäische Union versucht werden. Und es kann schließlich eine Mischung aus verschiedenen Vorgehensweisen vorgenommen werden, für die ich mich entschieden habe. Dabei können jedoch Aspekte nur angedeutet werden. Im folgenden werde ich die Bestimmungsfaktoren der Außenpolitik des vereinten Deutschlands aufzeigen, anschließend die normative und die praktische Ebene der deutschen Europapolitik anhand einiger Beispiele untersuchen, um schließlich die öffentliche Meinung zu präsentieren.

Für die Außenpolitik stellten sich nach der deutschen Vereinigung viele Fragen, sowohl in Deutschland als auch außerhalb Deutschlands. Wird das vereinte Deutschland Mitglied in der Europäischen Gemeinschaft bleiben? Und wenn ja, welche Rolle wird es in ihr spielen? Wird das gestärkte Gewicht des vereinten Deutschlands zu einer Dominanz in der Gemeinschaft führen? „Ist das vereinte Deutschland im Begriff, innerhalb der EG größere Unterstützung für seine europapolitischen Konzeptionen und Ziele zu gewinnen oder gar den Kurs der europäischen Integration zu bestimmen?" [Michael Kreile , Übernimmt Deutschland eine Führungsrolle in der Europäischen Gemeinschaft?, in: Werner Weidenfeld (Hrsg.), Was ändert die Einheit?, Gütersloh 1993, S. 44.] Wird das vereinte Deutschland weiterhin den Sicherheitsorganisationen wie der NATO und der Westeuropäischen Union angehören? Wird es ein europäisches Deutschland geben oder ein deutsches Europa? Wird sich Deutschland nun vom Westen abwenden und nach Mitteleuropa orientieren? Wird es spezifische Beziehungen mit Rußland aufnehmen, nachdem bereits historisch die preußisch-russischen Beziehungen (z.B. mit der Konvention von Tauroggen) oder die deutsch-russischen Beziehungen (z.B. Rappallo 1923 und Hitler-Stalin-Pakt 1939 über die Aufteilung Polens) wie auch die Beziehungen der Bundesrepublik mit der Sowjetunion (z.B. neue Ostpolitik in den 70er Jahren bis hin zu den deutsch-sowjetischen Gesprächen zwischen Gorbatschow und Kohl 1989 in Bonn und 1990 in Moskau und im Kaukasus) nicht nur bei den westlichen Nachbarn, sondern auch in Polen und anderen mitteleuropäischen Staaten Befürchtungen auslösten? Wird das vereinte Deutschland seine neugewonnene Rolle nutzen, um eine eigenständigere Politik zu betreiben? Diese und ähnliche Fragen begleiteten den deutschen Vereinigungsprozeß vor allem im Ausland, sowohl bei unseren Verbündeten als auch in anderen Staaten.

Vier Jahre nach der staatlichen Einigung sind die meisten dieser Fragen eindeutig beantwortet, andere dagegen nicht. Das vereinte Deutschland, für mich die dritte Deutsche Republik nach der ersten von Weimar (1919 bis 1933) und der zweiten von Bonn (1949 bis 1990), sucht z.Z. noch seine Rolle in der internationalen Politik, insbesondere seine Rolle jenseits der bisherigen Orientierung auf europäische und atlantische Organisationen.

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Bestimmungsfaktoren der deutschen Außenpolitik

Die Außenpolitik Deutschlands resultiert aus der Einwirkung der internationalen Politik und der eigenen Gesellschaft auf das nationale politische System. Die Außenpolitik Deutschlands wird bestimmt durch

• die normativen Vorgaben des Grundgesetzes (z.B. Wahrung des Friedens; Verbot eines Angriffskrieges; Bereitschaft zu offenem, kooperativem Internationalismus);

• die Einbindung in die westeuropäische Integration;

• die Einbindung in das transatlantische Sicherheitssystem mit den USA als Führungsmacht;

• die Notwendigkeit guter Ostverbindungen aufgrund der zentralen Mittellage in Europa;

• seine außenwirtschaftliche Verflechtung, die Integration in den Weltmarkt;

• seine hohe Rohstoff- und Exportabhängigkeit und

• seine Geschichte, insbesondere die nach wie vor bestehende Verantwortung für die Untaten des NS-Regimes.

Die Rolle Deutschlands nach der Vereinigung unterscheidet sich fundamental von der Rolle der alten Bundesrepublik. Die Akteursqualität des neuen Deutschlands hat sich außerordentlich vergrößert. Die Überwindung der Blockkonfrontation hat sowohl die Vereinigung als auch die Souveränität Deutschlands ermöglicht. Kein Staat in Europa hat aus der radikalen Veränderung des internationalen Systems in Europa in den Jahren 1989-1991 einen mit Deutschland vergleichbaren Gewinn gezogen.

1. Deutschland hat durch den Zwei-Plus-Vier-Vertrag die Souveränitätsvorbehalte der Alliierten (Deutschland als Ganzes, Berlin, alliierte Truppen) überwunden. Die Statusdifferenzen zu den Siegermächten sind überwunden.

2. Deutschland hat in jeglicher Beziehung seine Akteursqualität gesteigert. Mit 80 Mio. Einwohnern ist es das bevölkerungsreichste Land Europas westlich des Bug. Es hat eine zentrale geographische Lage in Europa. Dadurch ist Deutschland das Land, durch das die meisten großen Nord-Süd- und West-Ost-Verbindungen führen. Die durch die Vereinigung vergrößerten Wirtschafts-, Wissenschafts- und Technologiepotentiale stärken mittel- und langfristig das deutsche Gewicht. Der Transfer von öffentlichen Leistungen im Wert von 150 -180 Mrd. DM sowie weitere hohe Beiträge aus der Privatwirtschaft in den kommenden Jahren in die neuen Bundesländer bremsten zwar zu Beginn der 90er Jahre den Zuwachs an Wirtschaftskraft in Deutschland, werden aber mittelfristig zu einer Vergrößerung des Wirtschaftsakteurs Deutschland im internationalen Wirtschaftssystem beitragen.

3. Durch den Zusammenbruch der Sowjetunion und die Schaffung der Staaten der „Gemeinschaft unabhängiger Staaten" (GUS) steht Deutschland keine entsprechende politische Gegenmacht in Osteuropa gegenüber, die vom ökonomischen und politischen Gewicht her das deutsche Potential ausbalancieren könnte. Allenfalls das demographische Potential Rußlands ist als ein gewisser Ausgleich zu bewerten.

4. Durch die Überwindung des Ost-West-Konflikts liegt Deutschland nicht mehr an der weltpolitischen Trennungslinie der Machtblöcke, sondern in Zentraleuropa. Damit bieten sich gleichzeitig Chancen und Gefahren, z. B. Ostmärkte versus Migration.

5. Das Ende des Ost-West-Konflikts hat ein stärker multipolares als wie bis dahin bipolares Ordnungsmodell auf der Grundlage einer Ostverschiebung des Westens hervorgebracht. Dadurch haben die größeren europäischen Mächte - und namentlich Deutschland - eine größere politische Bedeutung z. B. beim Wiederaufbauprogramm in Ost-/Mitteleuropa erhalten.

6. Die Überwindung des Ost-West-Konflikts hat auch zu einer weiteren Relativierung militärischer Macht beigetragen. Militärische Sicherheitsgarantien - d. h. also insbesondere die Nukleargarantie der USA für Westeuropa - verlieren immer mehr an praktischer Relevanz. Die ökonomische Machtwährung dagegen nimmt zu und damit auch die Bedeutung des wirtschaftlich stärksten Staates in Europa, also Deutschlands, das neben den USA und Japan die drittstärkste ökonomische Macht, gemessen am Bruttosozialprodukt, ist.

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Zur Außenpolitik Deutschlands

In Europa fand 1989/91 ein Umbruch revolutionären Ausmaßes statt. Dieser Prozeß ist noch keineswegs abgeschlossen. Noch immer vollziehen sich antagonistische Prozesse, die das Prädikat revolutionär durchaus verdienen. Während sich im Westen die Europäische Union (EU) im Vertiefungsprozeß befindet (Binnenmarkt, Wirtschafts- und Währungsunion, Politische Union), suchen sich die Staaten Mittel- und Osteuropas eine völlig neue politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Ordnung. Dabei besitzt zunächst Nationenbildung etwa in den ehemaligen Unionsstaaten der Sowjetunion und auch im ehemaligen Jugoslawien Priorität. Erst danach treten die aus den Veränderungsprozessen resultierenden ökonomischen und gesellschaftlichen Probleme in den Vordergrund. Aber nicht nur in den Nachfolgestaaten dieser Unionsstaaten entzündete sich der Nationalismus; ganz Mittel- und Osteuropa wurde von ihm überzogen, wenngleich in den einzelnen Ländern in unterschiedlicher Weise. Vor diesem Hintergrund setzte auch das vereinte Deutschland die Prioritäten eindeutig außenpolitisch. Sie können unter die Rubriken „Einbindung in die Europäische Gemeinschaft" und „transatlantische Gemeinschaften" sowie „Integration in das internationale Handelssystem" subsumiert werden.

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Die Vertiefung der europäischen Integration

Bereits das Grundgesetz gibt die normative Vorgabe für die Europapolitik, wenn es in Art. 24 GG heißt: „(1) Der Bund kann durch Gesetz Hoheitsrechte auf zwischenstaatliche Einrichtungen übertragen. (2) Der Bund kann sich zur Wahrung des Friedens einem System gegenseitiger kollektiver Sicherheit einordnen; er wird hierbei in die Beschränkungen seiner Hoheitsrechte einwilligen, die eine friedliche und dauerhafte Ordnung in Europa und zwischen den Völkern der Welt herbeiführen und sichern."

Auch nach der Vereinigung besteht kein Zweifel daran, daß sich die Außenpolitik Deutschlands primär am politischen Gravitationszentrum Europäische Gemeinschaft/Europäische Union ausrichten wird. Im neuen Grundgesetzartikel 23 bekennt sich Deutschland faktisch zur im Maastrichter Vertrag niedergelegten Europäischen Union, wenn es dort heißt: „Zur Verwirklichung eines vereinten Europas wirkt die Bundesrepublik Deutschland bei der Entwicklung der Europäischen Union mit, die demokratischen, rechtsstaatlichen, sozialen und föderativen Grundsätzen und dem Grundsatz der Subsidiarität verpflichtet ist und einen diesem Grundgesetz im wesentlichen vergleichbaren Grundrechtsschutz gewährleistet. Der Bund kann hierzu durch Gesetz mit Zustimmung des Bundesrates Hoheitsrechte übertragen..."

Bereits die Bonner Republik war ökonomisch interdependent mit der EG verflochten. 1989 wurden 55% der in Deutschland produzierten Waren in die Staaten der EG exportiert und nur unwesentlich weniger importiert. „Die Ökonomie der alten Bundesrepublik war also im wesentlichen auf OECD-Märkte ausgerichtet, die in einem Umfeld situiert sind, das sich durch politische Stabilität, Rechtssicherheit, eine differenzierte Infrastruktuur, qualifizierte Arbeitskräfte und nachfragestarke Binnenmärkte auszeichnet." [Dieter Senghaas , Verflechtung und Integration, in: Karl Kaiser/Hans W. Maull (Hrsg.), Die Zu kunft der deutschen Außen politik, Bonn 1992, S. 40.]

Diese Zahlen haben sich nach der Vereinigung nur unwesentlich verringert. Neben der ökonomischen Interdependenz als Grundlage zukünftigen Wohlstands ist die Tatsache bedeutend, daß Deutschland seine Produkte vor allem in Länder liefert, die gekennzeichnet sind durch „politische Stabilität, Rechtssicherheit, eine differenzierte Infrastruktur, qualifizierte Arbeitskräfte, anhaltende Produktivitätsteigerungen in allen Sektoren mit der Folge entsprechender breitenwirksamer Einkommenssteigerung und nachfragestarker Binnenmärkte, hohe Investitionseffizienz und eine sich schrittweise aufbauende Wettbewerbsfähigkeit auf schwierigen internationalen Märkten".[ebd., S. 42.] Auch die europapolitischen Normen des Grundgesetzes sprechen für die Logik des Multilateralismus und die Fortsetzung der Integrationspolitik im nationalen Interesse. „Wenn mehr als 50% des westdeutschen Außenhandels mit der EG abgeschlossen werden (...), dann ist das paradigmatisch eine Form der Interdependenz, deren Abbruch teurer käme, zumal, wenn kaufkräftige Ersatzmärkte nicht zur Verfügung stehen. Die neuen Ostmärkte bieten keinen Ausweg.(...) Die Fortführung des Integrationsprozesses durch den EG-Binnenmarkt und ein europäisches Währungssystem ist längst mehr als ein Integrationsprogramm zur Einbindung Deutschlands. Es ergibt sich wirtschaftlich zwingend aus dem bisher abgelaufenen Integrationsprozeß, wenn die Region nicht im globalen Wettbewerb stagnieren oder zurückfallen will. Für einseitigen politischen Machtvoluntarismus bleibt da wenig Raum."[Reinhard Rohde , Deutschland: Weltwirtschaftsmacht oder überforderter Euro-Hegemon, in: Le viathan Nr. 1/1992, S. 17.]

Die EG war und die EU ist nicht nur eine, sondern die einzige Stabilitätsgemeinschaft in Europa, auf die große Hoffnungen nicht nur von ihren Mitgliedern, sondern vor allem von den beitrittswilligen Staaten in Nord-, Mittel- und Osteuropa gesetzt werden. In einem internationalen System, das immer mehr durch Regionalismus und Multipolarität gekennzeichnet ist, wäre es auch für einen Staat wie das vereinte Deutschland allein nicht länger möglich, seine Interessen erfolgreich wahrzunehmen. Dies kann nur in der Gemeinschaft erfolgen. Aber nicht nur die ökonomische Interdependenz mit der Gemeinschaft läßt die weitere Mitarbeit in dieser einmaligen supranationalen Organisation als geraten erscheinen, sondern vor allem auch die politischen Vorteile, die die Bundesrepublik ebenso aus der Mitgliedschaft in dieser EG zog wie auch Deutschland sie heute erwirbt. Die Mitgliedschaft in der EG stützte den Aufbauprozeß der liberalen Demokratie in der Bundesrepublik, führte zur Gleichberechtigung des neuen westdeutschen Teilstaates und ermöglichte schließlich der Bundesrepublik das starke weltpolitische Gewicht. „Die Europäische Gemeinschaft hat eine Friedensordnung geschaffen, die unter ihren Mitgliedern verläßlich Gewalt als Mittel der Politik ausschließt und hierin Deutschland voll einbindet. Sie hat die Demokratie glaubhaft zur festverwurzelten Regierungsform Westeuropas und natürlich auch des westlichen Teils Deutschlands gemacht. Schließlich hat sie einen riesigen gemeinsamen Markt mit blühender Wirtschaft und großer Anziehungskraft auf Ost- und Westeuropa geschaffen."[Karl Kaiser , Deutschlands Vereinigung - Die inter nationa len Aspekte, Bergisch Gladbach 1991, S. 95f.] Das bedeutet, daß auch in Zukunft die EU dem deutschen Ziel der Wahrnehmung nationaler Interessen durch Multilateralisierung und Integrationsbereitschaft entspricht. Somit bindet auch zukünftig die Europäische Union Deutschland als mögliche Führungsmacht ein, bietet ihm aber auch den Rahmen zu optimaler Verfolgung bzw. Verwirklichung seiner außenpolitischen Grundinteressen. „Deutschlands Interesse besteht also in der Schaffung europäischer Strukturen, die ihm seine Entfaltung erlauben, ohne es in eine hegemoniale Position zu bringen. Das kann nur mittels europäischer Integration geschehen, das heißt durch gegenseitige Beschränkung und Kontrolle ohne Diskriminierung und Privilegierung. Nur dann kann Deutschland die Chancen seiner geographischen Mittellage ökonomisch und politisch optimal nutzen." [Werner Link , Deutschlands europäische Handlungsmaxime, in: Die politische Meinung Nr.288 (November 1993), S. 50.]

Schließlich spricht auch die gesellschaftliche Ausrichtung auf den Westen für ein weiteres Verbleiben in den europäischen Organisationen. Die bundesdeutsche Gesellschaft, d.h. besonders die Gesellschaft der Bonner Republik, ist vollständig auf den westlichen Zivilisationsprozeß ausgerichtet; ein Faktum, das sich sowohl im allgemeinen beruflichen als auch im privaten Verhalten niederschlägt. Untersucht man einmal das Urlaubsverhalten der Deutschen, so kommt man nicht gerade überraschend zu dem Ergebnis, daß eine eindeutige Priorität der Urlaubsziele für den Westen gegeben ist. Die „Verwestlichung" der bundesdeutschen Gesellschaft ist ein Ergebnis des mehr als vierzigjährigen Integrationsprozesses, das auch durch den Beitritt der DDR-Bürger nicht in kurzer Zeit verändert werden wird.

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Deutsche Europapolitik nach der Einheit

Die enge Bindung Deutschlands an die europäischen Institutionen ist nach der deutschen Einheit nicht in Frage gestellt worden. Bereits im Zehn-Punkte-Plan von Bundeskanzler Kohl vom 28. November 1989 über die deutsch-deutsche Konföderation wurde deutlich, daß der Platz eines zukünftigen Deutschlands in der EG sein würde. Zwei Wochen später, auf dem Europäischen Rat in Straßburg, begrüßten die Staats- und Regierungschefs der EG das Streben der Deutschen, die Einheit und Wiedervereinigung in Frieden und Freiheit zu erreichen, erklärten aber gleichzeitig auch, daß der deutsche Einigungsprozeß in den europäischen Integrationsprozeß eingebettet sein sollte.

Die Konzeption der Bundesregierung zielte auf eine Verbindung von europäischer Integration und deutscher Einheit. So wurde am 18. April 1990 eine Initiative von Präsident Mitterrand und Bundeskanzler Kohl zur Vertiefung der EG gestartet, die auch als Beruhigung gegen ein eventuelles Abdriften der Deutschen aus dem Integrationsprozeß gewertet werden sollte. Die beiden Politiker initiierten einen Plan zur Beschleunigung der Politischen Union sowie der Vertiefung der Wirtschafts- und Währungsunion. Der deutsch-französische Vorschlag zielte auf neue Kompetenzen der Europäischen Gemeinschaft in den Bereichen Umweltpolitik, Gesundheits- und Verbraucherschutz, in der Sozial- und Energiepolitik sowie der Forschungs- und Technologiepolitik. Ebenfalls wurde eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik anvisiert. Noch deutlicher wurde das gemeinsame deutsch-französische Vorgehen vor dem Maastrichter Gipfel, als im Oktober 1991 die gemeinsame Initiative für ein europäisches Verteidigungskorps eingebracht wurde, was nicht zuletzt auf eine noch größere sicherheitspolitische Einbindung der Deutschen zielt.

Vorläufiger Höhepunkt dieser Einbindung Deutschlands in die Europäische Gemeinschaft ist die Unterzeichnung der Maastrichter Verträge 1991/92, die nicht nur die Schaffung der Wirtschafts- und Währungsunion bis spätestens 1999 vorsehen, sondern auch eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) und eine Zentrale Innen-und Justizpolitik (ZIJ) beabsichtigen. Die Einbeziehung der Westeuropäischen Union (WEU) als sicherheitspolitisches Standbein der EG ist durch die Maastrichter Verträge vorprogrammiert. Bei der Realisierung der Maastrichter Verträge hat das deutsch-französische Tandem eine herausragende Rolle gespielt. Wenn dieser Vertrag auch nicht unbedingt die vollkommene Harmonie zwischen dem vereinten Deutschland und dem durch die deutsche Vereinigung in seinem internationalen Status verringerten Frankreich widerspiegelt, so zeugte er doch von der Handlungsfähigkeit des deutsch-französischen Tandems. „Für die führenden Franzosen ging es um die (aus meiner Sicht wenig realistische) Idee, Deutschland einzubinden, nachdem seine Wiedervereinigung wenig Begeisterung in Paris ausgelöst hatte. Es ging gleichzeitig darum, ein von den Vereinigten Staaten mehr oder weniger unabhängiges Europa zu schaffen. Für Bundeskanzler Kohl ging es nach der Wiedervereinigung um eine narrensichere Barriere gegenüber nationalistischen Versuchungen in Deutschland oder bei den Nachbarn. Es ging auch darum, in Sicherheitsfragen Frankreich an die NATO heranzuführen, eine Mittlerstellung zwischen Paris und Washington zu beziehen. Für andere führende deutsche Politiker (insbesondere ist an Hans-Dietrich Genscher zu denken) ging es um größere Beweglichkeit gegenüber Washington."[Georges-Henri Soutou , Die Opposition gegen Maastricht - Beweggründe und Argumente nach den Erfahrungen von 1993, in: Ingo Kolboom/Ernst Weisenfeld (Hrsg.), Frankreich in Europa. Ein deutsch-französischer Rundblick, Bonn 1993.]

Im Oktober 1993 richteten Präsident Mitterrand und Bundeskanzler Kohl an den Vorsitzenden des Europäischen Rats, den belgischen Premierminister Dehaene, eine gemeinsame Botschaft, in der sie u.a. forderten, die Europäische Union weiter zu vertiefen, die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik der EU zu beschleunigen und in der Dritten Säule des Maastrichter Vertrags „Inneres und Justiz" eine verbesserte Koordinierung der Bekämpfung von Kriminalität und Drogenhandel anzustreben. [Vgl. Ingo Kolboom/Ernst Weisenfeld (Hrsg.), Frankreich in Europa. Ein deutsch-französischer Rundblick, Bonn 1993, S. 112 ff.]

Die enge Einbindung Deutschlands in den europäischen Integrationsprozeß dient nicht nur den eigenen außenpolitischen Interessen, sondern beruhigt gleichzeitig auch latente bzw. offene Befürchtungen über eine zu starke Rolle der Deutschen in der Europäischen Gemeinschaft. Die Politik der Selbstbindung, die nach dem Motto „jeder kontrolliert jeden" sich in der Europäischen Union vollzieht, zielt auf einen Souveränitätsabbau und einen sich verdichtenden Integrationsprozeß. Diese Politik bringt für alle Beteiligten Vorteile, natürlich insbesondere für die kleineren Staaten. [ Vgl. Wichard Woyke , Erfolg durch Integration. Die Europa politik der Benelux-Staaten von 1947 bis 1969, Bochum 1985.] Auch für das vereinte Deutschland ist die EU-Mitgliedschaft von vitalem Interesse. Durch die Mitgliedschaft wird eine gegenseitige Bindung in einer multilateralen Sicherheits- und Wertegemeinschaft erreicht. Die weitere Entwicklung EU-Europas kann entscheidend mitbeeinflußt und darüber hinaus von dem 1993 in Kraft getretenen Binnenmarkt außerordentlich profitiert werden.

Die neuen Bundesländer wurden durch den Beitritt der DDR automatisch Mitglied der EG; jedoch wurden die EG-Rechtsvorschriften schrittweise eingeführt. Rund 200 Rechtsakte wurden mit der Realisierung der deutsch-deutschen Wirtschafts- und Währungsunion übernommen. Mit der Verwirklichung der Einheit am 3. Oktober 1990 galten das gesamte Primärrecht der EG, also die Verträge, sowie etwa 80 % des daraus abgeleiteten Gemeinschaftsrechts unmittelbar. Ausnahmeregelungen wurden vor allem für die Bereiche Landwirtschaft, Verkehr und Arbeitsschutz, Binnenmarkt und Umwelt für den Zeitraum bis zum 31.12.1992 erlassen. Längerfristige Ausnahmen im Umwelt- und Arzneimittelrecht sowie für tier- und pflanzenhygienische Bestimmungen sollen spätestens bis zum 31. Dezember 1995 abgelöst werden. Aufgrund der maroden wirtschaftsstrukturellen Lage der neuen Bundesländer hat die EG aus ihrem Strukturfonds bis 1993 für sie 6,2 Mrd. DM für Investitionen in wirtschaftliche Infrastrukturen, Telekommunikation und Energieversorgung sowie zum Umweltschutz bereitgestellt. Außerdem stellt die Europäische Investitionsbank zinsgünstige Kredite für die neuen Länder zur Verfügung. Der Kohäsionsfonds sieht bis Ende der 90er Jahre eine finanzielle Unterstützung der neuen Länder von 28 Mrd. DM vor.

Eine Bewertung der EG/EU-Mitgliedschaft für das vereinte Deutschland bringt mehr Vor- als Nachteile:

• Die EG ist eine Friedensgemeinschaft. Die Vernetzung der Staaten und Gesellschaften innerhalb der Gemeinschaft ist so groß geworden, daß etwa ein Krieg zwischen Frankreich und Deutschland heute sowohl materiell als auch mental als unmöglich gelten kann.

• Die Mitgliedschaft in der EG ermöglichte erst den Aufstieg der Bundesrepublik Deutschland zu einer ökonomischen Weltmacht. Mit der EU besitzt Deutschland ein deutlich größeres Handlungspotential nicht nur in den internationalen Wirtschaftsbeziehungen, z.B. beim GATT, sondern auch in anderen Feldern der internationalen Politik wie z.B. der KSZE oder den Vereinten Nationen.

• Die EU-Mitgliedschaft ermöglicht der Bundesrepublik außenpolitische Handlungsoptionen, die eine auf sich allein gestellte Bundesrepublik nicht hätte. Einmal hätte sie bei ihren außenpolitischen Aktionen die historische Belastung des Nationalsozialismus zu berücksichtigen; zum anderen kann die Bundesrepublik mit Hilfe der Union Außenpolitik in Regionen betreiben, die ohne die engen Verbindungen anderer Länder nicht möglich wäre.

• Die Bundesrepublik hat von allen EU-Partnern ökonomisch am meisten vom Integrationsprozeß profitiert, nachdem seit 1968/70 die Zollschranken in der EG abgebaut wurden. Die Bundesrepublik ist in der Union der Staat mit dem höchsten Exportanteil (Exporteuropameister/Vizeweltmeister im Export nach den USA), so daß - absolut gesehen - Deutschland aus dieser Situation die größten Vorteile zog. Zwar hat sich nach der deutschen Vereinigung der Export in die anderen EU-Staaten etwas abgeschwächt, aber dennoch ist Deutschland der größte Profiteur.

• In der EG und später der EU herrscht seit dem Inkrafttreten des Binnenmarkts die Freizügigkeit. Die Grenzen sind offener geworden. Die Bürger können sich an jedem beliebigen Ort der Union niederlassen, eine Arbeit aufnehmen, ein Geschäft eröffnen etc. Diese manchmal kaum registrierten Verbesserungen bemerken Bürger erst, wenn sie z.B. auf einem Flughafen eines EU-Landes ankommen und sich die umständliche Prozedur der Zoll- und Personenkontrolle ersparen.

• Die Zugehörigkeit zu den Europäischen Gemeinschaften ermöglichte der Bundesrepublik die Absicherung ihres politisch-gesellschaftlichen Systems. Gerade in der Zeit der Überwindung des Ost-West-Konflikts bildet die EU-Mitgliedschaft eine Garantie gegen nationalistische, ja sogar chauvinistische Irrwege, wie sie z.T. von einigen Völkern in Südost- und Ost-/Mitteleuropa gegangen werden.

Natürlich hat die Mitgliedschaft in der EG und heute in der EU auch ihren Preis. So bedeutet die Übertragung von Kompetenzen z.B. in der Agrarpolitik den Verlust von Souveränität in bestimmten Politikfeldern. Auch die hohen Nettozahlungen Deutschlands an die EG - 1993 waren es 24 Mrd. DM - sind für viele Bürger ein Ärgernis. Doch wägt man Vor- und Nachteile sorgsam gegeneinander ab, überwiegen die Vorteile die Nachteile bei weitem.

Deutschland ist gut beraten, wenn es mit Hilfe der Europäischen Union die intraregionale Anpassung verschiedener Politiken zu organisieren und die interregionalen, globalen, ökonomischen und politischen Interdependenzen zu steuern sucht.[Vgl. Wilfried von Bredow/Thomas Jäger , Die Außenpoli tik Deutschlands, in : Aus Politik und Zeitge schichte , Nr. B1-2/1991 vom 4. Januar 1991, S. 27ff.]

Auch nach der Vereinigung ist Deutschland ein zuverlässiges Mitglied der EG und der EU, wobei Deutschland sich allerdings davor hüten muß, seine ökonomische Dominanz zu stark politisch umzusetzen.

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Die öffentliche Meinung und die Europäische Union

Seit der Vereinigung ist die deutsche Bevölkerung skeptischer gegenüber dem europäischen Integrationsprozeß geworden. War in den 50er und 60er Jahren Europa eine Art Ersatzvaterland für die Deutschen, so sollte sich in den 90er Jahren eine stärkere Besinnung auf den Nationalstaat vollziehen. Dieser Umkehrprozeß kann im wesentlichen auf drei Gründe zurückgeführt werden. Zum ersten hat die deutsche Einheit die Bundesrepublik in der Perzeption unserer Verbündeten wie auch vieler Deutscher zu einem „normalen Staat" gemacht, d.h. die bisherigen Souveränitätsvorbehalte der Alliierten wurden im Zwei-plus-Vier-Vertrag aufgehoben. Zum zweiten haben die Renationalisierungsprozesse in Ost-, Süd- und Mitteleuropa auch ihre Auswirkungen auf Westeuropa nicht verfehlt, d.h. daß die Rückbesinnungen auf den Nationalstaat als sinnstiftendes Element von Ost- nach Westeuropa überschwappten. Und zum dritten wurde mit dem Maastrichter Vertrag den Bundesbürgern erstmals bewußt, was eine weitere Integration für die Gesellschaft, aber auch den deutschen Staat bedeutet, nämlich daß zunehmend Kompetenzen an die Gemeinschaft transferiert und Entscheidungen für die Bürger von der Gemeinschaft getroffen werden.

Seit 1988 ist ein Anwachsen der ambivalenten Gefühle gegenüber der Integration festzustellen. Die Zahl derer, die mit einem vereinten Europa Hoffnungen verbinden, ist in den alten Bundesländern von 60% (1988) auf 40% (1993) zurückgegangen. Allerdings stieg die Zahl der Skeptiker nicht in gleichem Maße. [Vgl. Hans -Wolfgang Platzer/Walter Ruhland , Welches Deutschland in welchem Europa? Demo skopische Analy sen, politi sche Perspektiven, gesellschaftliche Kon troversen, Bonn 1994, S. 62.]

Die Skepsis der Deutschen machte sich insbesondere bezüglich der Verträge von Maastricht bemerkbar, die zwar im Bundestag eine überwältigende Mehrheit, in der Bevölkerung jedoch keine mehrheitliche Unterstützung fanden. Die Gründe für die Ablehnung lagen einmal in der hohen Uninformiertheit der Bürger in bezug auf Europa, zum anderen im Mißtrauen gegenüber einer einheitlichen europäischen Währung, sowie in der Sorge um die nationale Identität innerhalb der Europäischen Gemeinschaft. Dazu kam die Wahrnehmung, sich in der Europäischen Gemeinschaft zurückgesetzt zu sehen (Zahlmeistersyndrom) sowie das Gefühl, die Europäische Gemeinschaft müsse nach Osten offengehalten werden. [Vgl. Elisabeth Noelle-Neumann , Die öffentliche Mei nung, in: Werner Weidenfeld/Wolfgang Wessels (Hrsg.): Jahrbuch der Europäischen Integration 1991/92, Bonn 1992, S. 276.] Nicht zuletzt aufgrund ihrer neuen demographischen und ökonomischen Stärke macht sich langsam und kontinuierlich der Wunsch nach stärkerem Einfluß in der Union bemerkbar. Die Zahl der Befürworter einer Übernahme einer Führungsposition stieg von Oktober 1990 bis April 1993 von 30 auf 48%. [Vgl. Elisabeth Noelle-Neumann , Die öffentliche Mei nung, in: Werner Weidenfeld/Wolfgang Wessels (Hrsg.): Jahrbuch der Europäischen Integration 1992/93, Bonn 1993, S. 278.] Und diese Tendenz steigt weiter an, wie eine ZEIT-Umfrage vom 3. Juni 1994 zeigt. Danach plädieren 83% der Deutschen dafür, daß Deutschland innerhalb der EU seine Interessen stärker durchsetzen sollte. Allerdings fällt in dieser Umfrage auch auf, daß die Deutschen in bezug auf den Integrationsprozeß ein gespaltenes Bewußtsein haben. Sie befürworten zu 77% die feste Einbindung des mächtiger gewordenen Deutschlands in die EU sowohl im eigenen Interesse als auch im Interesse der Partner, sind aber nicht mehrheitlich bereit, eine europäische Regierung zu fordern. Zwar wollen sie zu 78% eine Gemeinsame Außenpolitik, widersetzen sich aber mehrheitlich der Schaffung einer einheitlichen europäischen Währung (55%). Sie erkennen zu 70%, daß die Mitgliedschaft in der EU langfristig die wirtschaftliche Sicherheit Deutschlands festigt und daß Deutschland innerhalb der EU viel mehr Möglichkeiten besitzt, seinen Einfluß auszuüben (69%), wollen aber mehrheitlich keine europäische Verteidigung zusätzlich zur NATO (44% ja, 48% nein).

Diese Ergebnisse sind u.a. dahingehend zu interpretieren, daß es für die Bevölkerung außerordentlich schwer ist, die Europäische Union zu verstehen, da sie in ihrer Struktur auch für Experten bereits ein ausgesprochen schwieriges Unterfangen ist. So muß es das Interesse der Bundesregierung sein, die Bevölkerung über die Europäische Union und vor allem ihre Vorteile für den Bürger besser zu informieren.

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Soll Deutschland eine Führungsrolle in der Europäischen Union übernehmen?

Ohne Zweifel haben die Wiederherstellung der Einheit, das Ende des Ost-West-Konflikts und die Auflösung der Sowjetunion den internationalen Status der dritten deutschen Republik erhöht. Die französische Deutschlandexpertin Annemarie Gloannec konstatiert: „Die Wiederentdeckung der europäischen Einheit und der deutschen Einheit hat Frankreich, bisher geopolitisches Herz des Gemeinschaftseuropas, an die Ränder des Atlantiks zurückgestoßen. Deutschland hingegen hat nicht nur an Macht zurückgewonnen, sondern auch seine zentrale Lage. Als Mitglied der Europäischen Gemeinschaft in ein dichtes Netz von Verpflichtungen gegenüber den weniger mächtigen, aber dennoch gleichen Partnern eingebunden, wird Deutschland trotzdem Beherrscher des paneuropäischen und des internationalen Spiels." [Anne-Marie Gloannec , Die deutsch-deutsche Nation, München 1991, S. 192.] Es erfolgen also externe Rollenzuweisungen, die u.a. wie z.B. in der Formel des ehemaligen amerikanischen Präsidenten Bush von der „partnership in leadership" oder der Übernahme einer stärkeren weltpolitischen Verantwortung im Rahmen der Vereinten Nationen ihren Niederschlag finden, die nicht ohne Auswirkungen auf die Rolle Deutschlands in der EU bleiben können. US-Präsident Clinton hat anläßlich seines Deutschlandbesuchs im Juli 1994 diese Rollenzuweisung an Deutschland noch gesteigert, indem er einmal Deutschland eine Führungsfunktion innerhalb des europäischen Integrationsprozesses zuwies, zum anderen aber auch Deutschlands Verantwortung für die Weltpolitik einforderte. In einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung erklärte der US-Präsident: „...Ich unterstütze, was ich als die Politik Deutschlands verstehe, nämlich die Stärkung zunehmender europäischer Integration und die wachsenden Anstrengungen, sich dem Osten anzunähern. Und ich bin damit sehr zufrieden... Die Deutschen müssen ihre Rolle selbst definieren. Das ist nicht die Sache der Vereinigten Staaten. Ich sehe nicht, wie Deutschland sich einer Führungsrolle entziehen könnte. Es ist die drittgrößte Wirtschaftsnation und hat eine große Bevölkerung. Die Bundesrepublik hat Ostdeutschland integriert und es geschafft, seine Wirtschaftskraft beizubehalten. Bei all diesen ungeheuren Anforderungen hat Deutschland außerdem noch eine sehr konstruktive Rolle bei vielen Aktivitäten der Vereinten Nationen gespielt. Ich glaube, Deutschland bleibt gar nichts anderes übrig, als eine Führungsrolle zu übernehmen. Es hat keine andere Wahl. Die Deutschen waren bei weitem freigiebiger mit Investitionen im Osten als jedes andere Land. Ich meine, es gibt gar nicht die Möglichkeit, über eine Welt zu reden, in der Deutschland keine Führungsrolle spielt. Die Bundesrepublik kann sich nicht von ihrer Verantwortung zurückziehen. Selbst wenn sie dies anstrebte, würde das dadurch geschaffene Vakuum Deutschland dazu zwingen, aktiv zu werden..." [Süddeutsche Zeitung vom 4. Juli 1994.]

Es stellt sich die Frage, ob Deutschland eine neue europäische Vormacht oder Integrationspartner sein soll. Entsprechend der Theorie der „hegemonialen Stabilität" besteht die Leistung einer Hegemonialmacht im wesentlichen darin, öffentliche Güter bereitzustellen und weltwirtschaftliche Ordnungsfunktionen im Interesse einer Staatengemeinschaft wahrzunehemn und dafür gegebenenfalls auf kurzfristige Vorteile zu verzichten. [Vgl. Micheal Kreile , a.a.O. (Anm.1), S. 45.] Die EU zeichnet sich aber gerade dadurch aus, daß in ihr keine Hegemonialmacht existiert und daß auch ein Führungstandem, wie es zweifellos im deutsch-französischen Zusammengehen nicht erst seit Mitterrand-Kohl repräsentiert wird, nicht widerspruchslos akzeptiert wird. Es gibt zwar in einzelnen Politikfeldern eine Dominanz Deutschlands, wie z.B. in der Währungspolitik. Aber gerade durch diese Dominanz wurden Gegenkräfte mobilisiert, die zu einer Europäisierung der Währungspolitik im Rahmen der ersten Säule der Maastrichter Verträge geführt haben. Politische Führung sollte Deutschland immer im Rahmen einer Zusammenarbeit mit anderen Partnern der EU praktizieren, abgesehen davon, daß die eigentliche Führungsaufgabe in der EU der Kommission und ihrem Präsidenten als Motor des Integrationsprozesses zukommt. Mit Beate Kohler-Koch komme ich zu dem Ergebnis, daß die weitgehende Integration der Bundesrepublik in supranationale und internationale Organisationen wesentlich zur Internationalisierung ihrer politischen Akteure beigetragen hat und diese durch ihre eigenen transnationalen Aktivitäten die enge Verzahnung von Innenpolitik und internationaler Politik weiter vorangetrieben haben. „Die Philosophie einer solchen außenpolitischen Einbindungsstrategie, nämlich die Ausweitung von Handlungspielräumen durch den Verzicht auf autonome Handlungskompetenz, entspricht der Handlungslogik einer durch die Dezentralisierung von Macht gekennzeichneten Demokratie. Die Verankerung der Bundesrepublik im westlichen Interdependenzsystem ist somit doppelt abgesichert: Zum einen durch die ‘vested interests’ an den mit der Integration verbundenen Macht- und Wohlfahrtsgewinnen, zum anderen durch die strukturelle Entsprechung von innerstaatlicher und internationaler Politikverflechtung... Die von den Realisten prognostizierte Rückkehr zur traditionellen Großmachtpolitik ist keineswegs vorprogrammiert. Die Politik der internationalen Einbindung hat den Prozeß der deutschen Einigung bestimmt. Auch die Strategie der gesamteuropäischen Integration ist der gleichen Philosphie verpflichtet." [Beate Kohler-Koch , Deutsche Einigung im Spannungs feld internationaler Umbrüche, in: Politi sche Vierteljahres schrift Nr. 4/91, S. 608.]

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Europäische Union und Deutschland

Für die Europäische Union ist die Mitgliedschaft des vereinten Deutschlands eine absolute Notwendigkeit, da der Akteur Deutschland zur Verbesserung der Position des Akteurs EU im internationalen System erheblich beiträgt. Ein Ausscheren Deutschlands aus dieser europäischen Organisation riefe nicht nur die Gefahr eines Scheiterns der EU hervor, sondern würde auch einem urspünglichen Motiv des europäischen Integrationsprozesses diametral entgegenlaufen, nämlich der Lösung der deutschen Frage. Gerade dieser Integrationsansatz, nämlich daß alle Mitglieder sich durch die Einbindung gegenseitig kontrollieren, war eine Voraussetzung für den erfolgreichen Verlauf der Integration.

Vor diesem Hintergrund war es die EG in der Person des Kommissionspräsidenten Delors, die seit dem Fall der Mauer die Einbeziehung der DDR sowie später des vereinten Deutschlands in die Gemeinschaft nachhaltig unterstützte. Während in einzelnen Mitgliedstaaten zumindest Unsicherheit über die Haltung gegenüber dem deutschen Vereinigungsprozeß herrschte, war die Haltung der EG zu keiner Zeit zweifelhaft. Mit dem Konzept der vertieften Integration, dessen Niederschlag sich in den Maastrichter Verträgen widerspiegelt, wurde versucht, die Einbindungsstrategie fortzusetzen. Die für die Stärke eines Landes perzipierten Parameter hatten sich in den letzten zwei Jahrzehnten vom Militär zur Währung verschoben, so daß es galt, gerade den Währungsbereich, in dem die Deutschen eine dominierende Position eingenommen hatten, zu supranationalisieren. Doch trotz der Strategie der Supranationalisierung stellte sich innerhalb der Gemeinschaft das Problem der Dominanz Deutschlands. Im Wahlkampf für das Maastricht-Referendum in Frankreich warben sowohl Anhänger als auch Gegner des Vertrags mit dem Argument, daß Deutschland Europa dominieren würde, falls der Vertrag zustande käme bzw. abgelehnt würde. Und auch in Großbritannien wurden Befürchtungen hinsichtlich einer deutschen Dominanz ausgesprochen, die immer dann eskalierten, wenn das deutsch-französische Tandem europapolitische Pläne vortrug, so zuletzt bei der Präsentation des belgischen Kandidaten, Premierminister Dehaene, als Nachfolger von EU-Kommissionspräsident Delors.

Das Problem einer deutschen Dominanz in der Union existiert zweifellos in einigen Politikfeldern. Jedoch bietet gerade die Supranationalität eine Garantie gegen die Dominanz eines einzigen Staates. Die Kleinstaaten Belgien, Niederlande und Luxemburg haben diese Strategie nach dem Zweiten Weltkrieg mit großem Erfolg angewandt und erkannt, daß gerade ein supranationaler Zusammenschluß effektive Mitwirkungsmöglichkeiten bietet [Vgl. dazu Wichard Woyke , a.a.O. (Anm.9).] . Wie auch immer sich die EU entwickeln wird, das Problem einer potentiellen Dominanz Deutschlands ist mit einem in die Gemeinschaft integrierten Deutschland besser zu lösen als mit einem außerhalb des Integrationsprozesses befindlichen Deutschland. Innerhalb des Integrationsprozesses ist nur durch Vergemeinschaftung bestimmter Politkfelder die Dominanz eines Einzelstaates wiederum am besten zu vermeiden.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | März 1998

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