FES HOME MAIL SEARCH HELP NEW
[DIGITALE BIBLIOTHEK DER FES]
TITELINFO / UEBERSICHT



TEILDOKUMENT:




Oliver Thränert:
Europäische Union und Europa: eine Problemskizze


Die Europäische Union befindet sich in einer fundamentalen Krise. Dabei handelt es sich um eine „Anpassungskrise", wie sie auch für andere europäische Institutionen wie die KSZE und die NATO typisch ist: nach dem Ende des Kalten Krieges, das nunmehr schon fünf Jahre zurückliegt, hat sich das internationale Umfeld so dramatisch, unvorhergesehen und nachhaltig verändert, daß die erwähnten Institutionen es noch immer nicht vermochten, sich den veränderten Verhältnissen anzupassen. Sie alle waren Produkte Nachkriegseuropas, das für ziemlich genau vierzig Jahre eindeutig in Ost und West aufgeteilt war: politisch, ideologisch, ökonomisch und militärisch. Während sich die NATO in dieser Zeit vornehmlich als ein Verteidigungsbündnis gegenüber der Sowjetunion und dem Warschauer Pakt verstand und als solches auch erfolgreich war, übernahm die KSZE nach 1975 den Part, Zusammenarbeit und Entspannung zwischen Ost und West zu organisieren. Auch die KSZE war erfolgreich und trug zur Überwindung des Ost-West-Gegensatzes bei. Die EG - die heutige EU - dagegen fühlte sich verantwortlich für die politische und vor allem ökonomische Vereinigung Westeuropas. Auch ihr kann der Erfolg nicht abgesprochen werden. So sind Kriege zwischen ihren Mitgliedern praktisch ausgeschlossen und sie tritt ökonomisch - siehe etwa die GATT-Verhandlungen - in der Weltarena zunehmend als einheitlicher Akteur auf.

Doch nun geht es um mehr. Nun geht es nicht mehr bloß um Westeuropa, nun geht es um Gesamteuropa. Die Europäische Union kann sich nicht darauf beschränken, sich um den reichen Westen des Kontinents zu kümmern, sonst verdiente sie den Namen „Europäische Union" nicht und verlöre früher oder später ihre politische Legitimation. Daher der Titel „Die Europäische Union und Europa" für diesen Band und die gleichnamige Konferenz, die am 9. Juni 1994 in der Friedrich-Ebert-Stiftung in Bonn stattfand.

Page Top

Was ist Gesamteuropa?

Im Mittelpunkt der neuen gesamteuropäischen Herausforderung stehen nicht nur die legitimen politischen und wirtschaftlichen, aber auch kulturellen Interessen im Osten der EU mit dem Ziel der (Wieder-)Eingliederung nach Europa, es geht auch um die ureigensten Interessen der Mitgliedstaaten der Union selbst. Sollte der Osten Europas dauerhaft zu einer Region der Instabilität werden, könnten sich die Westeuropäer - Asylregelungen hin oder her - dagegen wohl kaum wirksam abschotten. Es geht also um Gesamteuropa, doch diese Herausforderung hat der Westen noch nicht wirklich angenommen, ja sie vielleicht noch nicht einmal völlig gedanklich durchdrungen. Dies mag darin begründet sein, daß diese neue Herausforderung den Westen in einer Situation antrifft, in der er sich selbst wirtschaftlich in einer Konjunktur- und Strukturkrise befindet, die einhergeht mit einer politischen Krise. Diese Krisenlage ist gekennzeichnet durch hohe Arbeitslosigkeitsraten, hohe Staatsverschuldungen, Politik- bzw. Parteienverdrossenheit vieler Bürger und Wahlerfolge rechter bis rechtsradikaler Parteien. Nicht wenigen Bürgern und Politikern im trotz allem satten und industriell höher entwickelten Westen sind die Probleme Osteuropas daher weitgehend gleichgültig.

Die Frage nach Gesamteuropa aufzuwerfen heißt jedoch zugleich, die Frage nach dem Begriff „Europa" überhaupt zu stellen. Mit anderen Worten: Wo endet Europa? - Es steht außer Zweifel, daß es angebracht ist, bei der Beantwortung dieser Frage kulturelle Faktoren zu berücksichtigen. Die rein geografische Einteilung, derzufolge Europa am Ural endet, war immer künstlich. Sie kann politisch und ökonomisch schon alleine deswegen nicht überzeugen, da es eine politisch-ökonomische Trennlinie am Ural niemals gab.

In jüngster Zeit ist es in Mode gekommen, die Trennlinie zwischen Europa und „Nicht-Europa" entlang der Grenze zwischen römischem Katholizismus und lateinischem Alphabet einerseits sowie griechischer Orthodoxie und kyrillischem Alphabet andererseits zu ziehen. Dafür plädiert nicht nur der amerikanische Politologe Samuel P. Huntington, sondern auch der deutsche Autor Hans Arnold [Vgl. Samuel P. Huntington , The Clash of Civilizations?, in: Foreign Affairs , Summer 1993, S.22-49; Hans Arnold , Europa am Ende? Die Auflösung von EG und NATO, München/Zürich 1993, bes. S.30ff.] . Dementsprechend sei - so die Autoren - die Grenzlinie gesamteuropäischer Politik entlang folgender Linie zu ziehen: der Ostgrenzen Finnlands, des Baltikums, Polens, der Slowakei und Ungarns sowie Österreichs bis zur italienischen Grenze, wobei Griechenland noch mit zu Europa zu zählen sei. Schon hier sind Zweifel angebracht. Natürlich: kulturell gehört Griechenland eindeutig zu Europa, basiert doch die gesamte europäische Kultur letztlich auf der griechischen Philosophie. Ohne Aristoteles ist der Durchbruch der Ratio in Europa überhaupt nicht zu denken. Doch andererseits brachte Griechenland eben auch die Orthodoxie und das kyrillische Alphabet hervor, die den genannten Autoren zufolge gerade Kriterien außereuropäischer Kultur seien. Und weiter: Führt die Trennlinie zwischen Orthodoxie und Katholizismus nicht mitten durch die Ukraine? Schließlich: Was ist mit Rußland? Ist seine Kultur außereuropäisch, also auch etwa die Musik Tschaikowskys und die Romane Tolstois? Nehmen nicht russische Sportler wie selbstverständlich an Europameisterschaften teil? Politisch und historisch gewendet: Ist es möglich, eine europäische Geschichte seit dem Wiener Kongreß zu schreiben, ohne Rußland zu berücksichtigen?

Natürlich müssen alle diese Fragen verneint werden. Es ist schlechterdings nicht möglich, Rußland und auch andere Nachfolgestaaten der ehemaligen Sowjetunion wie die Ukraine einfach aus Europa herauszudefinieren. Richtig dagegen ist, daß historisch betrachtet Osteuropa die Periode der Aufklärung und der Bildung von Nationalstaaten, wie sie vor allem in Frankreich und England stattfand und die einherging mit der Bildung des die Demokratie tragenden Bürgertums, praktisch nicht mitgemacht hat. Doch ginge man danach, so müßte die Grenze zwischen Europa und „Nicht-Europa" viel weiter westlich als an der Grenze zu Rußland gezogen werden.

Politisch führt heute jedenfalls kein Weg daran vorbei, daß der Raum östlich der Oder einschließlich Rußlands nicht ohne weiteres aus Europa herausdefiniert werden kann. Es ist eine historische Tatsache: im Osten sind die Übergänge fließend. Dies macht die Situation für die Europäische Union nicht leichter. Mit jeder Erweiterung wird die Antwort auf die Frage dringender werden, wo denn die Grenzen der Aufnahme zu ziehen sind. Einerseits wird die Europäische Union früher oder später an die Grenzen ihrer Aufnahmekapazität stoßen, andererseits stellte sich dann die Frage, welche Staaten und warum für immer ausgeschlossen bleiben und welche Beziehungen zu ihnen unterhalten werden sollen. Eines steht damit heute schon fest: Europa wird immer einen größeren Raum umfassen als die Europäische Union.

Page Top

Die mangelnde Attraktivität der Europäischen Union

Ein weiteres schwerwiegendes Problem kommt hinzu: die Europäische Union selbst ist in den sie umfassenden Gesellschaften nur wenig bis mäßig attraktiv. Dies haben nicht zuletzt die Ergebnisse der Volksabstimmungen anläßlich der Ratifikation der Maastrichter Verträge gezeigt. Nicht nur wurde dieses Vorhaben in Dänemark im ersten Versuch abgelehnt, in Frankreich, wo der Vertrag nur mit Mühe und Not angenommen wurde, stand bei den Befürwortern keineswegs Europa-Euphorie sondern die Sorge im Vordergrund, bei einer Ablehnung könnte das politische Ziel Frankreichs verfehlt werden, das vereinigte Deutschland fest in Europa einzubinden. In den anderen Unionsländern, in denen mit Ausnahme Irlands keine Referenden stattfanden, lag die Zustimmungsquote für die Maastrichter Verträge Umfragen zufolge mit Ausnahme Irlands und den Niederlanden unterhalb von 50% [Vgl. Commission of the European Communities, Eurobarome ter . Public Opinion in the European Community, Nr.39 (June 1993), S.30ff. Auch in Dänemark sprachen sich zu diesem Zeitpunkt 54% der Befragten für Maastricht aus, allerdings gilt es zu beachten, daß diese Umfrage nach dem Edinburgh-Gipfel der EG vom Dezember 1992 erfolgte, auf dem für Dä nemark umfangreiche Sonderregelungen vereinbart wurden. Vor dem Edinburgh-Gipfel sprachen sich nur 43% der Dänen für Maastricht aus.] . Da der europäische Einigungsprozeß ein äußerst ambitioniertes Vorhaben ist, reicht dies natürlich keineswegs aus. Im Gegenteil: Europa hätte ein Momentum aus den Gesellschaften selbst dringend nötig. Aber dies ist nicht vorhanden. Von Zeit zu Zeit finden Demonstrationen gegen die EU oder bestimmte ihrer Beschlüsse statt, vorwiegend von Bauern, die sich in ihrer Existenz bedroht fühlen. Demonstrationen für die Europäische Union sind dagegen nicht bekannt.

Aber warum ist die Europäische Union in der Öffentlichkeit so wenig attraktiv? Folgende Gründe scheinen dafür ausschlaggebend zu sein:

1. Gerade in Zeiten wirtschaftlicher Unsicherheit verlangen die Menschen nach Identifikationsangeboten. Die Europäische Union bietet sie ihnen nicht. Eine europäische Vision, die gesellschaftliches Momentum entfachen könnte, gibt es nicht. Bezeichnenderweise gab es keinerlei gesellschaftlichen Diskurs vor der Unterzeichnung der Maastrichter Verträge. Stattdessen nimmt die Bedeutung nationaler Symbole wieder zu, wäre die Aufgabe der nationalen Währung in den Augen vieler in erster Linie eine Bedrohung. Für die derzeitige wirtschaftliche Krise, insbesondere der hohen Arbeitslosigkeit, gibt es wenn überhaupt nur nationale Krisenüberwindungsstrategien. Eine europäische Krisenüberwindungsstrategie existiert nicht.

2. Da die Europäische Union auf Kompromisse der beteiligten Staaten angewiesen ist, stellen diese in der Regel den kleinsten gemeinsamen Nenner dar, mit dem sich keiner so recht identifiziert und der daher auch in der Öffentlichkeit kaum vermittelbar ist. Hinzu kommt, daß dem Bürger die Entscheidungsmechanismen selbst völlig undurchsichtig erscheinen.

3. Die Europäische Union wird nicht in ausreichendem Maße als demokratisches Gemeinwesen wahrgenommen. Wenn man sich schon kaum mit seinem Bundestagsabgeordneten identifiziert, so tut man dies erst recht nicht mit seinem Europaabgeordneten, der über noch weniger politische Mitwirkungskompetenz verfügt. Eine Identifikation via politisches System und seine Repräsentanten ist also kaum vorhanden. Wem „Bonn" einem Raumschiff gleichkommt, dem ist „Brüssel" ein Stern eines anderen Sonnensystems. Die Wahlbeteiligung von nur 56,5% bei der Europawahl im Juni 1994 war die niedrigste aller Zeiten. Dies weist darauf hin, daß die Bedeutung des Europaparlamentes in der Sicht der Bürger eher ab- als zunimmt. Tatsächlich hat zum Beispiel der deutsche Europawahlkampf deutlich gezeigt, daß alle Parteien die Europawahlen nur als Test für die nur wenige Monate später anberaumten nationalen Wahlen begriffen.

Page Top

Vertiefung oder Erweiterung?

Zugespitzt formuliert könnte man behaupten, daß die Europäische Union derzeit weder zur fortgesetzten Integration noch zur Erweiterung ihrer Mitgliedschaft in der Lage ist. Die voraussichtlich am 1. Januar 1995 erfolgende Aufnahme Norwegens, Schwedens, Finnlands und Österreichs spricht nur scheinbar dagegen. Vielmehr sind im Verlauf der entsprechenden Beitrittsverhandlungen nahezu sämtliche Krisensymptome der Europäischen Union zu Tage getreten.

Da sind zunächst die unterschiedlichen wirtschaftlichen Interessen der beteiligten Staaten. So wollte die spanische Regierung schon vorab wissen, wem die erwarteten Netto-Finanzbeiträge der neuen Mitgliedstaaten zugute kommen würden. Zudem lag Spanien lange Zeit im Streit mit Norwegen wegen des Zugangs zu den Fischgründen vor der norwegischen Küste. Schließlich fürchtete Madrid eine Marginalisierung für den Fall, daß sich Ende 1996 die wirtschaftlich potenten neuen Mitgliedsländer im Gegensatz zu den meisten traditionellen EU-Staaten für die geplante Währungsunion qualifizieren würden [Vgl. "Erweiterung der Europäischen Union steht unter kei nem guten Stern", in: Süddeutsche Zei tung vom 22. Februar 1994, S.14.] .

Nun, Streitereien um Fangquoten, Beitragszahlungen usw. ist der Beobachter der europäischen Szene seit Jahren gewöhnt. Immerhin: wenn die Aufnahme reicher Länder in die Union schon wirtschaftlichen Streit auslöst, kann man sich leicht ausmalen wie es zugehen wird, sollte einmal wirklich über die Integration wirtschaftlich schwacher Länder wie Polen oder anderer verhandelt werden [Vgl. dazu den Beitrag von Lutz Hoffmann in diesem Band.] . Aber diesmal ging die Krise noch tiefer. Diesmal ging es im Kern um die unterschiedlichen europapolitischen Vorstellungen selbst. Dies wurde am Streit um die zukünftigen Abstimmungsmodalitäten im Europäischen Rat deutlich. Während es vor allem Großbritannien darum ging, die Sperrminorität von 23 Stimmen beizubehalten, um dadurch den Integrationseffekt zu verwässern, wollten die meisten anderen Staaten, allen voran Frankreich, die erforderliche Stimmenzahl entsprechend der neuen Anzahl der Mitglieder auf 27 erhöhen. Schließlich einigte man sich auf einen EU-typischen Formelkompromiß: Sollten sich 23 Stimmen gegen eine anstehende Entscheidung finden, so soll diese zunächst für einen unbestimmten Zeitraum ausgesetzt und dann noch einmal vorgelegt werden, wobei dann eine Sperrminorität von 27 Stimmen gelten soll.

Entscheidend bei diesem Streit war, daß die unterschiedlichen, um nicht zu sagen gegensätzlichen europapolitischen Interessen der „großen Drei" Deutschland, Frankreich und Großbritannien offen zutage traten. Während Frankreich sich wenig aufgeschlossen gegenüber einer Erweiterung der Europäischen Union zeigt und die Gemeinschaft lieber klein aber fein gestalten möchte, sprich: möglichst integriert mit einem fest eingebundenen Deutschland und großem französischem Einfluß [Dafür spricht nicht zuletzt der im Mai 1994 vom französi schen Europa-Minister Alain Lamassoure unterbreitete Vor schlag, 12 EU-Staaten sollten sich zu einer Kerngemein schaft zusammenfinden, die auf Nachzügler wie Großbritan nien keine Rücksicht zu nehmen hätte. Vgl. Tom Buerkle , France Wants Core of Members To Pursue Selected EU Goals, in: International Herald Tribune vom 31. Mai 1994, S.1.] , möchte Großbritannien umgekehrt die Union zwar erweitern, aber den weitgehend ungeliebten Vertiefungsprozeß möglichst stoppen. Deutschland dagegen möchte wie immer am liebsten beides: Vertiefung, damit in Frankreich keine Furcht vor Deutschland aufkommt, und Erweiterung insbesondere mit Blick auf die osteuropäischen Nachbarn, um diese zu stabilisieren [So verabredeten Deutschland und Frankreich enge Koopera tion für ihre aufeinanderfolgenden EU-Ratspräsidentschaf ten, aber gleichzeitg wird von Bundesaußenminister Kinkel die Heranführung der Staaten Mittel- und Osteuropas an die EU als erstes Ziel deutscher Außenpolitik genannt. Vgl. seine Rede in der Graf-Stauffenberg-Kaserne in Sigmaringen am 29. April 1994.] . Im Falle einer Osterweiterung fürchtet Frankreich dagegen verminderten Einfluß bis hin zu Marginalisierung bei gleichzeitiger deutscher Dominanz. In jedem Fall ist es für Frankreich wichtiger, die Entscheidungsmechanismen der Europäischen Union schon nach der wahrscheinlich 1995 erfolgten Norderweiterung zu reformieren und effizienter zu gestalten, als dies in Deutschland der Fall ist.

Diese Krise zeigt zweierlei: erstens, daß Europapolitik immer noch nationalen Interessen folgt und kein übergeordnetes Ziel an und für sich darstellt, und zweitens, daß die Europäische Union in diesem Zustand der Uneinigkeit über das Ziel des europäischen Integrationsprozesses und der widerstreitenden ökonomischen Interessen innerhalb der Union keineswegs in der Lage ist, sich der gesamteuropäischen Herausforderung wirklich zu stellen. Dies gilt insbesondere, falls es - was vor dem dargelegten Hintergrund durchaus zu erwarten ist - zu einer zunehmenden Entfremdung zwischen Deutschland und Frankreich in der Europapolitik kommt. Sollten diese beiden Lokomotiven des europäischen Zuges nicht mehr in eine Richtung fahren, wird der Zug bestenfalls zum Stillstand kommen [Skeptisch in bezug auf die Osterweiterungsfähigkeit der EU auch: Christian Deubner/Heinz Kramer , Die Erweiterung der Europäischen Union nach Mittel- und Osteuropa: Wende oder Ende der Gemein schaftsbildung?, in: Aus Politik und Zeitgeschichte Nr.B 18-19/94 vom 6. Mai 1994, S. 12-19; vgl. auch Christian Deubner , Deutschland, Frankreich und die EU, in: Internationale Politik und Gesellschaft Nr. 3/1994, S.211-222. Das Drama des Europäischen Gipfels in Korfu im Juni 1994 zeigte darüber hinaus, daß Deutschland und Frankreich innerhalb der Union auch gar nicht unbe dingt mehr durchsetzungsfähig sind. Ihr Kandidat für den Kommissionsvorsitz, der belgische Mini sterpräsident Dehaene, scheiterte am Veto des britischen Ministerpräsidenten Major. Die Durch setzungsfähigkeit eines deutsch-französischen Tandems dürfte nach erfolgter Erweiterung der EU eher ab- als zunehmen.] .

Drei weitere Gründe sind ausschlaggebend dafür, daß die Europäische Union auf absehbare Zeit weder zu weiterer Vertiefung noch zu einer Erweiterung gen Osten in der Lage sein dürfte: die wirtschaftliche Situation, die mangelhafte demokratische Struktur der Gemeinschaft, sowie ihre außen- und sicherheitspolitische Schwäche.

Ralf Dahrendorf hat in einem viel beachteten Essay Jean Monnet, dem Gründervater des europäischen Integrationsprozesses, vorgeworfen, er wollte Europa gleichsam durch die Hintertür verwirklichen. Durch eine wirtschaftliche Integration sollte eine „Integration der Sachlogik" geschaffen werden, die schließlich auch zur politischen Integration führen sollte. Dieser Weg sei nun, so Dahrendorf, mit den Verträgen von Maastricht, an sein Ende gelangt. Es zeige sich nun, daß dieser technokratische Weg an seine gesellschaftlichen Grenzen stoße [Vgl. Ralf Dahrendorf , Ein Europa für die Zukunft, in: Der Spiegel Nr. 1/1994, S.28-29.] .

In der Tat scheint die Grundidee von Maastricht, nämlich die politische Integration via der Errichtung einer gemeinsamen Währung zu schaffen, in eine Sackgasse zu führen. Schon jetzt ist deutlich geworden, daß die beschlossenen Zeitpläne nicht einhaltbar sind. Nachdem Großbritannien und Italien schon aus dem gemeinsamen Währungsverbund ausgeschieden waren, schlingerte das Europäische Währungssystem im August 1993 in eine akute Krise. Es zeigte sich, daß es sich bei ihm um eine Schönwetterveranstaltung handelte, die bei anhaltender Rezession der auftretenden Wettbewerbsprobleme nicht mehr Herr wurde.

Als die EU-Kommission im Juli 1994 „Blaue Briefe" an diejenigen Mitgliedstaaten versandte, die die in Maastricht aufgestellten Konvergenzkriterien in den Bereichen Zinsniveau, Inflationsrate, Staatsschulden und Haushaltsdefizit nicht erfüllen, blieben nur Luxemburg und Irland verschont. Dabei übersteigt die Staatsschuld Irlands mit 93% des Bruttoinlandsproduktes bei weitem die in Maastricht festgelegte Marge von 60%. Doch die Kommissare gaben sich damit zufrieden, daß Irland in den letzten sieben Jahren seine Schuld von 117% auf 93% abgebaut hatte. Damit sei die Anforderung erfüllt, sich den geforderten 60% rasch zu nähern [Vgl. "Brüsseler Kommission will künftige Europäische Währungsunion aufweichen", in: Süddeut sche Zeitung vom 28. Juli 1994, S.22.] . Es zeigt sich also bereits eine Tendenz, die in Maastricht festgelegten Kriterien zu verwässern, da sie sonst praktisch von niemandem erfüllt werden könnten. Ein solches Vorgehen dürfte jedoch nicht bei allen Mitgliedstaaten auf Gegenliebe stoßen, vor allem nicht bei denjenigen, die daran besonders interessiert sind, eine etwaige europäische Währung so stabil wie möglich zu machen.

Hinzu kommt, daß die Bemühungen der EU-Staaten, die in Maastricht aufgestellten Konvergenzkriterien für die Aufnahme in eine spätere gemeinsame Währung zu erfüllen sogar, besonders im Hinblick auf die Reduzierung der in fast allen Ländern hohen Staatsschuld, rezessionsverschärfend gewirkt haben [Vgl. Jürgen Pfister , Ist das Europäische Währungssystem am Ende?, in: Europa-Archiv Nr. 24/1993, S.711-717.] . Auch gibt es kein gemeinsames politisches Dach für die angestrebte gemeinsame Währung. Selbst falls die Währungsunion verwirklicht werden könnte stünde sie nach dem gegenwärtigen Stand der Dinge quasi als einsame Säule frei im Raum.

Vor diesem Hintergrund angestellte Überlegungen, nur eine kleine Währungsunion, also ein „Kerneuropa" bestehend aus Deutschland, Frankreich und den Benelux-Staaten zu schaffen, führen in die Irre [Vgl. CDU/CSU-Fraktion des Deutschen Bundestages, Überle gungen zur europäi schen Politik, Bonn 1. September 1994 (hektographiert)] . Ein solches „Europa der zwei Geschwindigkeiten" könnte sogar eine enorme Desintegrationswelle auslösen. Wenn es denn richtig ist, daß eine Währungsunion den daran beteiligten Staaten wichtige ökonomische Vorteile bringt, dann müßte sich demzufolge der Abstand zwischen ihnen und den nicht an der Währungsunion beteiligten Staaten eher vergrößern. Außerdem besteht der Grundwiderspruch ja gerade darin, daß die Währungsunion politisch motiviert ist, also zu Integration führen soll, sodaß eine kleine Währungsunion eben politisch genau das Gegenteil bewirkt. Daß nun die Deutschen bestimmen wollen, wer in der Europäischen Union in der ersten Reihe sitzt, kommt einem Frontalangriff auf die bisher geltenden Grundprinzipien des europäischen Einigungsprozesses gleich, die auf Konsens und Ausgleich beruhen. Daher konnte das Echo auf das von der CDU/CSU-Bundestagsfraktion vorgelegte „Kerneuropa-Papier" nicht verwundern. Kaum eine europäische Regierung, vor allem nicht die britische, wird es sich gefallen lassen, sich auf die hinteren Bänke verweisen zu lassen. Auch erscheint die Zusammensetzung Deutschland/Frankreich/Benelux insofern willkürlich, als Spanien zum Beispiel Interesse an einer europäischen Verteidigung zeigt, nicht aber die noch immer eher atlantisch ausgerichteten Niederlande. Die von dem „Kerneuropa-Papier" ausgelöste Debatte machte die zuvor schon sichtbare fundamentale innere Krise der Europäischen Union nur noch sichtbarer [Vgl. zur Kritik des "Kerneuropa-Papiers" Udo Bergdoll , Kaiser Wilhelm läßt grüßen, Süddeutsche Zeitung vom 7. September 1994, S.4, sowie den Beitrag von Gilbert Zie bura in diesem Band.] .

Ist die Prämisse richtig, daß es nunmehr um Gesamteuropa geht, so muß das Maastricht-Projekt noch einmal grundsätzlich überdacht werden. Anstatt sich in einem „Kerneuropa" einzuigeln, sollte den osteuropäischen Befürchtungen hinsichtlich eines erneuten EU-Protektionismus wirksam begegnet und die Märkte geöffnet werden, anstatt sie auf für die Osteuropäer wichtigen Feldern zu verschließen. Daß dies umgekehrt gegen die ökonomischen Interessen der Westeuropäer verstoßen kann, vor allem dann, wenn damit Arbeitsplätze zur Disposition gestellt werden, darf nicht übersehen werden. Aber umgekehrt trägt es nicht zur Glaubwürdigkeit der Europäischen Union bei, den Osteuropäern die freie Marktwirtschaft zu predigen, sich aber gleichzeitig ihnen gegenüber abzuschotten, und zwar gerade auf den Gebieten, auf denen sie konkurrenzfähig sind [Vgl. Reimut Jochimsen , Die europäische Wirtschafts- und Währungsunion. Chancen und Risiken, in: Europa-Archiv Nr. 13-14/1993, S.377-388. "Die Furcht vor der Festung 'Europa' wächst", in: Süd deutsche Zeitung vom 1. Oktober 1993, S.14.] .

Page Top

Die mangelhafte demokratische Struktur der Europäischen Union

Ein weiteres zentrales Problem der Europäischen Union ist ihre mangelhafte demokratische Struktur. Während die nationalen Regierungen auf der Ebene des Europäischen Rates quasi gleichzeitig die Legislative und die Exekutive bilden, sind die Rechte des Europäischen Parlaments stark eingeschränkt. Auch nach Maastricht bleibt es weit davon entfernt, über klassische Rechte eines Parlamentes zu verfügen wie zum Beispiel Wahl und Abwahl einer Regierung. Hinzu kommt, daß das demokratische Prinzip des „One Man - One Vote" auf europäischer Ebene kaum verwirklichbar sein dürfte, da sonst die kleineren Mitgliedstaaten benachteiligt wären. So hat heute die Stimme eines irischen oder dänischen Wählers bei den Wahlen zum Europäischen Parlament mehr als doppelt so viel Gewicht wie die eines britischen, italienischen oder französischen, da die Abgeordneten aus diesen Ländern viel mehr Bürger vertreten.

Verschärfend wirkt, daß Versuche der Demokratisierung der Union in ein Spannungsverhältnis mit der Erweiterung der Mitgliedschaft treten. Eine erweiterte Union müßte ihre Struktur eigentlich vertiefen, d.h. sich mehr Kompetenzen aneignen und auch zu Mehrheitsbeschlüssen fähig werden, um weiterhin handlungsfähig zu bleiben. Der neue Präsident des Europäischen Parlaments, Klaus Hänsch, hat darauf hingewiesen, daß eine vergrößerte Europäische Union entweder nicht handlungsfähig oder nicht demokratisch sein wird. Denn zugunsten der Effizienzsteigerung auf der Europäischen Ebene müßten die Parlamente der einzelnen Mitgliedsländer weitgehend entmachtet werden [Vgl. Klaus Hänsch , Vertiefung der Gemeinschaft und gesamt europäische Identität, in: Europa-Ar chiv Nr. 13-14/1993, S.389-396.] .

Genau dem widerspricht aber das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zu den Maastrichter Verträgen. In seinen entscheidenden Passagen geht das Gericht davon aus, daß die Europäische Union einen Staatenverbund mit dem Ziel einer immer engeren Union der staatlich organisierten Völker Europas, nicht jedoch einen sich auf ein europäisches Staatsvolk stützenden Bundesstaat darstelle. Das Ziel des Integrationsprozesses bleibe offen, die Gründung der Vereinigten Staaten von Europa nach dem Vorbild der USA sei derzeit nicht beabsichtigt, und die EU-Mitgliedstaaten hätten die Freiheit, ihre Mitgliedschaft auch wieder aufzuheben. Entscheidend bleibe, daß die europäischen Staatsvölker durch die mit entsprechenden Befugnissen ausgestatteten nationalen Parlamente repräsentiert werden, der Ausdehnung der Aufgaben und Befugnisse der EU vom demokratischen Prinzip her mithin Grenzen gesetzt sind [Der Text des Urteils ist in Auszügen abgedruckt in: Süd deutsche Zeitung vom 14. Oktober 1993, S.11.] .

Aus alldem folgt, daß der Prozeß der Entscheidungsfindung in einer erweiterten Europäischen Union noch schwieriger werden dürfte, als er ohnehin schon ist. Die Kunst des Kompromisses, des kleinsten gemeinsamen Nenners, wird mehr als je zuvor gefragt sein. Daß dabei am Ende mehr Bürgernähe herauskommt, die für die Verbesserung der Akzeptanz der EU so dringend nötig wäre, ist eher fraglich. Wahrscheinlich dürfte sogar die Effizienz im Meer von noch mehr miteinander widerstreitenden nationalen Interessen leiden.

Page Top

Die Mängel der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik

Unterschiedliche bis gegensätzliche Interessen kommen insbesondere im Bereich der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik zum Tragen. Die entsprechenden Bestimmungen sind in den Maastrichter Verträgen ohnehin nur sehr schwach ausgebildet. Sie verbleiben im intergouvernamentalen Bereich, werden also nicht vergemeinschaftet. Die Westeuropäische Union (WEU) wird zwar zum verteidigungspolitischen Arm der EU erklärt, aber bislang sind noch nicht einmal alle EU-Mitglieder auch gleichzeitig WEU-Staaten. Vielmehr haben es Dänemark und Irland bisher unterlassen, eine entsprechende Einladung der WEU anzunehmen. Auch ob die neu aufzunehmenden Staaten Österreich, Norwegen, Schweden und Finnland ausnahmslos der WEU beitreten werden, ist bisher noch unklar. Ebenso wurde zwar ein - zunächst deutsch-französisches - Euro-Korps gegründet, das u.a. unter dem Dach der WEU operieren können soll, doch beteiligen sich daran bisher neben den genannten Ländern lediglich Belgien, Luxemburg und Spanien. Hauptgrund dafür ist, daß einige EU-Staaten wie vor allem Großbritannien die NATO einem rein europäischen Verteidigungsverbund vorziehen [Vgl. Oliver Thränert (Hrsg.), Die EG auf dem Weg zu einer Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspoli tik, Bonn ( Friedrich-Ebert-Stiftung ) 1992.] .

In europäischen Konflikten, besonders im ehemaligen Jugoslawien, vermochte es die EU bisher nicht, ein eigenständiges Profil zu gewinnen. Ausschlaggebend dafür waren zum einen unterschiedliche Sichtweisen des Konflikts im Kreis der EU-Staaten und zum anderen die Tatsache, daß die Europäische Union ihre Diplomatie nicht ausreichend militärisch abdecken konnte. So bleibt die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik ein äußerst schwaches Instrument. An die Verwirklichung so ehrgeiziger Ziele wie eines gemeinsamen ständigen Sitzes der EU anstelle derjenigen von Frankreich und Großbritannien im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen ist zur Zeit nicht im entferntesten zu denken.

Problematisch dürfte es auch mit Blick auf die beabsichtigte Osterweiterung werden. Bekanntlich streben alle Staaten östlich der EU und westlich der GUS einen militärischen Schutz in einem Bündnis an, wobei die Priorität die NATO besitzt. Tatsächlich wäre diese aufgrund der amerikanischen Beteiligung am ehesten dazu in der Lage, Schutz zu gewähren. Mit dem auf dem Gipfel vom Januar 1994 verabschiedeten Programm „Partnerschaft für den Frieden" wurde dieses Thema jedoch vorerst verschoben. Fraglich ist, ob die USA mit einer stark auf die Innenpolitik konzentrierten Clinton-Administration bereit wären, zusätzliche Verpflichtungen in Europa zu übernehmen. Ungeklärt ist auch die Frage, wie eine Erweiterung politisch so abgesichert werden könnte, daß sich solche Staaten, die nicht aufgenommen werden würden, und hier ist besonders an Rußland zu denken, nicht isoliert fühlen.

Das zentrale Dilemma der Europäischen Union besteht darin, daß eine Aufnahme neuer Mitgliedsländer im Osten keineswegs automatisch mit einer Osterweiterung der NATO einhergehen muß. Die USA werden eine solche Entscheidung kaum von einer Institution abhängig machen, nämlich der EU, in der sie nicht einmal vertreten sind. Auch ist fraglich, ob Frankreich eine solche Konstruktion, die letztlich zu einem sicherheitspolitischen Primat der NATO führen könnte, gutheißen würde. Umgekehrt wäre der Ausbau von EU und WEU zu einem schlagfähigen, rein europäischen sicherheitspolitischen Instrument kaum nach dem Geschmack traditionell atlantisch ausgerichteter Nationen wie Großbritannien oder den Niederlanden. Abgesehen davon mangelt es der EU/WEU an Transport-, Satellitenaufklärungs-, Kommunikations- und Führungsmitteln. Sie zu beschaffen dürfte angesichts der kaum dazu vorhandenen Finanzen derzeit als illusorisch angesehen werden. Aus all den genannten Gründen dürfte eine nach Osten erweiterte EU zunächst eine Zone unterschiedlicher Sicherheit darstellen, mit all den daraus folgenden politischen Schwierigkeiten [Vgl. Mathias Jopp , Langer Weg - Kühnes Ziel: Gemeinsame Verteidigungspolitik, in: Europa-Archiv Nr. 13-14/1994, S.397-404] .

Page Top

Zurück zum Nationalismus oder ein neues Europa?

Aus all dem Gesagten über die Europäische Union sollte jedoch keinesfalls ein Plädoyer für eine Renationalisierung der europäischen Politik abgeleitet werden. Ganz im Gegenteil: Will sich Europa den künftigen Problemen wirksam stellen - sei es im ökonomischen oder ökologischen Bereich oder bei der Verhinderung gewaltsam ausgetragener Konflikte - so ist mehr europäische Zusammenarbeit erforderlich. Es gibt zur Integration, zur immer engeren Kooperation möglichst aller europäischen Völker keine vernünftige Alternative. Die Frage ist jedoch, ob der Weg, den die Europäische Union in Maastricht eingeschlagen hat, der richtige ist, bzw. welche Korrekturen angebracht sind. Eine künftige wahrhaft europäische Politik benötigt daher mehr als lediglich das Schönreden bisheriger Erfolge und Scheinerfolge der Europäischen Union. Sie erfordert im Gegenteil das unvoreingenommene Überdenken des bisherigen Ansatzes der europäischen Integration, ohne jedoch in die Düsterheit eines von konservativer Seite zunehmend vorgetragenen Nationalismus zurückzufallen. Dazu ist ein offener, auf möglichst breiter gesellschaftlicher Basis ausgetragener Diskurs erforderlich. Einen kleinen Anstoß dazu soll der vorliegende Band liefern.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | März 1998

Previous Page TOC Next Page