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Gilbert Ziebura:
Europäische Union und Gesellschaft




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Fragestellung

Um die Einigung Europas ist es nicht gut bestellt. „Von unten", aus der Sicht der Bevölkerung, scheint, nach den Auseinandersetzungen um den Vertrag von Maastricht, wieder Distanz und Desinteresse an Boden zu gewinnen. Eine Umfrage im Frühjahr 1994 hat ergeben, daß nur noch 54% die Mitgliedschaft in der EU als eine „gute Sache" ansehen gegen 71% im Frühjahr 1991 [Commission of the European Communities, Eurobarometer , Public Opinion in the European Commu nity, Nr. 41 (Juli 1994), S. 10.] . Von Mal zu Mal nimmt die Beteiligung an den Wahlen zum Europa-Parlament ab; im Juni 1994 waren es im EU-Durchschnitt nur noch 56%, abgesehen davon, daß Europa-Wahlen in allen EU-Mitgliedsländern nur als Test für bevorstehende nationale Wahlen gelten, ein Zeichen dafür, daß es so etwas wie eine europäische Öffentlichkeit als Ort transnationaler Willensbildung nicht gibt. Politisch-ideologische Diskurse und Herrschaftsverhältnisse formieren sich weiterhin im nationalen Rahmen. Auch in den skandinavischen Ländern (v.a. Finnland) scheinen die Anhänger eines Beitritts zur Union in die Defensive zu geraten.

Das Bild, das sich „von oben", aus der Sicht der nationalen Regierungen, bietet, ist nicht besser. Der Eindruck verschärft sich, daß die Kluft zwischen der wachsenden Fülle weltpolitischer, ökonomischer, sozialer und kultureller Herausforderungen und der Fähigkeit zu ihrer Bewältigung immer größer wird. Das Delors-Weißbuch „Wachstum, Wettbewerb und Beschäftigung", das, insbesondere im Infrastrukturbereich, konkrete Maßnahmen zur Überwindung der Rezession und zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit in der Union enthält, ist inzwischen im Gestrüpp national-staatlicher Beckmesserei und neoliberaler Marktgläubigkeit hängengeblieben. Überall dominiert die Vorstellung, daß eine einigermaßen gleichgerichtete Wirtschaftspolitik der Mitgliedsländer genügt, um aus dem herauszukommen, was als „konjunkturelle Talsohle" gilt. Das bedeutet aber, daß eine Anti-Krisenpolitik auf EU-Ebene nicht existiert, möglicherweise gar nicht existieren kann.

Die Klagen über die außen- und sicherheitspolitische Abwesenheit der EU sind zur Routine entnervter Leitartikler verkommen. Inzwischen bahnt sich, fast unbemerkt, die nächste, an die Wurzeln ihres Selbstverständnisses reichende Krise der Europäischen Union an. Nicht zufällig mehren sich gleichzeitig in Frankreich und Deutschland die Stimmen verantwortlicher Politiker, die plötzlich das fordern, was sie bislang mit dem Brustton der Überzeugung verdammt hatten: ein Europa (zweier oder mehrerer) „unterschiedlicher Geschwindigkeiten" [In Frankreich Europaminister Lamassoure ( Le Monde , 31. Mai 1994), Premierminister Balladur ( Le Figaro , 30. August 1994), Außenminister Juppé ( Le Monde , 6. September 1994); in Deutschland das Strategiepapier der CDU/CSU-Fraktion vom 1. September 1994 (Auszüge Frankfurter Allge meine Zeitung (Hrsg.) , 8. September 1994), ähnliche Position von Peter Glotz und Bundesbankprä sident Hans Tietmeyer , Europäische Währungsunion und Politische Union - das Modell mehrerer Geschwindigkei ten, in: Europa-Archiv , Nr. 16, S. 457-460. In Frankreich hat bereits eine intensive Debatte begonnen. Vgl. Pierre Maillot/Mario Télo (Hrsg.) , L'Europe à géométrie variable, Paris 1994; Mario Télo , L'Union européenne et les défits de l'élargissement, Brüssel 1994.] . Jetzt rächt sich, daß es seit dem Zusammenbruch des Sowjet-Kommunismus und dem Ende der Nachkriegsordnung keine große, öffentliche, kritische Debatte um die Finalität der europäischen Einigung in einer radikal gewandelten Welt gegeben hat. Maastricht, das auf Vertiefung, also auf Kontinuität des Einigungsprozesses im Rahmen der Zwölf setzte, hat sie verhindert. Inzwischen muß anerkannt werden, was unvoreingenommene Geister seit langem wissen: Daß Vertiefung und Erweiterung unvereinbar sind [Vgl. z.B. meine Auseinandersetzung mit Klaus Hänsch in: Friedrich-Ebert-Stiftung (Hrsg.) , Der Ver trag von Maastricht - Sprengsatz oder Treibsatz für die Einigung Europas? Die aktuelle Dis kussion im Dreieck London-Paris-Bonn, Reihe Gesprächskreis Europa Nr. 2, Bonn 1993.] . Andererseits naht die Regierungskonferenz, die 1996 zur Überprüfung des Maastricht-Vertrags angesetzt ist, mit großen Schritten. Um aus dem Dilemma herauszukommen, sprießen die Modelle, die die „Flexibilisierung" der europäischen Konstruktion anvisieren, wie Pilze aus dem Boden. Terminologie wie Inhalte bleiben im Vagen: „Europa der variablen Geometrie", „der konzentrischen Kreisel’, „Europa à la carte", Teilmitgliedschaft, „Europäischer Politischer Raum", alles Begriffe, die durchaus Unterschiedliches meinen [Vgl. Ulrich Fastenrath , Variable Geometrie, konzentrische Kreise, in: Frankfurter Allgemeine Zei tung , 5. September 1994.] . Aber vielleicht kommt jetzt jene große Debatte über die Zukunft Europas in Gang, die längst überfällig war und die nun sogar ein Leitartikel der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (8.9.1994) anmahnt. Der HERR heißt auch die Arbeiter der elften Stunde in seinem Weinberg willkommen!

Was bei alldem irritiert, ist nicht nur die Schnelligkeit und Radikalität des Sinneswandels, sondern die sich erneut manifestierende Unfähigkeit, die neuen Zielsetzungen zu Ende zu denken. Sie bedeuten zunächst den Abschied von dem seit der Montan-Union und den Römischen Verträgen gültigen Prinzip gleichgerichteter Entwicklung. Abweichungen galten als eng zu begrenzende Ausnahmen. Natürlich ist dieses Prinzip mit den Herausforderungen der Erweiterung, insbesondere in Richtung Osteuropa, nicht in Einklang zu bringen. Nun aber gerät man in die entgegengesetzte Gefahr. Wie sieht das Verhältnis Kerneuropa/Peripherie aus? Ist das unweigerlich eintretende Spannungsverhältnis von Exklusivität nach innen und notwendiger Öffnung nach außen beherrschbar? Impliziert die Exklusivität des Kerns nicht schon deshalb eine faktische Hegemonieposition, weil hier die Kriterien für die künftige Entwicklung definiert werden? Mit welchem Recht? Was muß getan werden, um eine Hierarchisierung der Macht- und Wohlstandsverhältnisse nicht zu zementieren, was gleichbedeutend mit einem Prozeß der Desintegration, ja der „Kernspaltung" (Genscher) wäre? „Das Tempo des Geleitzuges darf nicht vom langsamsten Schiff bestimmt werden", heißt es. Das klingt nur solange einleuchtend, wie man nicht erklärt, wie abgekoppelte Schiffe wieder den Anschluß finden.

In Wahrheit vermag niemand eine solche Erklärung vorzulegen. Sie wäre nur möglich, wenn endlich die gesellschaftliche Dimension des europäischen Einigungsprozesses schärfer ins Blickfeld geriete. In dieser Hinsicht haben aber sowohl wissenschaftliche Forschung wie politische Praxis ein geradezu verhängnisvolles Defizit aufzuweisen [Vgl. die Kritik von Hartmut Kaelble , Auf dem Weg zu einer europäischen Gesellschaft. Eine Sozialge schichte Westeuropas, 1880-1980, München 1987, S. 9f. Erste Ansätze: Isabel Alves-Duarte , Aus wirkungen der EG-Integration auf Struktur und Funktionsweise des fragmentierten Arbeitsmarktes in Portugal, Frankfurt a.M. usw. 1994.] . Die inzwischen unübersehbare Flut der Veröffentlichungen kreist im Grunde um zwei Aspekte: den ökonomisch-monetären der Marktintegration und weltwirtschaftlichen Wettbewerbsfähigkeit sowie den politischen der Entscheidungsfindung im Spannungsfeld von Verflechtung und nationalem Interesse, wobei die Politikfelder immanent, für sich betrachtet werden („Policy-Forschung"), nicht aber als Elemente einer übergreifenden Einheit. Wer ist dann imstande, das Puzzle zusammenzusetzen? Wir reden von zunehmender „Vernetzung" lokal-regionaler, nationaler und transnationaler Entscheidungsebenen, ja davon daß, etwa in der Regionalpolitik, neue, adäquate Politikformen entstehen [Vgl. z.B. Ingeborg Tömmel , Die Regionalpolitik der Europäischen Gemeinschaft und ihre Implementa tion in Italien, Baden-Baden i.E.; dies. , System-Entwicklung und Politikgestaltung in der Europäischen Gemeinschaft am Beispiel der Regionalpolitik, in: Michael Kreile (Hrsg.) , Die Integration Europas, Po litische Vierteljahresschrift-Sonderheft 23, Opladen 1992.] .

Alles das erscheint ziemlich abgehoben, fast wie im luftleeren Raum, bestenfalls als Sammelsurium von Funktionalitäten. Merkwürdigerweise scheint dieser Eindruck niemanden zu stören. Tatsächlich findet in Wissenschaft und Praxis der Einigungsprozeß ohne Gesellschaft statt. Bisweilen blitzt das Problem auf, wenn es etwa um die „Sozialcharta" oder den „sozialen Raum" geht. Was dabei herauskommt, ist symptomatisch: die Formulierung eines Minimums von sozialen Schutzrechten, praktisch eine Art starker Verdünnung nationalstaatlicher Arbeitsrechtsnormen, Errungenschaften des Sozialstaats auf niedrigstem Niveau. Selbst dagegen sperrt sich Großbritannien. Dahinter verbirgt sich aber ein fundamentales Problem gesellschaftlicher Machtstrukturen: das Verhältnis Kapital-Arbeit. Die Sozialcharta blendet es aus. Auf europäischer Ebene existiert es also nicht. Soweit reichen Verflechtung und Vernetzung nicht oder, besser, dürfen nicht reichen. Diese Domäne des Nationalstaats bleibt unangetastet, was nichts anderes heißt, als daß die sozialen Kosten des Einigungsprozesses, der natürlich Gewinner und Verlierer kennt, von ihm allein zu begleichen sind und ihm niemand dabei in die Quere zu kommen hat. Die Organisation der Arbeitsbeziehungen, ein entscheidender Bereich staatlich-gesellschaftlicher Regulation, bleibt ausschließlich in seiner Kompetenz. Umso nachdrücklicher muß die Frage gestellt werden: Gibt es einen Zusammenhang zwischen der aktuellen Form der Integration und dem Zerfall innergesellschaftlicher Kohäsion („Zwei-Drittel-Gesellschaft"), wie er in allen westeuropäischen Ländern unübersehbar ist?

Was aber bedeutet diese Frage für die gesellschaftlichen Grundlagen des Einigungsprozesses, nun nicht nur aus west-, vielmehr aus gesamteuropäischer Perspektive? Sollte dieser Prozeß tatsächlich zur Zersetzung der sozialen Kohäsion beitragen, dann wird seine Legitimität, früher oder später, gewaltigen Schaden nehmen. Alle institutionellen Probleme, auf die sich die Aufmerksamkeit wieder einmal zuzuspitzen scheint, müssen dem gegenüber verblassen. Weitere Fragen drängen sich auf. Welche gesellschaftlichen Folgen hat die Marktintegration? Was bedeuten die Intensivierung der Austauschbeziehungen und die (zweifellos asymmetrische) Mobilität der Produktionsfaktoren für den unerläßlichen Zusammenhalt der Gesellschaften? Grundsätzlicher: Gibt es eine Tendenz zur Annäherung, Angleichung, ja Homogenisierung westeuropäischer Gesellschaften? Bildet sich, wie vermutet wird [So Bernd Röttger , Akkumulation und Regulation in der EG-metropolitanen Integration. Zur Dia lektik von Vereinheitlichung und Fraktionierung in Europa, Institut für Internationale Politik, Ar beitspapier 022, Berlin 1993.] , so etwas wie ein EU-metropolitanes Wachstumsmodell heraus, was dann, zumindest langfristig, die Entstehung einer westeuropäischen Gesellschaftsformation [Zu diesem Begriff vgl. Gilbert Ziebura , Frankreich 1789-1870. Entstehung einer bürgerlichen Gesell schaftsformation, Frankfurt a.M./New York 1979, Einleitung.] , zunächst auf einen Kern beschränkt, bedeuten würde? Wie ist unter diesen Bedingungen eine Erweiterung vornehmlich nach Osten möglich? Ist gesellschaftliche Integration mit sozioökonomischer und kultureller Öffnung ohne weiteres vereinbar? oder fördert sie, vor allem in Umbruchzeiten, eine Festungsmentalität, nicht nur angesichts der Wanderungsbewegungen? oder entwickeln sich in Westeuropa „postnationale Gesellschaften" (P. Glotz), was immer das bedeuten mag? Wenn es diesen Angleichungsprozeß gibt, wie verläuft er? Linear-kontinuierlich oder dialektisch über Krisen und Konflikte? Warum ist der Agrarsektor politisch am weitesten integriert, obwohl gerade er durch besonders gravierende Unterschiede von Land zu Land gekennzeichnet ist?

Oder haben, im Gegensatz dazu, Kräfte gesellschaftlicher Desintegration bereits Oberhand gewonnen, wie angedeutet? Dann stoßen wir auf den merkwürdigen Umstand, daß es in allen Mitgliedsländern eine Konvergenz der Krisenphänomene gibt: strukturelle Arbeitslosigkeit, Krise der Arbeitsgesellschaft, Finanzkrise der sozialen Sicherungssysteme, massive öffentliche Verschuldung, Zunahme der sozialen und regionalen Disparitäten, unbewältigte Vereinbarung ökonomischer und ökologischer Herausforderungen, Legitimationsdefizite der politischen Systeme, Unreformierbarkeit längst dysfunktionaler Bildungssysteme, moralisch-geistig-kulturelle Krise der Wohlstandsgesellschaften, soziale Probleme der Großstädte, Probleme mediatisierter Informations- und Dienstleistungsgesellschaften, Verallgemeinerung der Korruption usw. Abgesehen von Großbritannien gibt es sogar einen Gleichklang konjunktureller Zyklen: Alle EU-Mitgliedsländer scheinen, wenn auch mühsam, die Rezession zu überwinden, aber jedes für sich. Liegt es daran, daß ein grundlegender Widerspruch zwischen ökonomischer und sozialer Verflechtung besteht? Schließt die erstere vielleicht sogar die zweite aus [Über die Gefahr einer zunehmenden Frontstellung Ökonomie-Gesellschaft als Folge neoliberaler Politik gibt es inzwischen, insbesondere in Frankreich, eine intensive wissenschaftliche Diskussion, die von der Öffentlichkeit kaum zur Kenntnis genommen wurde, sieht man vom Phänomen der "Neuen Armut" ab. Vgl. insbesondere Bernard Perret/Guy Roustang , L'Économie contre la société. Affronter la crise de l'intégration sociale et culturelle, Paris 1993; ähnlich Oswald von Nell-Breuning-Institut für Wirt schafts- und Gesellschaftsethik (Hrsg.) , Solidarität am Standort Deutschland, Frankfurt a.M. 1994.] ? Und wenn der Eindruck zutrifft, daß sich die westeuropäischen Gesellschaften in einer Krise befinden, wie sollen sie dann, auf einer so ungewissen Grundlage, die Erweiterung in Richtung Mittel- und Osteuropa bewältigen?

Damit nicht genug. Die Dialektik von Vereinheitlichung und Fraktionierung erhält eine weitere spezifische und zugleich widersprüchliche Dimension in der Triade USA-Japan-EU" [Vgl. Michael Bonder/Bernd Röttger/Gilbert Ziebura , Deutschland in einer neuen Weltära. Unbe wältigte Herausforderungen, Opladen 1992; dies. , Vereinheitlichung und Fraktionierung in der Weltgesellschaft. Kritik des globalen Institutionalismus, in: Prokla 91 , Juni 1993, S. 327-341; Bernd Röttger (Anm. 7); Josef Esser , Technologieentwicklung in der Triade. Folgen für die euro päische Technologiegemein schaft, in: Werner Süß/Gerhard Becher (Hrsg.) , Politik und Technolo gieentwicklung in Europa. Analy sen ökonomisch-technischer und politischer Vermittlungen im Prozeß der europäischen Integration, Berlin 1993; ders. , Die Suche nach dem Primat der Politik, in: Siegfried Unseld (Hrsg.) , Politik ohne Projekt? Frankfurt a.M. 1993.] . Die Europäische Union ist entweder als Ganzes (GATT-Verhandlungen) oder in Gestalt ihrer Multinationalen Konzerne voll in den Transnationalisierungsprozeß des Weltkapitalismus eingebunden und damit integraler Bestandteil eines globalen Vergesellschaftungszusammenhangs, dem sich kein Mitgliedsland entziehen kann. Welche Interaktionen sich hier vollziehen und was sie für den west- bzw. gesamteuropäischen Einigungsprozeß bedeuten, ist weitgehend unbekannt oder wird verdrängt. Die oft von der Politik verbreitete, auf Beruhigung der Gemüter abzielende Behauptung, daß Globalisierung, Regionalisierung und Renationalisierung letztlich einander befruchtende, harmonische Prozesse darstellen, gehört zu den vielen Illusionen, für die, wie immer, teuer bezahlt werden muß.

Im folgenden kann nur der Versuch unternommen werden, angesichts des miserablen Forschungsstandes einige der hier aufgeworfenen Fragenkomplexe in Form einer Problemskizze zu behandeln.

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Tendenzen gesellschaftlicher Vereinheitlichung



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Historische Dimension

Schon hier beginnen die Schwierigkeiten. In einer der wenigen Langzeituntersuchungen kommt der Sozialhistoriker Hartmut Kaelble zu dem Ergebnis, daß sich die westeuropäischen Gesellschaften nicht nur klar von den Gesellschaften in den USA wie in Südostasien unterscheiden, sondern daß im Laufe des 20.Jahrhunderts in Westeuropa eine weitgehende soziale Integration stattgefunden habe, die nur nicht gebührend zur Kenntnis genommen worden sei [Hartmut Kaelble (Anm. 5); reiches statistisches Material auch bei P. Flora , State, Economy and Society in Western Europe, 1815-1975, Frankfurt a.M. 1983ff.] . Aber der zweite Teil dieser Aussage überzeugt schon aus methodischen Gründen nicht. Kaelble kommt dazu, indem er die gesellschaftliche Entwicklung in einer Reihe europäischer Länder an neun, sicherlich aussagekräftigen, aber ohne nähere Begründung ausgewählten und letztlich, mangels einer übergreifenden Gesellschaftstheorie, voneinander isolierten Indikatoren (Entwicklung der Familie, der Beschäftigung, der Großunternehmen, der sozialen Mobilität, der Bildungssysteme, der sozialen Ungleichheit, der Stadt, des Wohlfahrtsstaates und der Arbeitskonflikte) mißt. Die ausgewerteten statistischen Daten ergeben in der Tat das Bild zumindest tendenzieller Annäherung nationaler Entwicklungen in Westeuropa in den untersuchten Segmenten. Vor allem seit dem Zweiten Weltkrieg, lautet dann auch die Schlußfolgerung, bildete sich ein spezifisch westeuropäisches „soziales Modell" heraus, das sich klar gegenüber den USA und Japan abgrenzt und belegt, daß es einen eigenständigen westeuropäischen Weg gesellschaftlicher Entwicklung gegeben hat.

Die Verfechter der These vom Kerneuropa könnten in einer zweiten Untersuchung Kaelbles, in der er die Entwicklung der französischen und deutschen Gesellschaft seit 1880 vergleicht [Hartmut Kaelble , Nachbarn am Rhein. Entfremdung und Annäherung der französischen und deut schen Gesellschaft seit 1880, München 1991.] , eine Menge Argumente finden. Zunächst beschreibt er, wieder mit Hilfe seiner Indikatoren-Methode, die Gräben, die beide Gesellschaften um die Jahrhundertwende trennten (Unterschiede in der Industrialisierung, der Familienstruktur, des Bürgertums, der Arbeitskonflikte und Staatsintervention). Heute aber habe sich die Situation radikal verändert: „Niemals im zwanzigsten Jahrhundert waren sich die beiden Gesellschaften so nahe wie in der Gegenwart; niemals hatten sie so viel gemeinsam; niemals waren beide Gesellschaften so stark miteinander verflochten" (S. 231), auch wenn es keine völlige Angleichung gegeben habe. Worauf es Kaelble ankommt, sind aber die Annäherungen, weil sie paradigmatisch für allgemeine westeuropäische Entwicklungen stehen würden.

Aber die Einwände drängen sich auf. Zum einen führt die (willkürliche) Zerlegung von Gesellschaften in Teilstücke dazu, daß auch konstatierte Parallelitäten nichts über den Zusammenhang von Politik, Ökonomie und Ideologie, also nichts über Dynamik und Charakter von Gesellschaften aussagen. Die treibenden Kräfte, die sie zusammenhalten, aber auch Veränderung bewirken, bleiben unsichtbar [Mit seiner Methode ist es Kaelble sogar möglich, die Gesellschaften der DDR und Frankreichs mitein ander zu vergleichen. So sein Beitrag in: Hartmut Kaelble/Jürgen Kocka/Hartmut Zwar (Hrsg.) , Sozi algeschichte der DDR, Stuttgart 1994.] . Ein für gesellschaftliche Machtstrukturen zentrales Faktum wie die Stellung in der internationalen Arbeitsteilung kommt nicht vor. Gerade in dieser Hinsicht unterscheiden sich Frankreich und Deutschland trotz gewisser Annäherungen bis auf den heutigen Tag, wie die Positionen in der Uruguay-Runde der GATT-Verhandlungen gezeigt haben. Zum anderen hat die konstatierte Konvergenz nichts mit „sozialer Integration" zu tun, die nur das Ergebnis einer supranationalen Form des Verhältnisses von Akkumulation (Wachstum) und Regulation (staatlicher Steuerung), also einer supranationalen Herrschaftsstruktur sein kann. Die in der Geschichte des Einigungsprozesses entstehende, im übrigen sehr fragile „Vernetzung" von Politikbereichen („Politikverflechtung") kann alles mögliche bewirken, nur nicht soziale Integration.

Was in den Untersuchungen Kaelbles unter den Tisch fällt, ist die einfache, aber folgenschwere Tatsache, daß dieser spezifisch westeuropäische Entwicklungsweg in (aus vielen, besonders historischen Gründen) bisweilen stark voneinander divergierenden nationalstaatlichen Varianten stattgefunden hat. Das gilt in hohem Maße von den jeweiligen Formen sozialer Integration, die nicht zuletzt eine (gewollte) Folge nationalistischer Indoktrination gewesen ist.

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Ursachen gesellschaftlicher Angleichung in Westeuropa

Zwei Ursachenkomplexe müssen unterschieden werden. Der eine betrifft den Strukturwandel, den alle, auch außereuropäische hochentwickelte Industriegesellschaften durchgemacht haben und weiterhin durchmachen (veränderter Beitrag der drei Wirtschaftssektoren zum BSP; Folgen der dritten technologischen Revolution: Tertiarisierung, Tendenzen der Individualisierung usw. ). Der andere hat damit zu tun, daß sich nach dem Zweiten Weltkrieg unter der Ägide der Pax Americana, begünstigt durch eine lange weltwirtschaftliche Boomphase (die „dreißig goldenen Jahre"), ein hegemonialer Akkumulationstyp in Gestalt der fordistischen Produktionsweise durchsetzte (Massenproduktion und -konsum bei vergleichsweise hohen Löhnen; Kopplung von Produktivität und Lohn usw.), eine Art atlantisches Zivilisationsmodell, von dem massive, durchgreifende Tendenzen gesellschaftlicher Vereinheitlichung ausgingen. Die Formen der Regulation, wie sie sich im keynesianischen Wohlfahrtsstaat manifestierten, wiesen aber, z.T. gravierende, nationale Unterschiede auf, nicht nur zwischen den USA und Westeuropa, sondern auch zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft [Zu den historischen Gründen vgl. Gerhard A. Ritter , Der Sozialstaat. Entstehung und Entwicklung im internationalen Vergleich, München 1989.] . Entscheidend aber war, daß ökonomische Entwicklung und staatliche Steuerung in einem, wie immer gearteten, Wechselverhältnis zueinander standen. Die Vereinheitlichungsdynamik wurde als so stark empfunden, daß Anfang der 70er Jahre zum ersten Mal das Projekt einer europäischen Wirtschafts- und Währungsunion formuliert werden konnte („Werner-Plan"). Tatsächlich waren damals die gesellschaftlichen Voraussetzungen für den Erfolg besser als 1991/92 mit dem Vertrag von Maastricht.

Die Weltwirtschaftskrise 1974/75 brachte nicht nur dieses Projekt zu Fall, sondern unterbrach den Prozeß gesellschaftlicher Annäherung. Da sie sich unterschiedlich auf die nationalen Gesellschaften (trotz mancher Ähnlichkeiten, z.B. die um sich greifende „Stagflation") auswirkte, wurden folgerichtig primär nationale Antikrisenpolitiken verfolgt. Wichtiger war, daß sich das keynesianisch-fordistische Wachstumsmodell nicht als überlebensfähig erwies und damit den dominanten gesellschaftlichen Bündnissen (oft unter Führung der Sozialdemokratie) den Boden entzog.

Damit schlug die Stunde derjenigen gesellschaftlichen Kräfte, die, nach langer intellektueller Vorbereitung [Vgl. Richard Cockett , Thinking the Unthinkable. Think-Tanks and the Economic Counter-Revolu tion, London 1994; aus der umfangreichen Literatur vgl. Andrew Adonis/Tim Hames (Hrsg.) , A Conservative Revolution? The Thatcher-Reagan decade in perspective, Oxford 1994.] nun versuchten, ab Ende der 70er, Anfang der 80er Jahre, begünstigt durch die zweite Welle der Weltwirtschaftskrise, ihre neoliberal-konservative, angebotsorientierte, monetaristische Alternative in die Tat umzusetzen. Die gesellschaftlichen Auswirkungen dieser Politik sind ein Paradebeispiel für die Dialektik von Vereinheitlichung und Fraktionierung. Indem sie sich, von Großbritannien und den USA ausgehend, wie ein Ölfleck in den kapitalistischen Industrieländern ausbreitete und einen einschneidenden sozioökonomischen Paradigmenwechsel verursachte, bewirkte sie einen neuen Vereinheitlichungsschub, nachdem der vorangegangene sich sichtbar erschöpft hatte, gewissermaßen implodiert war. Daraus erklärt sich, daß der damit verbundene gesellschaftliche Machtwechsel, der keineswegs, wie das Beispiel Frankreich lehrt, mit einem politischen Machtwechsel verbunden sein mußte, ohne Widerstand über die Bühne ging. Kein Wunder, wenn das Wort von den „contraintes extérieures" in Frankreich geprägt wurde. Der, wie man meinte, „erzwungene" Richtungswechsel 1982/83 wirkte wie ein Schock, der nie überwunden wurde und das langsame Ende der Sozialistischen Partei eingeläutet hat. In einem bemerkenswert freimütigen und persönlich gehaltenen Interview Mitterrands findet sich ein spätes Echo, wenn er sagt: „Der Wirtschaftsaufschwung kommt von außen, wie auch die Krise von außen kam. Das ist ein Faktum, das nicht von der Politik der französischen Regierung abhängt, aber je nachdem, was diese tut, wird Frankreich mehr oder weniger davon profitieren" [Le Figaro , 8.9.1994; zit. nach Frankfurter Allgemeine Zeitung , 9. September 1994.] . Im Klartext: Frankreich kann nur reagieren; hoffentlich geschieht es auf intelligente Weise, um möglichst viel für das Land herauszuschlagen.

Zwar weniger brutal als in Großbritannien und den USA, begann auch auf dem westeuropäischen Kontinent unter den Stichworten Stabilität der Währung, Deregulierung und Flexibilisierung der Arbeit ein Prozeß gesellschaftlicher Transformation, v.a. des fordistischen Lohnverhältnisses, mit dem Ziel einer Anpassung an die Verschärfung globaler Wettbewerbsbedingungen. Die Ähnlichkeiten überwogen bei weitem die nationalen Besonderheiten [Siehe die vergleichenden Studien (Frankreich, Großbritannien, Belgien, Irland, Spanien, Italien, Deutschland) in: Robert Boyer (Hrsg.) , La flexibilité du travail en Europe. Une étude comparative des transformations du rapport salarial dans sept pays de 1973 à 1985, Paris 1986.] . Überall ging es um Steigerung der Produktivität durch Kapitaleinsatz und Abbau der Lohnkosten, also um eine Entkopplung des fordistischen Dreiklangs von Wachstum, Produktivität und Reallohn. „Befreiung der Marktkräfte", also Kampf gegen die „Rigiditäten" des fordistisch-keynesianischen Modells sind wichtiger als soziale Integration. Worum es geht, ist eine, je nach Land mehr oder weniger radikale, Veränderung des Verhältnisses von Akkumulation (Markt) und Regulation (Staat) mit dem Ziel einer Vorherrschaft der ersteren über die zweite. Alle wollen „Flexibilität", nur die Formen unterscheiden sich.

Das aber bedeutet zwangsläufig eine Instrumentalisierung der Gesellschaft, des „Humankapitals" (Arbeitszeit, Qualifikationsniveau, Mobilität, „Rationalisierung" bestimmter Elemente des Systems sozialer Sicherung, Regression des Arbeitsrechts, Schwächung der Gewerkschaften usw.) für die Belange derjenigen Kapitalkräfte, die, aufgrund ihrer Wettbewerbsfähigkeit auf den Weltmärkten, den Kern eines neuen Wachstumsmodells bilden, das die nationalen Grenzen sprengt. Nicht die Ökonomie dient der Gesellschaft; umgekehrt wird ein Schuh daraus. Nicht um die Reform gesellschaftlicher Verhältnisse geht es, sondern um den Primat der Umstrukturierung und Anpassung der Ökonomie im entsprechenden institutionellen Gewand. Daraus entsteht eine ungeheure, weil ungebremste Dynamik der Vereinheitlichung, die aber, wie zu zeigen ist, mit hohen sozialen Kosten bezahlt werden muß. Sie ist ja nicht automatisch, wie manche glauben, mit einem Minimum an makroökonomischer Stabilität und sozialer Solidarität zu vereinbaren. Vor allem aber führt sie zu einer gravierenden Einschränkung der Politikfähigkeit, wie Mitterrand am Ende seiner politischen Karriere (keineswegs allein) inzwischen offen, wenn auch frustriert, zugibt. Ausblendung der Gesellschaft bedeutet immer Politikverlust, Politik im luftleeren Raum.

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Im Sog der Globalisierung

Es verwundert nicht, wenn diese (nur kurz skizzierte) Entwicklung seit Mitte der 80er Jahre von der Europäischen Gemeinschaft massiv gefördert wurde. Sowohl die Vollendung des Binnenmarktes wie der Vertrag von Maastricht standen unter dem Primat der Ökonomie im neoliberalen Verständnis [So z.B. Otto G. Mayer/Hans-Eckart Scharrer/Hans-Jürgen Schmahl (Hrsg.) , Der Europäische Bin nenmarkt. Perspektiven und Probleme, Hamburg 1989 (Veröffentlichung des HWWA).] . Die Transformation im nationalen Rahmen erhielt eine supranationale Dimension, die den wirtschaftspolitischen Gleichschritt verstärkte und praktisch alternativlos machte. Man erwartete zwar Wohlstandsgewinne; aber niemand wußte genau für wen, nimmt man die Multinationalen Konzerne aus. Der Optimismus des Cecchini-Berichts jedenfalls erwies sich schnell als unbegründet. Entscheidend war die Stärkung des Wettbewerbs nach innen und außen, um den Anschluß in der Triade nicht zu verpassen. Nicht die sozialen und ökologischen Binnenwirkungen waren ausschlaggebend, sondern die Einbindung in den Triadisierungsprozeß im Zentrum der Weltwirtschaft. Voraussetzung war die Intensivierung der Austauschbeziehungen innerhalb der Gemeinschaft mit Hilfe einer Liberalisierung, die auf eine stärkere Mobilität der Produktionsfaktoren abzielte. Auf diese Weise glaubte man, zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen: den Fortgang der europäischen Einigung und die Eingliederung in den Regionalisierungstrend der Weltwirtschaft (neben der nordamerikanischen Freihandelszone und dem südostasiatischen Wirtschaftsraum) [Vgl. Charles Oman , Globalisation and Regionalisation: The Challenge for Developing Countries, OECD, 1994 Paris, bes. Kap. 3.] .

Diese Kombination von Binnen- und Weltmarktstrategie wirft freilich die Frage auf, was, zumindest langfristig, von dem vielbeschworenen spezifisch westeuropäischen „sozialen Modell" als Kern eines eigenständigen Entwicklungsweges übrig bleibt. Geht es im Sog der Globalisierung unter? Ist der europäische Einigungsprozeß nur noch Teil einer Verflechtung und damit Vereinheitlichung, die sich innerhalb der Triade abspielt und damit die Möglichkeit einer demokratisch fundierten Selbstbestimmung auf ein Minimum reduziert? Hier liegt das grundsätzliche, existentielle Zukunftsproblem, nicht in institutionellen Reformen oder Reißbrettkonstruktionen à la Kerneuropa.

Zunächst darf man die Augen vor der Tatsache nicht verschließen, daß die Dynamik der Transnationalisierung im Zentrum der Weltökonomie seit Anfang der 80er Jahre, nicht zuletzt als Antwort auf die zweite Welle der Weltwirtschaftskrise 1979/82 und die Innovationen im Bereich der Informationstechnologien, eine neue Qualität erhalten hat. Die Fakten sind zur Genüge bekannt, um sich ein Bild zu machen [Neben den Arbeiten in Anm. 10 vgl. aus der Fülle der Untersuchungen die materialreichen, jährli chen Veröffentlichungen des United Nations Center on Transnational Corporations (UNCTC) , v.a. World Investment Report 1991: The Triad in Foreign Direct Investment, New York 1991; die ebenfalls jährli chen Veröffentlichungen der UNCTAD , v.a. World Investment Report 1993. Trans national Corporations and Integrated International Production, New York, Genf 1993; die Veröf fentlichungen der OECD , v.a. International Direct Investment Statistics Yearbook 1993, Paris 1993 und Internationale Direktinvesti tionen. Politik und Trends der 80er Jahre, Paris 1992; über die In ternationalisierung der Finanzmärkte vgl. z.B. Michael G. Papaioannou/Lawrence Duke , L'internationalisation des marchés boursiers émergents, in: Finances et développement , September 1993; leicht zugängliches Material in: Stiftung Entwicklung und Frieden (Hrsg.) , Globale Trends 93/94. Daten zur Weltentwicklung, Frankfurt a.M. 1993.] . Zahl und Anteil an der Weltproduktion wie am Welthandel der Hauptakteure dieses Prozesses, der Multinationalen Konzerne (MNK), nahmen in dieser Dekade sprunghaft zu, naturgemäß ebenso bes. zwischen 1984/85 und 1990) die von ihnen getätigten Direktinvestitionen, die sich (zunächst) im wesentlichen in der Triade konzentrierten und eine weitere Etappe auf dem Weg zur weltweit integrierten, zugleich aber dezentralisierten Produktion ermöglichten. Strategische Allianzen, Aufkäufe usw. bewirkten einen regelrechten Trend zur Oligopolisierung und damit eine Vertiefung der Intra-Branchen-Spezialisierung. Die Verschärfung der weltweiten Konkurrenz, v.a. im Bereich der neuen Technologien, setzen die Unternehmen unter einen bislang nicht erlebten Anpassungsdruck. In allen Ländern der Triade stieg der Anteil des Exports an der Gesamtproduktion und führte zu einer wachsenden Penetration der Binnenmärkte (sogar, wenn auch vergleichsweise beschränkt, in Japan). In allen westeuropäischen Ökonomien nahm der Grad der Extroversion zu, was einen Gleichklang von Rezession und konjunkturellem Aufschwung, trotz leichter zeitlicher Phasenverschiebung, mit sich brachte. Alles das zeigt, in welchem Maße die gegenseitige Verflechtung im Zentrum der Weltökonomie zugenommen hat.

Natürlich muß ein solcher Vorgang die Tendenzen gesellschaftlicher Vereinheitlichung in der Triade verstärken, von der Transnationalisierung des Konzern-Managements bis hin zur Übertragung bestimmter Elemente aus einer Gesellschaft in die andere. Berühmtestes Beispiel in der Automobilindustrie ist die Strategie japanischer MNK’S, auch in Tochterunternehmen in den USA oder in Westeuropa (besonders in Großbritannien), heimische Produktionsmethoden mitsamt der Organisation innerbetrieblicher Arbeitsbeziehungen („Toyotismus", „lean production") zu praktizieren [Allerdings scheint es dabei, besonders in Großbritannien, zunehmend Konflikte zu geben. Vgl. den Be richt über eine Studie der Universität Cambridge in: Frankfurter Allgemeine Zeitung , 24. August 1994.] . Clinton’s Gesundheitsreform ist vom westeuropäischen Sozialstaat inspiriert. Das westdeutsche System der dualen Berufsausbildung findet in den USA, Frankreich und Großbritannien Nachahmung, obwohl es inzwischen daheim in einer Krise steckt. In Europa erscheint der Grad an Flexibilität und Mobilität, den die Arbeitskraft in den USA aufweist, manchem als vorbildlich. Die Amerikaner selber aber kritisieren, daß auf diese Weise die Zahl unsicherer und schlecht bezahlter Arbeitsplätze wächst und damit sogar die Wettbewerbsfähigkeit vermindert wird. Folglich sollten die Amerikaner bei den Europäern in die Schule gehen [So die Schlußfolgerung einer gründlichen vergleichenden Veröffentlichung aus berufener Feder: Richard B. Freeman (Hrsg.) , Working under Different Rules, National Bureau of Economic Rese arch, New York 1994; dazu Eric Izraelewicz , in: Le Monde , 13. September 1994.] . Ein optimales Modell für die Organisation des Arbeitsmarktes in der Triade scheint es nicht zu geben. Kulturelle Leitbilder und Konsummuster werden, meistens von den USA ausgehend, über ein globalisiertes Mediennetz (mit dem neuen Höhepunkt der „Daten-Autobahn") universalisiert. Diese Beispiele gesellschaftlicher Interpenetration, die freilich (noch) nicht den Kern des amerikanischen, europäischen oder japanischen Wachstummodells berühren, ließen sich beliebig verlängern.

Hier liegt ein Grund, warum die Gefahr wächst, daß das „europäische Gesellschaftsmodell" an spezifischer Substanz verliert. Er wird durch die allgemein vorherrschende Vorstellung untermauert, daß die Europäische Union die Modernisierungslogik innerhalb der Triade gerade im Bereich der Hochtechnologien voll übernehmen muß, wenn sie „mithalten" und nicht schwere Wohlstandsverluste hinnehmen will [Vgl. z.B. besonders dezidiert Konrad Seitz , Die japanisch-amerikanische Herausforderung. Deutsch lands Hochtechnologieindustrien kämpfen ums Überleben, München 1990.] . Da sich die ökonomische Transnationalisierung mangels politischer Steuerung wildwüchsig vollzieht, produziert sie wachsende soziale und regionale Brüche, Polarisierungen, Disparitäten und damit Prozesse der Desintegration, die diese Erscheinungen in Europa als Folge neoliberaler Politik und mangelhafter Regulation zusätzlich verstärken. Das ist der zweite Grund für die Bedrohung eines originären europäischen Entwicklungspfades. Auch wenn es eine Konvergenz vergleichbarer Krisenphänomene in den Mitgliedsländern, von der oben die Rede war, gibt, spielt sie sich doch im Korsett nationaler Grenzen ab und offenbart damit, daß so etwas wie eine supranationale Vergesellschaftung kaum in Ansätzen existiert.

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Tendenzen gesellschaftlicher Fraktionierung



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Folgen der Globalisierung

Die Frage, wie sich die Globalisierung ökonomischer Prozesse auf die gesellschaftlichen Verhältnisse in den Mitgliedsländern der EU auswirkt, läßt sich, mangels einschlägiger empirischer Untersuchungen, kaum beantworten. Dennoch kommt, etwa über die Entwicklung des Welthandelssystems, eine kritische Reflexion in Gang. In der Endphase der GATT-Verhandlungen („Uruguay-Runde") wurden zwei Problemkomplexe z.T. heftig debattiert. Die von den USA geforderte Liberalisierung des Austausches kultureller Güter stieß auf den Widerstand Frankreichs, das eine Bedrohung seiner eigenen Kulturindustrie und kulturellen Werte befürchtete. Es ging also um die (nicht neue) Frage, wie die faktische Dominanz der USA in einer bestimmten Branche wenigstens etwas abgemildert werden könnte.

Dahinter steht das grundsätzliche Problem der durch die Hierarchisierung des Welthandelssystems verursachten außerordentlich ungleichen und damit ungerechten Verteilung des Austauschs und seiner Wohlstandseffekte, die durch Liberalisierung und Globalisierung noch verstärkt wird und entscheidend dazu beiträgt, die Kluft zwischen Reich und Arm in der Weltgesellschaft, zwischen Nord und Süd, aber auch innerhalb der (entwickelten wie unterentwickelten) Regionen und nationalen Gesellschaften zu vertiefen. Diese sich verfestigende Spaltung zwischen am Modernisierungsprozeß Beteiligten und Ausgeschlossenen kennzeichnet sowohl die globale wie die regionale und nationale Ebene des Weltsystems: Vereinheitlichung produziert Fraktionierung.

In den Worten des Bischofs Franz Kamphaus: „Die strukturelle Arbeitslosigkeit hierzulande und die Ungerechtigkeiten auf dem Weltmarkt, die Verelendung einzelner Stadtteile bei uns und das Absinken ganzer Erdteile in wirtschaftliche Bedeutungslosigkeit und Verarmung, nicht zuletzt die Zerstörung des ökologischen Gleichgewichts stellen Herausforderungen dar, die nur mit einem hohen Maß an belastbarer Solidarität zu bestehen sind." Das Drama aber bestehe darin, daß diese Solidarität von den tradierten sozialen Sicherungssystemen nicht mehr gewährleistet wird, weil sie als Folge „des technischen und gesellschaftlichen Modernisierungsschubs der letzten Jahrzehnte" bereits überfordert worden sind [Franz Kamphaus , Lebt sich der Mensch am Ende selber aus? In: Frankfurter Allgemeine Zeitung , 4. Juni 1994.] .

Ist daraus die Schlußfolgerung zu ziehen, daß, im Gegensatz zum neoliberalen Diskurs, ein unkontrollierter, von zügellosem transnationalen Wettbewerb beherrschter Welthandel die soziale Kohäsion und damit die Demokratie in der EU bedroht? [Vgl. besonders zugespitzt Hans-Peter Martin/Harald Schumann , "Alle Hemmungen beseitigt", in: Der Spiegel, 20. Dezember 1993. Auch in den USA gibt es eine kritische Debatte, vgl. Paul Krugman , Competitiveness: A Dangerous Obsession, in: Foreign Affairs , März/April 1994 und die Antwort von Jon Schaffer , Competitiveness policy: the emperor's new clothes, in: Washington Economic Reports , Nr. 77, 23. März 1994.] . Zwar sind die Auswirkungen der „Delokalisierungen", die dieser Wettbewerb verlangt, auf die Arbeitslosigkeit umstritten [Eher positive Einschätzungen z.B. M. Lauré , Les délocalisations: enjeux et stratégies des pays développés, in: Futuribles , Mai 1993; Dominique de Laubier , Une décennie d'expansion des investisse ments, in: Economie internationale (CEPII) , 4. Trimester 1993. Eher kritisch: der Ribicoff-Bericht des US-Senats; J. Arthuis , Les délocalisations contre l'emploi, in: Futuribles , November 1993; Arthuis ist auch Verfasser eines Berichts des französischen Senats. In der ein schlägigen deutschen Literatur über wiegen die positiven Einschätzungen.] . Dennoch ist die Frage legitim: „Welchen Sinn hat der endlose Effizienz-Wettlauf zwischen den konkurrierenden Firmen, wenn die damit verbundenen flexiblen Formen der Produktion mehr Arbeit überflüssig machen, als durch neue Märkte und Produkte geschaffen werden kann?" Was bedeutet die Errichtung des EU-Binnenmarktes, wenn er die Arbeitslosigkeit nicht verringert und den beteiligten Nationalstaaten die Kontrolle über die Wirtschaft entzieht? „Wieviel freien Weltmarkt halten Demokratie und Frieden in Europa aus?" Sollte man nicht über einen „"Mittelweg zwischen ängstlicher Abschottung und blindem Marktvertrauen" nachdenken, wozu auch gehört, wie man „"im weltweiten Wettbewerb Umwelt- und Sozialstandards durchsetzt? [Zitate aus: Hans-Peter Martin/Harald Schumann (Anm. 25).] " Und das, ohne die armen Länder zu strangulieren: ein Teufelskreis! Stoßen wir hier nicht auf eine Grundfrage der Osterweiterung, die gern unter den Teppich gekehrt wird? Stattdessen zielt die Industriepolitik der Kommission darauf ab, die europäischen MNK’s in ihrem Bemühen um Strategische Allianzen in der Triade zu unterstützen [Vgl. den Bericht in Frankfurter Allgemeine Zeitung , 15. September 1994.] ". Entwickelt sie sich zu einer Scharnier-Instanz zwischen Binnen- und Weltmarkt? Muß eine solche Politik nicht zu einer zwangsläufigen Abkopplung Osteuropas führen?

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Zerfall der sozialen Kohäsion

Alles das führt auf einen entscheidenden Zusammenhang zurück: Die Dominanz des Kapitals über die Arbeit, die schon die neoliberale Politik verstärkt hat, erhält nun eine neue transnationale Dimension und kann sich damit weiter verfestigen. Auf diese Weise haben sich die gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse einschneidend verändert. In den Kernländern der Europäischen Union (mit Deutschland an der Spitze) war es eine neoliberale Modernisierungskoalition aus Industrie- und Geldkapital, Staat, Wissenschaft, gewerkschaftlicher Vertretung der Kernbelegschaften in MNK’s (IG-Chemie z.B.) sowie den Spitzenbranchen im Dienstleistungssektor, die die Doppelstrategie eines neuen Integrationsschubes und einer Öffnung zum Weltmarkt vorangetrieben hat [Vgl. im einzelnen Otto Holman , Transnational Class Strategy and the New Europe, in: International Journal of Political Economy , Frühjahr 1992; Hans-Jürgen Bieling/Frank Deppe , Der Beitrag der "Regulationstheorie" zur Integrationsforschung, DVPW-Kongreß, Potsdam 1994.] . Damit verschärfte sich in allen westeuropäischen Ländern die Spaltung der Gesellschaft in Modernisierungsgewinner und -verlierer.

Das Ergebnis ist bekannt [Vgl. zum folgenden Anne-Marie Michel , Opulente Europe aux 53 millions de pauvres..., in: Le Monde diplomatique , Juli 1992.] . Die Zahl derer, die in der EU als arm gelten, nimmt kontinuierlich zu: 1975= 35 Mill., 1985 = 44 Mill., 1992= 53 Mill., damit auch die ökonomische und soziale Marginalisierung, obwohl die Mitgliedsländer zwischen 22 und 30% ihres Nationaleinkommens für den Sozialhaushalt verwenden. 1994 gibt es 17,7 Mill. Arbeitslose, wobei sich der Anteil der Langzeit- und Jugendarbeitslosigkeit ständig erhöht. Auch die regionalen Disparitäten verringern sich trotz mancher Anstrengungen über die Strukturfonds nicht, im Gegenteil. Bei einem durchschnittlichen Bruttoinlandsprodukt pro Kopf von 100 1990 lagen bereits damals die extremen Werte bei 40 für die Region Vorelo-Algalo (Griechenland) und 183 für Groningen (Niederlande).

Diese in allen westeuropäischen Ländern feststellbare Gesellschaftsspaltung ist ein paradoxes Phänomen. Auf der einen Seite schneidet sie tiefer ein, als es die Klassengegensätze aus der vorfordistischen Zeit vermocht hatten [Vgl., auch zum folgenden, die grundlegende Arbeit von Bernard Perret und Guy Roustang (Anm. 9).] . Der Klassenkampf stellte immer eine Form der Sozialisierung zwischen Protest und Integration dar. Heute haben wir es dagegen mit einer veritablen sozialen Exklusion zu tun, einer Ausgrenzung, die keineswegs nur die Unterschichten betrifft: ein Zeichen dafür, daß die Dynamik des sozialen Fortschritts gebrochen ist. Trotz aller (national unterschiedlichen) Maßnahmen zur Wiedereingliederung ins Berufsleben scheint diese Art der Exklusion von Dauer zu sein z.B. in Gestalt der sog. „Sockelarbeitslosigkeit"). Damit ist die Behauptung alles andere als abwegig, daß sie für die soziale Kohäsion eine größere Bedrohung darstellt als der Klassenkampf seligen Angedenkens.

Auf der anderen Seite verschärft sie nicht die Austragung gegenwärtiger sozialer Konflikte. Sie sind dadurch gekennzeichnet, daß sie ohne ideologischen Gehalt und oft (weniger in Deutschland, aber in vielen anderen Mitgliedsländern der EU) außerhalb tradierter Institutionen stattfinden und damit die Möglichkeit einer politischen Umsetzung beschränkt ist. Fast immer handelt es sich um die Verteidigung spezieller Gruppeninteressen, also eben nicht um einen Mechanismus der Massenintegration. Aber Ausgrenzung wie neue soziale Konflikte sind, nicht zuletzt, das Ergebnis der Tatsache, daß die alte Arbeiterklasse nicht mehr existiert. Kein Wunder, wenn die traditionelle Gewerkschaftsbewegung dieser Entwicklung rat- und machtlos gegenübersteht, während das Kapital ungestört weltweit agieren kann.

Aber Perret/Roustang argumentieren viel grundsätzlicher. Für sie ist es der „Primat des Ökonomischen", der die sozialen Beziehungen radikal verändert. Soziale Integration beruhte traditionell auf der Vorstellung, daß die Gesellschaft letztlich aus der produktiven Arbeit der Individuen hervorgeht. Die Entwicklung zur Dienstleistungsgesellschaft („postindustrielle Gesellschaft") reduziert aber die Symbiose aus Individualismus und Produktivismus, was schließlich nichts anderes bedeutet als eine Abschwächung der „sozialisierenden Kapazitäten der Arbeit."

Ihrer Meinung nach liegt hier das Hauptproblem aller Industrieländer. Sie verlangen folgerichtig eine Kritik der „ökonomischen Ideologie" und eine neue Artikulation des Verhältnisses von Ökonomie, Politik und Kultur als Voraussetzung für die Entstehung und Durchsetzung alternativer Formen der Sozialisierung, damit, unter dem Stichwort „soziale Modernisierung", das Soziale nicht immer wieder für die ökonomischen Zwänge, oder was man dafür hält, instrumentalisiert wird.

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Europäisierung der Sozialbeziehungen?

Zwischen der „Ambition eines großen sozialen Projektes", wie sie Jacques Delors 1988 in der Euphorie der Binnenmarktperspektive formuliert hat [In: L'évènement européen (Paris), 1992 ... et après, Nr. 3-4, 1988, S. 11-23.] , und der Gegenwart klafft eine unübersehbare, ständig (nicht selten ziemlich scheinheilig) beklagte Lücke. Delors glaubte noch, daß eine soziale Harmonisierung in der Gemeinschaft als Folge der Liberalisierung des Austausches eintreten werde. Aber er vergaß, daß eine solche Harmonisierung des Sozialrechts Kräfteverhältnisse widerspiegelte, die in der Realität nach der Durchsetzung der neoliberalen Modernisierungskoalition, die die Dynamik des vorherigen europäischen sozialen Kompromisses durchbrochen hatte, nicht mehr bestanden [Vgl. Udo Rehfeldt , Effritement du modèle social européen, in: Le Monde diplomatique , Juli 1994.] . Daraus erklärt sich, daß sowohl die Kommission wie die europäischen Gewerkschaften wie paralysiert erschienen.

Die Einheitliche Europäische Akte (Art. 118 B) strebte einen „sozialen europäischen Dialog" an, allerdings unter der Voraussetzung, daß die Sozialpartner zu einer Übereinkunft gelangen würden. Aber der europäische Unternehmerverband wollte Verhandlungen nicht, weil sie unvereinbar waren mit den Zwängen der Globalisierung. So geschah in der Praxis nichts. Erst in jüngster Zeit wurden Euro-Betriebsräte ins Leben gerufen. Hier erhalten die Arbeitnehmer das Recht, vor grenzüberschreitenden Entscheidungen der Unternehmensleitung informiert zu werden. Aber einmal geht es um Information, nicht Mitbestimmung. Zum anderen setzen die Herrschenden darauf, daß sich doch der ‘natürliche’ Standort-Egoismus der Belegschaften" durchsetzen wird [So Frankfurter Allgemeine Zeitung, 23. Juni 1994.] . Also viel Lärm um nichts. Ans Eingemachte ginge es erst, wenn man mit dem Uraltprojekt der „Europäischen AG" Ernst machen würde [Vgl. Hans von der Groeben/Heinz Oskar Vetter/Otto A. Friedrich , Europäische Aktiengesellschaft. Beitrag zur sozialen Integration? Bonn 1972(!). Die hier geführte Diskussion ist heute so aktuell wie damals.] . Genau deshalb bleibt es weiter in der Versenkung verschwunden. Niemand will schlafende Hunde wecken.

So versteht sich, warum der europäischen Einigung die gesellschaftliche Dimension fehlt und sich damit unweigerlich, trotz Parlament, der Eindruck einer bürokratisch-technokratischen Veranstaltung aufdrängt. Das hegemoniale Modernisierungsbündnis ist weder auf nationaler noch auf europäischer Ebene bereit und fähig, den alten, fordistisch-keynesianischen sozialen Kompromiß (sozioökonomische Regulation durch den Staat; institutionalisierte Vertretung der Arbeitnehmer im Betrieb; System kollektiver Verhandlungen) durch einen neuen zu ersetzen. Die Gewerkschaften verfolgen defensiv-reaktive Strategien aus Angst, den nationalen „Standort" zu gefährden. Diese Form des „sozialen Dialogs" (oder was davon übriggeblieben ist) ist nicht europäisierbar; er muß im nationalen Rahmen geführt werden. Mehr noch: dem Nationalstaat fällt die zentrale Rolle zu, das (europäisch-globale) transnationale Herrschaftsprojekt zu stabilisieren, indem er für die soziale Akzeptanz sorgt. „Einerseits muß er die eigene Gesellschaft vor den erheblichen negativen Auswirkungen des Globalisierungsprozesses schützen, zugleich aber alles tun, sie für diesen Prozeß zu öffnen, sie ‘fit’ zu machen und damit ihr Überleben in einem sich ständig verschärfenden Wettbewerbskampf garantieren, da Rückzug, Abschließung gleichbedeutend mit Niedergang sind. Mit dieser ‘Spagatposition’ ist er sichtlich überfordert [Vgl. Bernd Röttger (Anm. 7); Gilbert Ziebura , Nationalstaat, Nationalismus, supranationale Inte gration: der Fall Frankreich, in:: Leviathan , Dezember 1992, hier Zitat S. 474.] . Das trifft insbesondere für die Aufgabe zu, die soziale Kohäsion, die die Voraussetzung für Akzeptanz ist, wenigstens einigermaßen aufrecht zu erhalten.

Damit wird deutlich, daß beide Pole, die europäische Integration wie der sie tragende Nationalstaat, sich in einer schwachen Verfassung befinden. Abgesehen von den MNK’s gibt es keine (horizontale) Verflechtung gesellschaftlicher oder politischer Gruppierungen, nicht einmal im kulturellen Bereich [Vgl. Richard Münch , Das Projekt Europa. Zwischen Nationalstaat, regionaler Autonomie und Weltge sellschaft, Frankfurt a.M. 1993, S. 98. Der Verfasser konstatiert z.B. das Fehlen einer euro päischen In tellektuellenbewegung.] . Das Wichtigste, das der Prozeß der Integration hätte zustande bringen müssen, existiert nicht: eine europäische Zivilgesellschaft als Grundlage einer europäischen Öffentlichkeit und damit einer europäischen Demokratie [So Christian Meier , Die Republik denken, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung , 29. April 1994; vgl. auch Jürgen Habermas , Citoyenneté et identité nationale, in: Jacques Lenoble/Nicole Dewandre , L'Europe au soir du siècle, Paris 1992, S. 32.] . Der Fortgang der europäischen Einigung hängt mehr davon ab, ob es gelingt, so etwas wie eine kollektive Identität zu finden, als davon, ob es sich in zwei oder mehreren unterschiedlichen Geschwindigkeiten organisiert.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | März 1998

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