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TEILDOKUMENT:






4. Verwandtschaftsbeziehungen


Sowohl theoretische Überlegungen als auch einige empirische Anhaltspunkte geben dazu Anlass, die in der Migrationsforschung dominierende Perspektive der Subsumption familial-verwandtschaftlicher Beziehungen als Spezialfall ethnischer Koloniebildung in Zweifel zu ziehen. Es fragt sich nämlich, ob die Bedeutung von ethnischen Kolonien für den Eingliederungsprozess von Migranten nicht häufig deshalb überschätzt worden ist, weil ihnen die Leistungen zugeschrieben worden sind, die tatsächlich mit großer Ausschließlichkeit innerhalb von Verwandtschaftsbeziehungen erbracht worden sind, während nicht-verwandte Mitglieder von ethnischen Kolonien für Verlauf und Geschwindigkeit von Eingliederungsprozessen nahezu bedeutungslos sind (B. Nauck & A. Kohlmann 1998).

Erste Anhaltspunkte für die Vermutung, dass die Bedeutung ethnischer Kolonien für den Verlauf von Eingliederungsprozessen eher überschätzt worden ist, geben empirische Befunde, wonach allenfalls eine (sehr) schwache Beziehung zwischen der in der Wohnungsumgebung gegebenen Konzentration von Angehörigen der eigenen Nationalität und der damit vorhandenen Opportunitätenstruktur einerseits und der Inzidenz von inter- und intraethnischen Kontakten andererseits besteht (H. Alpheis 1988, 1990; M. Bonacker & R. Häufele 1986), wenn ein relativ geringer Schwellenwert überschritten ist (C. Koch & U. Schöneberg 1984; U. Schöneberg 1993). Umgekehrt haben erste Befunde bei türkischen Migrantenfamilien gezeigt, dass es durchaus Anhaltspunkte dafür gibt, dass die "family/community culture of relatedness and interdependence" (Ç. Kâ_itçibâ_i 1987) auch in der Migrationssituation aufrechterhalten wird: "Entfernung" scheint kein relevanter Kostenfaktor für die Aufrechterhaltung intensiver Verwandtschaftsbeziehungen türkischer Migrantenfamilien zu sein, denn die Intensität der Kontakte stand in keiner Beziehung zur räumlichen Erreichbarkeit der Verwandten. Diese Beobachtungen legen es nahe, dass es sich um ein ethnozentrisches Missverständnis handelt, wenn von der Häufigkeit des Auftretens von "sichtbaren" Ausländern in bestimmten Wohnquartieren darauf geschlossen wird, dass diese dann auch untereinander intensive Beziehungen hätten (B. Nauck 1988): Türkische Migrantenfamilien entsprechen in residentieller Hinsicht weit mehr als deutsche Familien dem Typ der ‘isolierten Gattenfamilie’ und machen ihre Wohnentscheidungen weit weniger von der Verfügbarkeit verwandtschaftlicher oder freundschaftlicher Kontakte abhängig und sind stattdessen vornehmlich an der Qualitätsverbesserung ihrer Wohnverhältnisse interessiert. Hohe ethnische Konzentration in bestimmten Wohnquartieren ist somit keineswegs auf affiliative Tendenzen in der türkischen Migrantenminorität, sondern vielmehr auf hohe Barrieren auf dem Wohnungsmarkt zurückzuführen.

Einen weiteren Anhaltspunkt für die im Vergleich zur ethnischen Kolonie großen Bedeutung von Verwandtschaftsbeziehungen im Migrationsprozess liefern Daten zur regionalen Verteilung von Migranten. Ein stets wiederkehrendes Ergebnis verschiedenster Untersuchungen in Europa ist, dass jeweils große Klumpungen von Migranten der gleichen regionalen bzw. örtlichen Herkunft festzustellen sind. Dieses Phänomen ist nicht auf ethnische Affiliation, sondern vielmehr auf familial-verwandtschaftliche Kettenmigration zurückzuführen (J.S. MacDonald & L.D. MacDonald 1964; C. Tilly & C.H. Brown 1968; M. Boyd 1989; S. Haug 2000). Akteure mit extensiven Verwandtschaftsbeziehungen weisen eine höhere Migrationsbereitschaft auf (E. Litwak 1960; L. Hendrix 1975, 1979; H.M. Choldin 1973), wobei diese Verwandtschaftsnetze sowohl als Operationsbasis in der Herkunftsgesellschaft z.B. für die Versorgung (zunächst) zurückbleibender Familienmitglieder dienen (T.T. Jitodai 1963; E. Friedl 1976; N. Abadan-Unat 1977; P.R. Pessar 1982), als auch die bevorzugte erste Anlaufstelle in der Aufnahmegesellschaft sind. Beides sind Leistungen, für deren Erwartbarkeit die gleiche ethnische Zugehörigkeit allein keine Basis bietet, vielmehr bedarf es für solch weitreichende Leistungen der langfristigen Diskontierung von Reziprozität, für die die lebenslang "unausweichlichen" Verwandtschaftsbeziehungen weitaus bessere Eingangsvoraussetzungen bieten. Diese Überlegung macht deutlich, warum es gerade bei modernen Migrationsformen, bei denen - anders als bei den Auswanderern des 19. Jahrhunderts, die typischerweise zur Herkunftsgesellschaft ‘alle Brücken abgebrochen’ hatten - stets die Rückkehroption offengehalten werden kann (M. Dietzel-Papakyriakou 1993), außerordentlich unwahrscheinlich ist, dass andere als verwandtschaftliche Beziehungen große Bedeutsamkeit erlangen. In den Einwandererkolonien Nordamerikas zu Beginn des Jahrhunderts mögen ethnische Linien schon wegen fehlender Alternativen eine ausreichende Mobilisierungskraft gehabt haben, neue Solidarbeziehungen zur Bewältigung des kollektiven Einwanderungsschicksals zu organisieren. In westeuropäischen Aufnahmekontexten, in denen sowohl der eigene Aufenthalt als auch der der zugewanderten Nachbarschaft fraglich bleibt, werden - wenn nicht andere Verkettungen vorliegen (z. B. über dritte Personen aufgrund derselben lokalen Herkunft) - gegebenenfalls sogar transnationale Verwandtschaftsbeziehungen die verlässlichere Alternative für langfristige reziproke Beziehungen sein.

Nur vor diesem Hintergrund ist erklärlich, warum vergleichende Ergebnisse über Verwandtschaftsbeziehungen von Migrantenfamilien zeigen, dass sich die Verwandtschaftsdichte im Verlauf der Migrationsperiode nur unwesentlich erhöht hat. Bei Anfang der 70er Jahre durchgeführten Untersuchungen hatten ca. 60% der Arbeitsmigranten Verwandte in der Bundesrepublik (A. Schrader, B.W. Nikles & H.M. Griese 1979; H. Becher & E. Erpenbeck 1977), 10 Jahre später ist der Anteil auf über 70% angestiegen (M. Bonacker & R. Häufele 1986). In einer 1982 durchgeführten Untersuchung lebten 30% der Griechen und Italiener und 24% der Türken ohne Verwandte in Deutschland, jeweils über 50% der Migranten hatten Verwandte am gleichen Ort (U. Schöneberg 1993). Bei den Italienern mit Verwandten in Deutschland lebten bei fast 90% zumindest ein Teil der Verwandten am Wohnort des Befragten, und bei 57% lebten die Verwandten ausschließlich dort; von den Türken hatten dagegen nur zwei Drittel einen Teil der Verwandten am Wohnort und nur bei einem Viertel lebten die Verwandten ausschließlich dort. Dies deutet auf das unterschiedliche Konsolidierungsniveau der verschiedenen nationalen Minoritäten hin, das bei den Türken zeitlich verzögert erreicht wird. Mehr als 90% der Migrantenfamilien, die Verwandte in der Aufnahmegesellschaft, und fast alle (99%), die Verwandte am Ort haben, pflegen einen regelmäßigen Besuchskontakt, davon bei Italienern (39%) und Türken (34%) mit täglichen und mehrmals wöchentlichen Besuchen, wobei keine Variationen nach Geschlecht, Alter, Bildung, Familienstand, Aufenthaltsdauer und Berufstätigkeit (der Frau) festzustellen ist, was zunächst den hohen Institutionalisierungsgrad verwandtschaftlicher Beziehungen unterstreicht (C. Koch & U. Schöneberg 1984).

In der gleichen Untersuchung werden auch unterschiedliche Funktionen der Verwandtschaft für die Akteure aus den jeweiligen Herkunftsgesellschaften berichtet: Türken betonen besonders stark die instrumentellen Leistungen eines loyal organisierten Verwandtschaftssystems, in dem "Hilfe in jeder Lage", "Zusammenhalt in der Fremde" und "Einflussnahme" zur Durchsetzung eigenfamilialer Interessen erwartet werden. Demgegenüber erweisen sich italienische Verwandtschaftssysteme eher als auf Sympathie und expressive Aktivitäten gegründet, wobei bei ihnen eine starke Differenzierung von Verwandtschafts- und Freundschaftsbeziehungen erfolgt; eine Vielzahl von (expressiven) Aktivitäten wird bei Italienern überwiegend oder ausschließlich mit Verwandten zusammen unternommen. Während von den Italienern die Verwandtschaftsbeziehungen unter Migrationsbedingungen in hohem Maße als subjektiv zufriedenstellend bewertet werden, ist dies bei den Türken nicht der Fall. Sie äußern sich am häufigsten enttäuscht, weil die Funktionstüchtigkeit des verwandtschaftlichen Zweckverbandes in der Aufnahmegesellschaft erheblich beeinträchtigt ist. Türken äußern vergleichsweise häufig Differenzen mit Verwandten, fühlen sich entweder ausgenutzt oder von ihnen im Stich gelassen, und berichten von einer Lockerung verwandtschaftlicher Beziehungen und von gegenseitiger Entfremdung.

Verwandtschaftsbeziehungen sind in einem austauschtheoretischen Kontext als eine besondere Form von sozialem Kapital anzusehen, das sich typischerweise mindestens durch folgende Eigenschaften auszeichnet:

  1. Soziale Beziehungen mit Verwandten besitzen einen vergleichsweise geringen Legitimationsbedarf, d. h. dauerhafte, vertrauensvolle Beziehungen lassen sich vergleichsweise schnell und unaufwendig herstellen.

  2. Verwandtschaftsbeziehungen weisen einen hohen Grad an Multiplexität auf, so dass das aus ihnen erwachsende soziale Kapital für alle Beteiligten vergleichsweise geringe Verfallsrisiken hat.

  3. Die Höhe des auch zukünftigen individuellen Gewinns aus dem sozialen Kapital und die aus der Verkettung resultierende reziproke soziale Kontrolle verhindert dauerhaft 'free-riding' .

  4. Verwandtschaftsbeziehungen lassen sich wegen des geringen Legitimationsbedarfs auch nach längeren interaktionsfreien Intervallen vergleichsweise leicht re-mobilisieren und lassen entsprechend dem Multiplexitätsgrad auch Diskontierungen in langen Zeiträumen zu.

  5. Die askriptive Mitgliedschaft in Verwandtschaftsbeziehungen begünstigt die Übertragung von sozialem Kapital zwischen den Mitgliedern; je enger die Verwandtschaftsbeziehung, desto geringer ist der Transferverlust.

Natürlich ist es möglich, dass auch nicht-verwandtschaftliche Beziehungen die genannten Merkmale mehr oder weniger ausgeprägt aufweisen: Eine gemeinsame Migration großer Teile eines Dorfes käme dem z. B. sehr nahe. In diesem Falle wären dann die gleichen Effekte auf den Verlauf des Eingliederungsprozesses zu erwarten.

Verwandtschaftsbeziehungen stellen damit (sofern die benannten Bedingungen im Einzelfall zutreffen) unter Migrationsbedingungen eine erhebliche Ressource dar. Dies gilt besonders dann, wenn diese Beziehungen selbst bereits transnational organisiert sind, d. h. 'Stützpunkte' sowohl in der Herkunfts-, als auch in der Aufnahmegesellschaft besitzen. Gerade die besonders erfolgreichen Migrationsbeispiele mit kosmopolitischer Orientierung und weltweitem Aktionsradius etwa vom Typ der Hongkong-Chinesen sind ohne ihre Basis in transnationalen Verwandtschaftsbeziehungen nicht denkbar.

Diese Überlegungen machen deutlich, warum die Mobilisierung von Verwandtschaftsbeziehungen in der Mehrzahl der Fälle die 'näherliegende' Alternative zur ethnic community darstellt: Eine Vielzahl der genannten Bedingungen wird weitaus häufiger erfüllt sein, als die, die für eine ethnische Mobilisierung notwendig sind (M. Hechter, D. Friedman & M. Appelbaum 1982). Zugleich wird aber auch deutlich, dass die Inanspruchnahme dieser Ressource ihren Preis hat, d. h. die kollektiven Investitionen in die (zunächst aufwendige und teuere) Migration muss sich für alle Beteiligten auch lohnen. Dies wird in den häufig romantisierenden und stereotypen Vorstellungen über die verwandtschaftlichen Solidarleistungen in mediterranen Familienstrukturen übersehen, die die Diskussion über Verwandtschaft in Migrantenfamilien stark geprägt haben. Wenn solche Erträge nicht sichtbar eintreten oder nicht mehr erwartbar erscheinen, bleibt den unerfolgreichen Migranten häufig keine andere Wahl, als besonders hohe (kulturelle) Konformität und symbolische Unterwerfung zu bezeugen (P.M. Blau 1964). Negative Bilanzen in den verwandtschaftlichen Tauschbeziehungen, wenn Erträge aus dem Migrationsprojekt nicht sichtbar eintreten oder nicht mehr erwartbar erscheinen, bringen dann nämlich die Migrantenfamilien, die hohe verwandtschaftliche Unterstützung in Anspruch genommen haben, in eine prekäre Lage, in der häufig nur ein Ausweg in "symbolische" Verhaltensweisen bleibt. Ritualistische Konformitätsbezeugungen an die Herkunftskultur gehören hierzu; "Fundamentalismus" in Migrantenminoritäten dürfte hierin seine wesentliche Ursache haben.

Damit sind zugleich Bedingungen benannt, unter denen (a) eine dauerhafte Ablösung des Migranten von seiner Verwandtschaft wahrscheinlich wird: Wenn seine ökonomischen und sozialen Kosten der Aufrechterhaltung dieser Beziehungen dauerhaft den erwarteten Nutzen übersteigen und Alternativen bestehen. Weiterhin sind Bedingungen benannt, unter denen (b) Verwandtschaftsbeziehungen ritualistisch durch Konformitätsbezeugungen mit der Herkunftskultur abgesichert werden: Wenn aus der Migration kein eigenes soziales und ökonomisches Kapital erwächst, das in die Verwandtschaft re-investiert werden könnte, und der Migrant nichts anderes anzubieten hat als Unterwerfung, und Alternativen fehlen.

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4.1 Verwandtschaftskontakte in türkischen Migrantenfamilien

Am Beispiel türkischer Migrantenfamilien sind die sozialen Beziehungen der Familienmitglieder untereinander, zu Verwandten, zu nichtverwandten Mitgliedern der eigenen Herkunftsnationalität und zu Deutschen untersucht worden (B. Nauck & A. Kohlmann 1998). Die Befunde basieren auf der Analyse von egozentrierten Netzwerken aus zwei Generationen türkischer Migrantenfamilien. Sie sind deshalb nicht direkt mit den diskutierten Befunden zur Verfügbarkeit von Verwandten in der Aufnahmegesellschaft vergleichbar. In den Netzwerken erscheinen nur solche Verwandten, zu denen tatsächlich ein Kontakt oder eine intensive Beziehung besteht und mit denen gemeinsame Aktivitäten unternommen werden. Insofern bilden die darin genannten Verwandtschaftsbeziehungen immer eine Teilmenge von (auch im Aufnahmekontext) möglichen Beziehungen.



Tabelle 13:
Räumliche Distanz und Kontakthäufigkeit im Netzwerk türkischer Mütter (M) und Väter (V) in Deutschland


Beziehung


Nennung

Distanz

Kontakt

Ehepartner

M

V

91.0%

93.7%

98.9%

100.0%

97.8%

99.0%

Sohn,
Stief-/Pflegesohn

M

V

73.0%

91.7%

93.2%

100.0%

97.9%

99.5%

Tochter,
Stief-/Pflegetochter

M

V

99.0%

62.9%

99.5%

95.3%

100.0%

98.4%

Vater,
Schwieger-/
Großvater

M

V

16.0%

26.3%

3.1%

5.6%

18.8%

70.4%

Mutter,
Schwieger-/
Großmutter

M

V

30.5%

31.2%

4.9%

10.9%

28.5%

73.4%

Bruder,
Schwager,
sonst. Verw.

M

V

20.5%

42.9%

22.0%

39.8%

41.5%

83.0%

Schwester,
Schwägerin,
sonst. Verw.

M

V

29.0%

32.7%

31.0%

17.9%

61.1%

76.1%

türkischer Freund,
Nachbar,
Kollege

M

V

1.0%

34.1%

*

80.0%

*

88.6%

türkische Freundin, Nachbarin, Kollegin

M

V

14.0%

10.2%

71.4%

66.7%

92.9%

85.7%

deutscher Freund, Nachbar, Kollege

M

V

1.0%

6.8%

*

71.4%

*

92.9%

deutsche Freundin, Nachbarin, Kollegin

M

V

5.0%

2.4%

70.0%

*

90.0%

*

Legende: (Nennung) Anteil der Befragten (N = 405), die diese Beziehung nennen, zugleich Basis für die übrigen Spalten der Tabelle; (Distanz) Anteil der Beziehungen, bei denen mindestens ein Genannter innerhalb derselben Stadt/Region lebt; (Kontakt) Anteil der Beziehungen, bei denen zu mindestens einem Genannten mindestens wöchentlicher Kontakt besteht; * weniger als 10 Genannte.

Insgesamt machen die Befunde deutlich, dass Mitglieder der Gattenfamilie unter den sozialen Beziehungen der türkischen Migrantenfamilie eine dominierende Rolle einnehmen, sie erreichen insbesondere in der Elterngeneration hohe Nennungen, die von Verwandtschaftsmitgliedern nicht annähernd erreicht werden. Diese hervorgehobene Bedeutung wird durch die Befunde zur räumlichen Nähe und zur Kontakthäufigkeit unterstrichen.

Lediglich 34% der türkischen Väter und 14% der türkischen Mütter nennen Kontakt zu mindestens einem gleichgeschlechtlichen Mitglied der eigenen Nationalität außerhalb der Verwandtschaft. Vollkommen bedeutungslos für die Elterngeneration in türkischen Familien sind dagegen Beziehungen zu Angehörigen der Aufnahmegesellschaft: Nur 7% der Väter und 5% der Mütter nennen mindestens eine deutsche Bezugsperson des gleichen Geschlechts. Bei den türkischen Jugendlichen hat sich diese Situation deutlich verändert (Tabelle 14): 40% der türkischen Söhne und 29% der türkischen Töchter nennen mindestens einen deutschen Freund gleichen Geschlechts als Teil ihres Netzwerks.

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Tabelle 14:
Räumliche Distanz und Kontakthäufigkeit im Netzwerk türkischer Töchter (T) und Söhne (S) in Deutschland


Beziehung


Nennung

Distanz

Kontakt

Vater

T

S

54.5%

81.4%

99.1%

100.0%

99.1%

58.1%

Mutter

T

S

86.0%

86.3%

100.0%

100.0%

100.0%

55.9%

Bruder

T

S

49.5%

59.5%

94.9%

95.9%

98.0%

49.2%

Schwester

T

S

59.5%

52.2%

97.5%

93.5%

99.2%

60.7%

Verwandter

T

S

17.5%

29.8%

40.0%

41.0%

74.3%

54.1%

Verwandte

T

S

38.5%

32.2%

61.0%

39.4%

80.5%

59.1%

türkischer Freund,
Nachbar, Schulkamerad

T

S

8.5%

74.1%

82.4%

96.7%

82.4%

47.4%

türkische Freundin,
Nachbarin,
Schulkam.

T

S

53.5%

10.7%

90.7%

86.4%

95.3%

59.1%

deutscher Freund,
Nachbar,
Schulkamerad

T

S

6.5%

40.0%

100.0%

98.8%

100.0%

65.9%

deutsche Freundin, Nachbarin, Schulkam.

T

S

29.0%

10.7%

91.1%

95.5%

98.3%

68.2%

Trotz der eindeutigen Entwicklung zu mehr interethnischen Kontakten in der zweiten Generation haben damit nur relativ wenige türkische Migranten beider Generationen überhaupt interethnische Netzwerkbeziehungen. Zieht man nun die sehr unterschiedlich verteilte quantitative Verfügbarkeit von Angehörigen der Verwandtschaft und der eigenen Ethnie in Betracht, so ergeben sich deutliche Hinweise, dass Verwandtschaftsbeziehungen zumindest für die erste Zuwanderergeneration türkischer Eltern eine sehr wesentliche Rolle spielen und deren soziale Integration konstituieren - wohingegen darüber hinausgehende Kontakte innerhalb der eigenen Ethnie quantitativ kaum noch ins Gewicht fallen: "Binnenintegration" in türkischen Migrantenfamilien verläuft damit nicht entlang ethnischen, sondern entlang verwandtschaftlichen Linien. Gestützt wird diese These auch dadurch, dass die genannten außerverwandtschaftlichen Netzwerkmitglieder keineswegs alle in der unmittelbaren Nachbarschaft wohnen. Dies lässt den Schluss zu, dass die Beziehungen zu Mitgliedern der eigenen Herkunftsnationalität kaum nach dem Muster einer 'ethnic community', d. h. mit hoher Netzwerkdichte, sondern vielmehr nach dem Muster bilateraler 'weak ties' strukturiert sind.

Charakteristisch für Verwandtschaftsbeziehungen in türkischen Migrantenfamilien ist die ausgeprägte Strukturierung nach Generation und Geschlecht:

- Väter nennen häufiger Verwandtschaftsmitglieder in ihrem Netzwerk als Mütter, und zwar sowohl zu weiblichen als auch zu männlichen Verwandtschaftsmitgliedern. Da die Verwandtschaftsbeziehungen der Mütter besonders stark am eigenen Geschlecht orientiert sind (sie nennen zu 31% entweder die eigene Mutter, Großmutter oder Schwiegermutter als Netzwerkmitglied, jedoch nur zu 16% den eigenen Vater, Großvater oder Schwiegervater; bei den intragenerativen Verwandtschaftsbeziehungen zu Geschwistern und Schwagern ist die Relation mit 29% zu 21% weniger ausgeprägt), werden die geschlechtsspezifischen Unterschiede bei männlichen Verwandtschaftsmitgliedern besonders deutlich. Da aber außerhalb der Verwandtschaft für die türkischen Mütter praktisch kaum soziale Beziehungen existieren und diese dann ganz eindeutig auf das gleiche Geschlecht beschränkt sind, bleibt festzuhalten, dass die - in der Migrationssituation nicht selbstverständlich gegebene - Verfügbarkeit von Verwandtschaft den Aktionsraum türkischer Frauen erheblich erweitert und damit die einzige Gelegenheit zur Bildung von sozialem Kapital darstellt. Sie ist insbesondere die einzige Form und Gelegenheit für gemischtgeschlechtliche Beziehungen. Die geschlechtsspezifischen Unterschiede sind auch für die Kontakthäufigkeit und die räumliche Nähe charakteristisch: Mit Ausnahme der Töchter, Stief- und Pflegetöchter haben Väter eine geringere räumliche Distanz zu Verwandtschaftsmitgliedern als Mütter und häufiger Kontakt zu allen Verwandtschaftskategorien. Dies sind deutliche Hinweise darauf, dass die patrilineare und patrilokale Struktur der Verwandtschaft, die als typisch für die Türkei beschrieben worden ist (A. Duben 1982; W. Schiffauer 1987), auch in der Migrationssituation bestehen bleibt. Entsprechend wäre die Abweichung bei den Töchtern auf diejenigen zurückzuführen, die nach - früher - Heirat (B. Nauck 1997) in das Verwandtschaftssystem des Ehemannes übergewechselt sind, und bei denen sich analog die Verwandtschaftskontakte zu den (männlichen) Mitgliedern der Herkunftsfamilie reduzieren.

- Durch die Migration verändert gegenüber der Situation in der Herkunftsgesellschaft dürften dagegen die Proportionen zwischen den inter- und intragenerativen Verwandtschaftsbeziehungen sein. So lebt bei den türkischen Müttern von den genannten Brüdern, Schwagern und übrigen männlichen Verwandten bei 22% mindestens einer in derselben Stadt bzw. Region, bei den Vätern sind es sogar 40%; bei den Schwestern, Schwägerinnen und sonstigen weiblichen Verwandten sind es 31% bzw. 18%. Dagegen lebt nur bei 3% der befragten Frauen und 6% der Männer ein genannter Vater, Schwiegervater oder Großvater in der gleichen Umgebung; nicht zuletzt auf Grund der geschlechtsspezifisch unterschiedlichen Überlebensraten sind die entsprechenden Werte für die Mütter, Schwiegermütter und Großmütter der Befragten mit 5% bzw. 11% etwas höher. Dass der Anteil der Mütter in der Nähe der befragten Männer mehr als doppelt so hoch ausfällt wie der der befragten Frauen, verweist erneut auf die patrilineare Organisationsform der türkischen Migrantenfamilie. Insgesamt ist jedoch charakteristisch, dass die Migrationssituation und die verwandtschaftliche Kettenmigration eine deutliche Akzentverschiebung in Richtung intragenerativ-patrilokaler Wohnformen mit sich bringt, wohingegen die Eltern der befragten Mütter und Väter typischerweise in der Herkunftsgesellschaft verblieben sind.

Wie die Befunde zur Kontakthäufigkeit zeigen, muss räumliche Verfügbarkeit keineswegs der ausschlaggebende Faktor für die Aufrechterhaltung von sozialen Beziehungen sein: 70% der befragten Männer (aber nur 19% der Frauen) haben entweder zu ihrem Vater, Schwiegervater oder einem Großvater mindestens einmal in der Woche Kontakt, und 74% zu ihrer Mutter, Schwiegermutter oder einer Großmutter (aber nur 29% der Frauen).

Nicht entschieden werden kann, ob die konstatierbaren Unterschiede zwischen der Eltern- und der Kindgeneration auf Akkulturations- und Eingliederungsprozesse oder auf die jeweilige Stellung im Lebensverlauf zurückzuführen sind. Entsprechend muss die stärkere Bedeutung von (insbesondere: gleichgeschlechtlichen) Freundschafts- und Kameradschaftsbeziehungen mit Angehörigen der eigenen Ethnie und solchen der Aufnahmegesellschaft keineswegs als Auflösung von Verwandtschaftsbeziehungen infolge assimilativer Kulturkontakte gedeutet werden. Die gegebene Netzwerkkomposition könnte nämlich auch eine altersspezifisch-jugendtypische Strukturierung sozialer Beziehungen sein, die sich spätestens im Verlauf eigener Familiengründungsprozesse wieder denen der Elterngeneration angleichen werden. Zumal entsprechende Vergleichsanalysen zu anderen Migrantenminoritäten und nichtgewanderten Familien fehlen, muss auch Spekulation bleiben, ob die auffallenden Angaben zu den innerfamilialen Beziehungen von türkischen Töchtern und Söhnen (im Alter zwischen 12 und 16 Jahren) als Ausdruck einer besonderen Konfliktlage gedeutet werden müssen: Bei 45% der Töchter und 19% der Söhne wird der Vater nicht als Netzwerkmitglied genannt, jeweils 14% nennen die Mutter nicht. Insbesondere die Söhne geben innerfamiliale Kontakthäufigkeiten an, die nicht von denen zu Mitgliedern der Verwandtschaft und zu Freunden verschieden sind.

Auffällig ist, welch große Bedeutung Geschwister- und Verwandtschaftsbeziehungen im Netzwerk türkischer Jugendlicher in Deutschland haben. 50% der Töchter und 60% der Söhne nennen mindestens einen Bruder als Bezugsperson, 60% der Töchter und 52% der Söhne eine Schwester. Die Beziehung zu Geschwistern ist sicher einerseits auf 'Gelegenheit' in Mehrkindfamilien zurückzuführen; andererseits deutet die im Vergleich zu den Eltern höhere durchschnittliche räumliche Distanz darauf hin, dass diese Beziehungen nicht an das Wohnen im gemeinsamen Haushalt gebunden sind. Insofern scheinen sich schon im Jugendalter Geschwisterbeziehungen soweit zu verselbstständigen, dass daraus die intensiven intragenerativen Verwandtschaftsbeziehungen entstehen, die für die Elterngeneration charakteristisch sind. Obwohl die durchschnittliche räumliche Distanz zu ihnen relativ groß ist, unterhalten die türkischen Jugendlichen vergleichsweise intensive Beziehungen zu Verwandten: Mehr als 70% der weiblichen Jugendlichen und mehr als 50% der männlichen Jugendlichen haben mindestens einmal wöchentlich Kontakt sowohl zu männlichen als auch zu weiblichen Verwandtschaftsmitgliedern. Wie bei den Geschwisterbeziehungen dürfte auch die im Jugendalter aufrechterhaltene Kontinuität in den verwandtschaftlichen Kontakten ein wichtiger Mechanismus für die Entwicklung hoher Solidarpoteziale in Verwandtschaftsbeziehungen türkischer Migrantenfamilien sein.

Näheren Aufschluss über die Güter, die in den Verwandtschaftsbeziehungen türkischer Migrantenfamilien getauscht werden, geben die Aktivitäten, die in diesen Beziehungen unternommen werden. Entsprechend der Typologie von U.G. Foa & E.B. Foa (1974) werden mit den berücksichtigten Netzwerkindikatoren der Austausch von Informationen (‘Besprechen persönlich wichtiger Angelegenheiten’), von Emotionen (‘eine enge persönliche Bindung haben’; ‘die Freizeit miteinander verbringen) und von Dienstleistungen (‘Hilfe geben’; ‘Hilfe erhalten’) erfasst. Die Multiplexität der jeweiligen Beziehung steigt mit der Verschiedenartigkeit der ausgeübten Beziehungen an. In der Terminologie von T. Parsons (1951) wären diese als ‘funktional-diffus’ zu bezeichnen, dagegen solche Beziehungen, die sich auf ein kleines Verhaltenssegment beschränken, als ‘funktional-spezifisch’. Die Multiplexität der Netzwerkbeziehung bezeichnet die durchschnittliche Anzahl der Aktivitäten, die mit jedem Netzwerkmitglied durchgeführt wird. Sie ist am höchsten, wenn alle Aktivitäten mit identischen Netzwerkmitgliedern vorgenommen werden. Hohe Multiplexität des Netzwerks ist stark mit sozialer Homogamie und sozialer Kontrolle verknüpft, wohingegen geringe Multiplexität 'schwache Beziehungen' indiziert, d.h. wie groß die Ausdehnung eines Netzwerks im sozialen Kontext ist (M. Granovetter 1973; B. Wegener 1987).

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Tabelle 15:
Netzwerkaktivitäten von türkischen Müttern (M) und Vätern (V) in Deutschland


Beziehung


Sprechen

Bindung

Freizeit

Hilfe erh.

Helfen

Multiplex

Ehepartner

M

V

94.5%

96.9%

79.1%

85.4%

81.3%

92.7%

42.9%

61.5%

47.8%

52.6%

3.46

3.89

Sohn,
Stief-/
Pflegesohn

M

V

67.1%

63.8%

60.3%

69.7%

69.2%

59.0%

31.5%

48.9%

34.9%

52.7%

2.41

2.68

Tochter,
Stief-/
Pflegetochter

M

V

65.7%

66.7%

61.6%

72.1%

73.7%

52.7%

78.8%

28.7%

39.9%

51.9%

2.84

2.60

Vater,
Schwieger-/
Großvater

M

V

93.8%

87.0%

84.4%

79.6%

0.0%

3.7%

0.0%

3.7%

3.1%

7.4%

1.80

1.78

Mutter,

Schwieger-/Großmutter

M

V

90.2%

89.1%

73.8%

79.7%

9.8%

0.0%

0.0%

4.7%

3.3%

10.9%

1.73

1.79

Bruder,

Schwager/sonst.Verw.

M

V

80.5%

83.0%

58.5%

65.9%

17.1%

13.6%

0.0%

18.2%

2.4%

20.5%

1.55

1.89

Schwester,

Schwägerin/sonst.Vw.

M

V

86.2%

97.0%

69.0%

79.1%

15.5%

10.4%

6.9%

4.5%

13.8%

9.0%

1.74

1.90

gleichgeschl. türk.

Freund/Nachbar/Koll.

M

V

78.6%

61.4%

28.6%

34.3%

50.0%

22.9%

3.6%

22.9%

21.4%

47.1%

1.79

1.78

gleichgesch. Deutscher
Freund/Nachbar/Koll.

M

V

70.0%

100.0%

30.0%

35.7%

10.0%

21.4%

10.0%

14.3%

20.0%

7.1%

1.40

1.73

Tabelle 15 zeigt zunächst, dass die Ehegattenbeziehung in türkischen Migrantenfamilien in allen Aktivitätsbereichen hohe Werte aufweist, jedoch die expressiven Komponenten stärker ausgeprägt sind als die instrumentellen - die hohe Bedeutung, die insbesondere türkische Ehemänner der Ehegattenbeziehung zumessen, wird auch hier daran deutlich, dass sie jeweils mehr gemeinsame Aktivitäten berichten als türkische Ehefrauen. In den Beziehungen der Eltern zu ihren Kindern sind keine geschlechtsspezifischen Unterschiede in den expressiven Aktivitäten festzustellen; jeweils etwa zwei Drittel der Eltern nennen mindestens eine Tochter und einen Sohn, mit denen sie wichtige Angelegenheiten besprechen, gemeinsam die Freizeit verbringen und eine enge persönliche Bindung haben. Bei den instrumentellen Aktivitäten wird hingegen deutlich, dass Töchter in starkem Maße ihre Mütter unterstützen: Beinahe doppelt so viele Mütter geben an, von mindestens einer Tochter Hilfe zu erhalten (79%) als von ihrem Ehemann (43%); dagegen geben mehr Väter an, ihren Töchtern zu helfen (52%) als Mütter (40%). Söhne sind insbesondere in wechselseitige Hilfeleistungen mit ihrem Vater eingebunden: 49% der Väter geben an, mindestens einem Sohn regelmäßig zu helfen, 53% erhalten Hilfe von einem Sohn.

Tabelle 16 gibt die komplementäre Perspektive der befragten Jugendlichen wieder (auf die sich allerdings die Angaben der Eltern nicht unbedingt beziehen müssen). Sofern Eltern als Teil des Netzwerks der Jugendlichen genannt werden, sind sie wichtige emotionale Bezugspersonen, allerdings mit bedeutsamen geschlechtsspezifischen Unterschieden: Söhne nennen wesentlich häufiger als Töchter ihre Eltern als Personen, mit denen sie wichtige persönliche Dinge besprechen und eine starke Bindung haben (die Töchter - diesen Alters - nennen hier häufiger türkische und deutsche Freundinnen, Verwandte und Schwestern). Zwar wird auch in den Angaben der Jugendlichen die geschlechtsspezifische Differenzierung der Hilfeleistungen deutlich (77% der Töchter und 67% der Söhne geben an, ihren - genannten - Müttern zu helfen; 30% der Töchter und 55% der Söhne helfen ihren Vätern), doch fehlt in der Perspektive der Jugendlichen die Reziprozität, da sie selbst kaum Hilfe erhalten. Insgesamt machen die Befunde deutlich, dass die türkische Migrantenfamilie insofern alle Charakteristika des Typus der modernen Gattenfamilie aufweist, als Expressivität, räumliche Nähe, Interaktionsdichte und Diffusität der familialen Beziehungen gegeben und eine deutliche Abgrenzung zu anderen - auch verwandtschaftlichen - Beziehungen bei allen herangezogenen Netzwerkindikatoren sichtbar geworden ist. Die Besonderheit dieses Familientypus wird daran deutlich, dass die interne Rollenstruktur wesentlich von der Allokation instrumenteller Aktivitäten und einer damit verbundenen klaren Aufgabenteilung nach Generation und Geschlecht geprägt ist (E.A. Olson 1982; B. Nauck 1985).

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Tabelle 16:
Netzwerkaktivitäten von türkischen Töchtern (T) und Söhnen (S) in Deutschland


Beziehung


Sprechen

Bindung

Freizeit

Hilfe erh.

Helfen

Multiplex.

Vater

T

S

56.0%

88.6%

46.8%

71.3%

27.5%

13.8%

5.5%

12.0%

30.3%

55.1%

1.66

2.40

Mutter

T

S

61.9%

85.3%

58.0%

75.1%

30.1%

12.4%

5.7%

5.6%

76.7%

67.2%

2.30

2.46

Bruder

T

S

45.5%

73.0%

32.3%

63.1%

37.4%

36.1%

20.2%

23.0%

41.4%

47.5%

1.66

2.24

Schwester

T

S

69.7%

84.1%

55.5%

71.0%

50.4%

23.4%

20.2%

32.7%

43.7%

48.6%

2.05

2.41

Verwandter

T

S

71.4%

86.9%

28.6%

60.7%

20.0%

19.7%

5.7%

4.9%

5.7%

9.8%

1.24

1.67

Verwandte

T

S

75.3%

92.4%

39.0%

71.2%

27.3%

6.1%

11.7%

4.5%

26.0%

15.2%

1.59

1.79

türkischer Freund, Nachbar/Schulkam.

T

S

29.4%

65.1%

58.8%

50.0%

70.6%

89.5%

17.6%

3.3%

5.9%

7.9%

1.49

1.95

türkische Freundin,
Nachbarin/
Schulkam.

T

S

82.2%

63.6%

49.5%

63.6%

69.2%

54.5%

11.2%

13.6%

9.3%

18.2%

2.00

2.05

deutscher Freund,
Nachbar/Schulkam

T

S

61.5%

73.2%

30.8%

54.9%

76.9%

85.4%

7.7%

6.1%

0.0%

4.9%

1.58

2.17

deutsche Freundin,
Nachbarin/Schulkam.

T

S

70.7%

77.3%

41.4%

72.7%

81.0%

45.5%

10.3%

31.8%

6.9%

9.1%

1.94

1.97

Aktivitäten mit der Verwandtschaft unterscheiden sich der Struktur nach nicht von innerfamilialen Aktivitäten, wohl aber in der Häufigkeit: Intergenerationale Verwandtschaftsbeziehungen konzentrieren sich ausschließlich auf expressive Aktivitäten: Die eigenen Eltern und Schwiegereltern sind - wenn sie genannt werden - ausschließlich als Berater in persönlich wichtigen Angelegenheiten auf der Basis einer engen Bindung von Bedeutung, dagegen werden sie - nicht zuletzt wegen der bestehenden räumlichen Trennung - kaum als Bezugspersonen genannt, denen Hilfe gewährt wird oder von denen die Befragten Hilfe erhalten. Demgegenüber werden diese instrumentellen Aktivitäten in den Beziehungen zu Geschwistern, Schwagern und Schwägerinnen deutlich häufiger genannt, und zwar wiederum vornehmlich in den gleichgeschlechtlichen Beziehungen: 18% der Väter erhalten Hilfe von mindestens einem Bruder oder Schwager, 21% geben Hilfe, bei den Müttern fallen diese gegenseitigen Hilfeleistungen mit 7% bzw. 14% deutlich geringer aus. Im Vergleich zu den außerverwandtschaftlich-eigenethnischen Beziehungen fällt auf, dass bei diesen zwar die expressiven Komponenten etwas geringer ausgeprägt sind, nicht jedoch die instrumentellen Aktivitäten. Insbesondere für türkische Männer konstituieren sich diese Beziehungen auf der Basis des Austauschs von Hilfeleistungen.

Einen wichtigen Hinweis auf die Kontinuität und Stabilität in der Beziehungsstruktur türkischer Migrantenfamilien liefern die Netzwerkaktivitäten der Jugendlichen, denn auch sie unterscheiden sich der Struktur nach nicht von denen der Eltern: Geschwister und Verwandte sind wie die Eltern zunächst wegen der emotionalen Beziehungsqualität von Bedeutung; hierbei ist insbesondere die enge Bindung der türkischen männlichen Jugendlichen an Geschwister und Verwandte hervorzuheben. Diese Beziehungen sind jedoch vergleichsweise häufig mit (mehr oder weniger) reziproken instrumentellen Aktivitäten verknüpft: Annähernd die Hälfte der türkischen Jugendlichen gibt an, ihren Geschwistern (beiderlei Geschlechts) zu helfen. Demgegenüber ist die Beziehung zu türkischen und deutschen Freunden weit stärker auf persönliche Gespräche und Freizeitaktivitäten beschränkt.

Wie die Jugendlichen in den intergenerativen Beziehungen mit ihren Eltern erleben sich diese in ihren verwandtschaftlichen und in ihren intraethnischen Beziehungen in nicht-reziproken Austauschrelationen: Nur 23% der türkischen Männer geben an, mindestens von einem türkischen Freund, Kollegen oder Nachbarn Hilfe zu erhalten, während 47% mindestens einmal Hilfe gewähren; noch krasser fällt die Relation zwischen türkischen Frauen und ihren Freundinnen mit 4% zu 21% aus. In den Verwandtschaftsbeziehungen ist diese Diskrepanz nur wenig abgemildert. Da es sich um ein durchgängiges Strukturmuster bei den instrumentellen Beziehungen handelt, kann diese Asymmetrie nicht allein auf die Migrationssituation und die damit gestiegenen Erwartungen der in der Herkunftsgesellschaft Verbliebenen zurückgeführt werden. Sie ist vielmehr Ausdruck einer kulturell stark abgestützten Strategie, in persönlichen Beziehungen möglichst viele Personen durch eine positive Hilfebilanz auf sich zu verpflichten (C. Levi-Strauss 1984), um auf diese Weise das eigene soziale Kapital zu erhöhen. Die Bilanzierung selbst mag gelegentlich von wohlfeilen Klagen begleitet sein (C. Koch & U. Schöneberg 1984) - die dann den Wert des sozialen Kapitals weiter steigern werden. Die positive Hilfebilanz ist somit ein wichtiges Instrument für die Steigerung sozialer Anerkennung in persönlichen Beziehungen. Dieser Mechanismus ist allerdings in seiner Wirksamkeit auf enge, ‘unausweichliche’ Beziehungen begrenzt, bei denen das ‘free rider’-Problem nicht auftreten kann. Entsprechend häufig führt diese Strategie zu Missverständnissen im Kulturkontakt, wenn sie z.B. als universal-altruistisches Verhalten gedeutet wird, und entsprechend erwartbar ist, dass mit einem Anstieg von ‘weak ties’ in den sozialen Beziehungen diese Strategie recht schnell einem ‘tit-for-tat’ weichen wird.

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4.2 Intergenerative Transmission von Netzwerkstrukturen in Migrantenfamilien

Die intergenerative Transmission der sozialen Beziehungen von Mitgliedern der Migrantenfamilien können durch einen Vergleich der Ähnlichkeit der Netzwerkstrukturen bei den Eltern und Jugendlichen untersucht werden (B. Nauck 2001). Tabelle 17 zeigt die empirischen Ergebnisse für die geschlechtsspezifischen Eltern-Kind-Dyaden in italienischen, griechischen und türkischen Familien von Arbeitsmigranten und in Aussiedlerfamilien bezüglich der Mittelwertunterschiede in den Netzwerkcharakteristika und die intergenerative Transmission anhand von Korrelationsmaßen.

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Tabelle 17:
Intergenerative Transmission von Netzwerkcharakteristika zwischen Eltern und Jugendlichen in italienischen (I), griechischen (G), türkischen (T) und Aussiedler- (A) Familien in Deutschland



Mittelwerte

Korrelationen

Väter

Mütter

Söhne

Töchter

Vater – Sohn

Mutter –
Tochter

Netzwerkgröße

I

5.73

5.52

5.63

5.60

.70

.64

G

6.39

5.69

6.18

5.83

.61

.65

T

7.48

6.46

7.86

6.58

.39

.41

A

6.13

6.28

5.99

6.13

.73

.76

Räumliche Nähe

(Anteil der Netzwerkmitglieder in der Nachbarschaft)

I

.87

.87

.92

.91

.50

.45

G

.84

.88

.88

.92

.51

.40

T

.69

.78

.83

.84

.49

.34

A

.85

.83

.89

.87

.47

.68

Kontakthäufigkeit

(Anteil der Netzwerkmitglieder mit mindestens wöchentlichem Kontakt)

I

.92

.91

.96

.96

.38

.36

G

.91

.92

.96

.97

.38

.19

T

.88

.86

.99

.94

(-.04)

.17

A

.96

.94

.99

.97

(.12)

.41

Expressive Aktivitäten

(Anteil der Netzwerkmitglieder, mit denen expressive Aktivitäten ausgeführt werden)

I

.91

.93

.95

.97

.27

.31

G

.90

.93

.95

.96

.18

.38

T

.88

.90

.91

.85

.24

.20

A

.89

.89

.94

.94

.13

.03

Instrumentelle Aktivitäten

(Anteil der Netzwerkmitglieder, mit denen instrumentelle Aktivitäten ausgeführt werden)

I

.69

.75

.76

.73

.31

.39

G

.66

.75

.72

.74

.54

.34

T

.75

.78

.77

.70

.45

.19

A

.72

.82

.75

.73

.32

.24

Verwandtschafts-
zentriertheit

(Anteil der Familien- und Verwandtschaftsmitglieder am Netzwerk)

I

.85

.86

.69

.71

.34

.47

G

.82

.86

.66

.67

.45

.51

T

.87

.95

.67

.76

.20

.25

A

.88

.87

.71

.70

.37

.57

Soziales Kapital

(Summen-Score aller multiplexen Netzwerkbeziehungen)

I

21.7

24.4

24.5

23.8

.52

.46

G

23.0

25.7

25.6

24.9

.55

.48

T

30.6

28.8

33.4

23.0

.60

.41

A

25.0

29.7

25.8

24.8

.54

.60

Intraethnische Netzwerkbeziehungen

(Anteil der eigenethnischen Netzwerkmitglieder)

I

.88

.90

.75

.78

.58

.45

G

.88

.91

.75

.77

.60

.59

T

.98

.97

.90

.91

.26

.11

A

.94

.93

.83

.82

.33

.48

- Bezogen auf die Größe des individuellen Netzwerks ist die intergenerative Transmission relativ stark: Je größer das Netzwerk in der Elterngeneration, desto größer ist es auch bei den Jugendlichen. In den Familien der Arbeitsmigranten aus Italien, Griechenland und der Türkei ist das Netzwerk jeweils in der männlichen Dyade größer als in der weiblichen Dyade. Bei den Aussiedlern aus Russland ist es genau umgekehrt, hier haben jeweils die Mütter und Töchter die größeren Netzwerke. Dieser Befund hängt möglicherweise mit der patrilinearen bzw. matrilinearen Organisation der Familien in den jeweiligen Herkunftskulturen zusammen, wobei jeweils den Familienmitgliedern mehr (außerfamiliäre) Beziehungen gegeben sind, auf deren Geschlecht sich die Verwandtschaftslinie bezieht.

- Im Allgemeinen ist die räumliche Verfügbarkeit und die Kontakthäufigkeit der Netzwerkmitglieder recht hoch. Dies ist allerdings kein Spezifikum von Migrantenfamilien sondern ein allgemeines Charakteristikum von sozialen Beziehungen, die mit einem Netzwerk-Generator erfasst werden: Etwa 90% aller Netzwerbeziehungen in allen nach Generationenzugehörigkeit, Geschlecht und Herkunftsnationalität differenzierten Gruppen werden mit mindestens wöchentlichem Kontakt unterhalten. Dieser "Decken-Effekt" macht es praktisch unmöglich, intergenerative Transmissions-Effekte zu berechnen. Sogar die räumliche Nähe ist relativ stark, wenn auch erwartungsgemäß geringer als bei nichtgewanderten Familien (B. Nauck & A. Kohlmann 1998). Allerdings ist der Anteil der Netzwerk-Mitglieder, der nicht in der Nachbarschaft lebt, bei den Mitgliedern der türkischen Migrantenfamilien durchgängig größer als bei allen anderen Gruppen. Da allein von der Größe der türkischen Migrantenminorität die Chance, Angehörige der eigenen Herkunftsnationaliät in der Nachbarschaft vorzufinden, größer ist als bei allen anderen Gruppen, deutet dieser Befund stark darauf hin, dass türkische Migrantenfamilien in sehr viel stärkerem Maße soziale Beziehungen zu Netzwerkmitgliedern unterhalten, die in der Herkunftsgesellschaft verblieben sind (oder sich an weiter entfernten Orten ebenfalls in einer Migrationssituation befinden). Dieser Befund zeigt, dass türkische Migrantenfamilien eine vergleichsweise starke Bindung an die Herkunftsgesellschaft und dort lebende Familien- und Verwandtschaftsmitglieder haben, was dazu führt, dass sie mehr als andere dazu tendieren, zeit- und kostenaufwendige Sozialbeziehungen über große Distanzen aufrecht zu erhalten.

- Keine bedeutsamen Unterschiede zwischen den Nationalitäten, Geschlechtern und Generationen gibt es bezüglich der expressiven Aktivitäten (gemeinsame Mahlzeiten einnehmen, enge emotionale Beziehungen unterhalten, gemeinsam die Freizeit verbringen): Enge Sozialbeziehungen werden wesentlich durch expressive Aktivitäten konstituiert (was erneut zu einem Decken-Effekt führt, der die Aussagekraft der Korrelationen zwischen den Generationen reduziert). Entsprechend ergeben sich die bedeutsameren Unterschiede hinsichtlich des Ausmaßes, in dem instrumentelle Aktivitäten (über persönliche Probleme sprechen, Hilfe geben und erhalten) Teil der engen persönlichen Beziehungen sind. Übereinstimmend geben mehr Mütter als Väter an, dass sie ihre engen Sozialbeziehungen auch für instrumentelle Aktivitäten nutzen. Allerdings sind instrumentelle Aktivitäten bei den italienischen und griechischen Eltern seltener als bei den türkischen Eltern. Dies lässt den Schluss zu, dass italienische und griechische Familien in ihren engen Beziehungen vor allem Emotionen austauschen, während der Austausch von Informationen, Dienst- und Sachleistungen weniger wichtig ist, während für türkische Familien die Instrumentalität der Primärbeziehungen von ausschlaggebender Bedeutung ist (B. Nauck 1988; B. Nauck & A. Kohlmann 1998). Die aus Russland stammenden Aussiedlerfamilien scheinen eher dem türkischen als dem italienisch-griechischen Muster zu folgen.

- Der hohe Anteil von Verwandtschaftsmitgliedern ist sowohl der Effekt von Kettenmigration (H.M. Choldin 1973; S. Özel & B. Nauck 1987), durch den in vergleichsweise kurzer Zeit ausgedehnte Verwandtschaftsbeziehungen im Aufnahmekontext re-konstituiert werden, als auch der Effekt kontinuierlicher Kontakte zur Herkunftsgesellschaft. Mehr als 80% aller Netzwerkmitglieder in der Elterngeneration aller Herkunftsnationalitäten besteht aus Familienmitgliedern und Verwandten. Dieser Anteil verringert sich durchgängig auf etwa zwei Drittel in der Kindgeneration, aber es ist nicht zu klären, ob dies ein Effekt der stärkeren Assimilation der zweiten Migrationsgeneration oder ob dies lebensaltersbedingt ist, d. h. ob dieser Effekt im Lebensverlauf stabil bleiben wird oder ob ein Wiederanstieg der Verwandtschaftsmitglieder in späteren Lebensstadien zu erwarten ist (z. B. nach der Heirat). Die Verwandtschaftsanteile im Netzwerk sind am höchsten bei den Aussiedlerfamilien und bei den türkischen Migrantenfamilien, am extremsten bei den weiblichen Familienmitgliedern: 95% des Netzwerks türkischer Mütter sind Familienangehörige oder Verwandte (und 76% des Netzwerks weiblicher türkischer Jugendlicher in Deutschland).

- Generell ist der Anteil der Netzwerkmitglieder, die der gleichen ethnischen oder Migrantengruppe angehören, extrem hoch, auch im Vergleich zu empirischen Befunden aus anderen Erhebungen (H. Esser 1990a), die mit einer unterschiedlichen Untersuchungsmethodik gewonnen wurden: Mehr als 90% des Netzwerks der Migranten-Eltern und mehr als 75% des Netzwerks der Migranten-Jugendlichen ist intraethnisch. Dieser Befund ist jedoch weder alarmierend noch überzubewerten, da sich seine Bedeutsamkeit nur aus dem Vergleich zum Anteil der Familien- und Verwandtschaftsmitglieder ergibt: Der Anteil des intraethnischen Netzwerks, der nicht zugleich Teil des Verwandtschaftssystems ist, ist nämlich außerordentlich gering, insbesondere in der Elterngeneration: Nur etwa 5% des intraethnischen Netzwerks der italienischen, griechischen und Aussiedler-Eltern und nur 10% des intraethnischen Netzwerks ihrer Kinder sind nicht Familien- oder Verwandtschaftsmitglieder. Entsprechend ist allgemein festzustellen, dass die Sozialbeziehungen der Migrantenfamilien nicht durch ethnische Linien strukturiert werden, sondern durch das Verwandtschaftssystem. Als Ausnahme können bestenfalls die türkischen Väter und Söhne gelten. Bei den Vätern besteht immerhin 11% ihres sozialen Netzwerks aus Angehörigen der eigenen Nationalität, die nicht zugleich Verwandte sind (bei den türkischen Müttern sind es hingegen nur 2%), bei den türkischen Söhnen sind dies 23% (hingegen bei den türkischen Töchtern nur 15%). Höhere Anteile interethnischer Netzwerkbeziehungen finden sich bei den Italienern und Griechen, bei denen bereits in der Elterngeneration häufigere interethnische Kontakte gegeben sind, die sich bei den Jugendlichen nochmals auf etwa 25% steigern. Aussiedlerfamilien haben dagegen eine fast ebenso stark auf die eigene Herkunftsgruppe beschränkte Netzwerkstruktur wie die türkischen Migrantenfamilien.

- Die Ergebnisse bezüglich der Unterschiede in der Ausstattung mit sozialem Kapital basiert auf der theoretischen Annahme, dass dieses in multiplexen, sich überkreuzenden, häufigen und engen sozialen Beziehungen gebildet wird (J.S. Coleman 1988, 1990; B. Nauck, A. Kohlmann & H. Diefenbach 1997). Erneut ergeben sich deutliche Unterschiede zwischen den Herkunftsnationalitäten und Geschlechtern. Bei den Italienern, Griechen und in den Aussiedlerfamilien ist in der Elterngeneration das soziale Kapital jeweils bei den Müttern größer als bei den Vätern, in türkischen Migrantenfamilien sind es dagegen die männlichen Mitglieder der Familie, die besonders stark in enge, multiplexe und sich überkreuzende Sozialbeziehungen eingebunden sind, wobei dies von allen untersuchten Gruppen insbesondere für die männlichen türkischen Jugendlichen zutrifft. Diese Mobilisierung von sozialem Kapital scheint damit charakteristisch für die Akkulturationsstrategien türkischer Migrantenfamilien zu sein, die einerseits über vergleichsweise geringes Humankapital (und wie alle Migrantenfamilien in Deutschland: Zunächst über sehr geringes ökonomisches Kapital) verfügen, andererseits aber vergleichsweise hohe soziale Distanz verspüren und überdurchschnittlich häufig Diskriminierung erfahren. Unter diesen Bedingungen ist der Rückgriff auf die Solidarpotenziale der "starken", verlässlichen Beziehungen innerhalb der Verwandtschaft die einzig verbleibende Alternative zur Bewältigung des Eingliederungsprozesses - allerdings mit dem Nebeneffekt, dass diese Akkulturationsstrategie vergleichsweise langsam wirkt und immer wieder neue Anlässe für soziale Distanzierung schafft.

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Fazit

(1) Türkische Migrantenfamilien entsprechen durchgängig und in vollem Umfang dem Typus der intimisierten modernen Gattenfamilie, d. h. es überwiegen expressive Funktionen, es gibt eine klare Grenzziehung zwischen inner- und außerfamilialen Beziehungen und es handelt sich nicht um erweiterte Familien. Das Spezifikum dieser Familien ist vielmehr in der klaren internen Statusdifferenzierung und Aufgabenallokation nach Geschlecht, Generation und (der hier nicht thematisierten) Geschwisterrangfolge zu sehen.

(2) Diese familieninterne Differenzierung bezieht sich auch auf die Beziehungen zur Verwandtschaft und zu außerverwandtschaftlichen Mitgliedern der eigenen Ethnie und der Aufnahmegesellschaft. Wie die Netzwerkanalysen belegen, folgen die familialen und verwandtschaftlichen Beziehungen dem gleichen Strukturmuster. Hierbei zeigen Kontakt- und Distanzmaße eine deutliche Tendenz zur Beibehaltung von in der Herkunftskultur dominierenden patrilinearen und patrilokalen Organisationsformen. Das Spezifikum der Migrantenfamilien ist dabei, dass - wegen des Verbleibs der (Groß-)Elterngeneration in der Herkunftsgesellschaft - Kettenmigration insbesondere zur räumlichen Nähe von männlichen Verwandtschaftsmitgliedern der gleichen Generation führt.

(3) Geschlechtsdifferenzierung hat weitreichende Konsequenzen für den sozialen Aktionsraum in der Migrationssituation. Außerverwandtschaftlich-gegengeschlechtliche Beziehungen - auch innerhalb der eigenen Ethnie - kommen für Männer sehr selten, für Frauen praktisch überhaupt nicht vor; entsprechend ist der Aufbau expressiver Verkehrskreise in sehr starkem Maße an die Verfügbarkeit von Verwandtschaft gebunden.

(4) Die primäre Funktion der Verwandtschaftsbeziehungen ist nicht die eines wechselseitigen Systems von Dienstleistungen und materiellen Gütern, sondern die der gegenseitigen emotionalen Unterstützung und Beratung, doch sind instrumentelle Aktivitäten konstitutiv in diese Beziehungen eingeschlossen. Insbesondere intergenerative Beziehungen scheinen in starkem Maße dadurch geprägt zu sein, dass auf der Basis reziproker enger persönlicher Beziehungen die jeweils ältere Generation für Schutz, Rat und symbolische Unterstützung außer Loyalität auch Dienstleistungen und materielle Güter erwarten kann. Zugleich markieren Geschlechts- und Generationszugehörigkeit sowie die Stellung in der Altershierarchie deutlich die Grenzen des Transfers von Dienstleistungen und Gütern.

(5) Verwandtschaftsbeziehungen weisen in türkischen Migrantenfamilien eine bemerkenswerte Kontinuität im Lebensverlauf auf. Wie die Befunde bei den türkischen Jugendlichen zeigen, spielen Verwandtschaftsbeziehungen in ihren sozialen Netzwerken eine große Rolle, und zwar sowohl bezüglich des Kontakts zu Großeltern, Tanten und Onkeln (auch über weite Entfernung und insbesondere bei Jungen) als auch bezüglich der Bedeutung von Geschwisterbeziehungen auch in dieser Altersphase. Intergenerative Transmission von sozialen Netzwerken (B. Nauck, A. Kohlmann & H. Diefenbach 1997) und lebenslange Kontinuität in den Geschwister- und Verwandtschaftsbeziehungen lassen deshalb erwarten, dass diese auch dauerhaft als primäre Ressource für die Bildung von sozialem Kapital herangezogen werden.

(6) Im Vergleich zu den Verwandtschaftsbeziehungen deutscher Familien ergeben sich damit einige bemerkenswerte Unterschiede (B. Nauck & A. Kohlmann 1998): Die Verwandtschaftsbeziehungen konzentrieren sich nämlich in deutschen Familien weitgehend auf solche zwischen den Generationen in direkter Linie, wohingegen Beziehungen zu Verwandten der gleichen Generation (Bruder und Schwester, Schwager und Schwägerin, sonstige Verwandte) sehr viel unbedeutender sind. Ebenso sind die Verwandtschaftsbeziehungen eher matrilinear organisiert und werden von Frauen unterhalten. Bedeutung erhalten verwandtschaftliche Beziehungen durch die Konzentration auf enge persönliche Bindungen und als Freizeitpartner. Hilfeleistungen verlaufen (in dieser Lebensphase) intergenerativ in genau entgegengesetzter Richtung zu denen in den türkischen Familien, d. h. die Leistungen fließen von der jeweils älteren Generation zur jüngeren: Großeltern helfen Eltern häufiger als diese Hilfe zurückgeben, Eltern helfen häufiger ihren Kindern, während deren Beiträge praktisch bedeutungslos sind.

(7) Auch bei anderen Herkunftsnationalitäten stellen soziale Beziehungen zu Verwandten eine zentrale Ressource von Migrantenfamilien dar. Die intergenerative Transmission dieser engen Sozialbeziehungen ist eine wichtige Komponente des Akkulturationsprozesses der zweiten Migrantengeneration (B. Nauck 2001). Mehr als 80% aller Netzwerkmitglieder in der Elterngeneration aller Herkunftsnationalitäten besteht aus Familienmitgliedern und Verwandten, dieser Anteil verringert sich bei Jugendlichen der zweiten Zuwanderungsgeneration auf etwa zwei Drittel, wobei nicht klar ist, ob es sich dabei um ein altersspezifisches Phänomen handelt.

(8) Zwar besteht das Netzwerks der Migranten-Eltern zu 90% aus intraethnischen Sozialbeziehungen und bei den Migranten-Jugendlichen zu über 75%, doch relativiert sich dieser Befund, wenn darin die familiären und verwandtschaftlichen Beziehungen berücksichtigt werden: Der Anteil des intraethnischen Netzwerks, der nicht zugleich Teil des Verwandtschaftssystems ist, ist nämlich insbesondere in der Elterngeneration außerordentlich gering: Nur etwa 5% des intraethnischen Netzwerks der italienischen, griechischen und Aussiedler-Eltern und nur 10% des intraethnischen Netzwerks ihrer Kinder sind nicht Familien- oder Verwandtschaftsmitglieder. Entsprechend ist allgemein festzustellen, dass die Sozialbeziehungen der Migrantenfamilien nicht durch ethnische Linien strukturiert werden, sondern durch das Verwandtschaftssystem.


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