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5 Diskussion und Empfehlungen


Auf der Basis der differenziert ausgebreiteten empirischen Befunde zu Familienbeziehungen in Migrantenfamilien in Deutschland lassen sich die Solidarpotenziale in den Partner-, Generationen- und Verwandtschaftsbeziehungen hinreichend genau identifizieren und ihre Auswirkungen auf den Eingliederungsprozess der Familienmitglieder abschätzen.

(1) Die meisten Familien ausländischer Herkunft stammen aus Gesellschaften ohne ein ausgebautes sozialstaatliches System sozialer Sicherung. Entsprechend werden alle Sozialleistungen und alle Absicherungen gegen die Risiken des Lebens zum ganz überwiegenden Teil unmittelbar zwischen den Generationen erbracht. Diese Funktionen der unmittelbaren materiellen Absicherung durch Generationenbeziehungen haben weitreichende Auswirkungen auf ihre kulturelle Ausgestaltung, d. h. darauf, was Eltern und Kinder füreinander bedeuten, was sie gegenseitig voneinander erwarten und welchen "Wert" sie füreinander haben. Wegen der Langfristigkeit der Ausgestaltung von Generationenbeziehungen sind solche "Werte" von Kindern außerordentlich stabil. Am Beispiel türkischer Familien konnte beobachtet werden, dass sich solche normativen Vorstellungen weder durch die Migration noch wesentlich durch den sozialen Wandel in der Herkunfts- und Aufnahmegesellschaft beeinflussen lassen. Demgegenüber gibt es erhebliche Unterschiede zwischen den verschiedenen Herkunftsnationalitäten. Während die Generationenbeziehungen in deutschen, griechischen und italienischen Familien mit großer Ausschließlichkeit auf ihrer emotionalen Qualität basieren, kommen in türkischen und vietnamesischen Familien (und in abgemilderter Form auch in Aussiedlerfamilien) Nützlichkeitserwartungen von Eltern an Kinder hinzu, die sich auf materielle Transfers, Dienstleistungen und Absicherung gegen die Risiken des Lebens beziehen.

(2) Die Migrationssituation selbst hat unmittelbare Auswirkungen auf die Generationenbeziehungen, lassen sich doch viele Migrationsziele nur im Generationenzusammenhang legitimieren und realisieren. Internationale Migration vollzieht sich typischerweise nicht als individuelle Entscheidung von (arbeitssuchenden) Monaden, sondern als kollektive Unternehmung von Familienverbänden. Die Herkunftsfamilien stellen hierbei zumeist erhebliche Ressourcen zu Beginn des Migrationsprozesses zur Verfügung, die erste Platzierung in der Aufnahmegesellschaft von Nachwandernden vollzieht sich zumeist unter aktiver Beteiligung von Verwandten oder Familienmitgliedern, die bereits im Aufnahmekontext leben. Entsprechend sind Kettenwanderungen und familiär-verwandtschaftliche transnationale Netzwerke ein effiziente Form der erfolgreichen Bewältigung des Eingliederungsprozesses. Migration führt deshalb im Regelfall eher zu einer Intensivierung der Generationenbeziehung, und - trotz der erheblichen Belastungen, die mit dem für die Generationen unterschiedlich verlaufenden Akkulturationsprozess verbunden sind, nicht zu besonders ausgeprägten Generationenkonflikten.

(3) Von besonderer Bedeutung sind diese Generationenbeziehungen bei einem ungesicherten Aufenthaltsstatus. Eine gewünschte oder erzwungene Rückkehr in die Herkunftsgesellschaft bedeutet zugleich, wieder auf soziale Sicherungssysteme zurückgreifen zu müssen, die nicht auf Versicherungsleistungen, sondern auf Generationenbeziehungen basieren. Entsprechend werden Angehörige solcher Nationalitäten, deren Absicherung gegen die Risiken des Lebens in der Herkunftsgesellschaft einerseits auf stabilen Generationenbeziehungen basieren und die andererseits einen ungesicherten Aufenthaltsstatus besitzen, besonders stark die Loyalität ihrer Kinder einfordern und eine besonders intensive soziale Kontrolle ausüben.

(4) Kinder ausländischer Familien antizipieren und internalisieren die Erwartungen der Eltern in hohem Maße. Hierbei gibt es keine gravierenden Unterschiede zwischen den Geschlechtern und den verschiedenen Migrantennationalitäten. Die intergenerative Transmission ist in Migrantenfamilien sehr stark ausgeprägt und übertrifft die in nichtgewanderten Familien der gleichen Nationalität. Dies äußert sich in der Ähnlichkeit der Einstellungen von Eltern und Kindern, der Ko-Orientierung der Generationen aneinander und der starken Übereinstimmung in der Wahrnehmung des Familienklimas. Die ausgeprägte intergenerative Transmission führt dazu, dass die Generationen den Eingliederungsprozess koordiniert "als Konvoi" durchleben.

(5) Die Weitergabe von Kultur zwischen den Generationen ist eine notwendige Bedingung für kulturelle Gemeinsamkeit und Kontinuität, sie erfolgt aber niemals vollständig. Sie bewegt sich in einem Spannungsverhältnis zwischen einer exakten Transmission (und entsprechend keinen bemerkbaren Unterschieden zwischen den Generationen) und einem vollständigen Fehlen jeglicher kulturellen Transmission (und entsprechend keinen bemerkbaren Ähnlichkeiten zwischen den Generationen). Beide Extreme sind gleichermaßen problematisch: Perfekte Transmission würde keinerlei Wandel zulassen und keinerlei Kapazität zur Anpassung an neue Situationen ermöglichen, fehlende Transmission würde dagegen koordiniertes Handeln zwischen den Generationen unmöglich machen und jede intergenerativen Solidarpotenziale zerstören. Migrationssituationen führen sowohl bei den Mitgliedern der Aufnahmegesellschaft als auch bei den Migranten zu einer stärkeren Akzentuierung der jeweils eigenen Kultur. Intergenerative Transmission ist in dieser Situation häufig die einzige Möglichkeit, das kulturelle Erbe aus der Herkunftsgesellschaft oder eine Minoritäten-Subkultur aufrecht zu erhalten. Das Paradoxe an der Migrationssituation ist somit, dass die Elterngeneration zu gleicher Zeit eine größere Schwierigkeit und eine größere Notwendigkeit intergenerativer Transmission von Kultur gegenüberstehen. Einerseits haben elterliche Vorbilder im Aufnahmekontext ihren adaptiven Wert eingebüßt, andererseits können sich die Migranteneltern veranlasst sehen, mit noch größeren Anstrengungen ihre Herkunftskultur an die Kinder weiterzugeben, insbesondere wenn eine diesbezügliche Unterstützung durch kulturvermittelnde Institutionen (z. B. durch entsprechende Bildungsangebote in den Kindergärten und Schulen) weitgehend fehlt.

(6) Die Solidarpotenziale intergenerativer Beziehungen sind für Migranten häufig die wichtigsten sozialen Ressourcen zur Bewältigung des Akkulturationsprozesses. Stabile intergenerative Beziehungen in Migrantenfamilien sind der wichtigste Schutzfaktor gegen eine drohende Marginalisierung von Jugendlichen der zweiten Generation. Als allgemeiner Trend zeigt sich deutlich, dass Migranteneltern am Eingliederungsprozess ihrer Kinder interessiert sind, was sich insbesondere an den hohen Bildungsaspirationen zeigt. Begrenzt wird dies allenfalls dadurch, wenn damit eine (vermutete oder tatsächliche) Gefährdung der Generationenbeziehung verbunden ist; dieser Konflikt verschärft sich insbesondere dann, wenn utilitaristische Werte von Kindern und ungesicherter Aufenthaltsstatus oder explizite Rüchwanderungspläne zusammentreffen.

(7) Partnerwahl und Eheschließungen gehören neben der intergenerativen Transmission in den Eltern-Kind-Beziehungen zu den "strategischen" Entscheidungen bei Angehörigen von Migrantenminoritäten bezüglich des Eingliederungsverhaltens im Generationenzusammenhang. Je nachdem, ob der Ehepartner unter den Mitgliedern der Aufnahmegesellschaft, den Angehörigen der eigenen Migrantenminorität oder unter den Mitgliedern der Herkunftsgesellschaft gewählt wird, hat dies sowohl weitreichende Folgen für den eigenen Eingliederungsprozess und eigene weitere Mobilitätsoptionen des/der Heiratenden als auch für den Sozialisations- und Akkulturationsprozess der aus dieser Verbindung hervorgehenden Kinder.

(8) Heiratsmigration wird in seiner quantitativen Bedeutung in Zukunft zunehmen. Dies gilt insbesondere, so lange eine restriktive Zuwanderungspolitik keine anderen Zuwanderungsmöglichkeiten zulässt und entsprechend insbesondere für solche Personengruppen, deren Herkunftsländer von restriktiven Zuwanderungsmöglichkeiten betroffen sind. Für Angehörige der ersten und zweiten Zuwanderergeneration aus solchen Ländern gibt es starke Anreize, ihren Ehepartner nicht in der Aufnahmegesellschaft, sondern in der Herkunftsgesellschaft zu suchen. Der eigene verfestigte Aufenthaltsstatus dient dann als zusätzliche Offerte auf dem Heiratsmarkt in der Herkunftsgesellchaft, der eingesetzt werden kann, um dort einen Ehepartner mit höherem sozialen Status zu bekommen - ein Vorteil, der auf dem Heiratsmarkt in der Aufnahmegesellschaft weder bezüglich der Einheimischen noch der Angehörigen der eigenen Zuwanderungsminorität zur Geltung käme.

(9) Heiratsmigration ist ein wichtiger Mechanismus der Selbstergänzung von Migrantenminoritäten in Deutschland. Sie trägt dazu bei, dass auch bei den etablierten Zuwandernationalitäten weiterhin mit Migranten der ersten Generation zu rechnen ist, die den Eingliederungsprozess "von vorn" absolvieren, dabei aber auf vergleichsweise günstige Voraussetzungen wegen des Vorhandenseins von Sozialbeziehungen treffen, die für diesen Eingliederungsprozess genutzt werden können.

(10) Soziale Beziehungen zu Verwandten stellen eine zentrale Ressource von Migrantenfamilien dar. Die intergenerative Transmission dieser engen Sozialbeziehungen ist eine wichtige Komponente des Akkulturationsprozesses der zweiten Migrantengeneration. Der Anteil des intraethnischen Netzwerks, der nicht zugleich Teil des Verwandtschaftssystems ist, ist dagegen insbesondere in der Elterngeneration außerordentlich gering: Weniger als 10% des intraethnischen Netzwerks von Familien ausländischer Herkunft sind nicht Familien- oder Verwandtschaftsmitglieder. Entsprechend ist allgemein festzustellen, dass die Sozialbeziehungen der Migrantenfamilien nicht durch ethnische Linien strukturiert werden, sondern durch das Verwandtschaftssystem.

Entsprechend unterstreichen und illustrieren die vorgelegten empirischen Befunde die Schlussfolgerungen und Empfehlungen, die im Zusammenhang mit dem 6. Familienbericht der Bundesrepublik Deutschland zur Situation "Familien ausländischer Herkunft in Deutschland" formuliert worden sind (6. Familienbericht 2000):

Die Bevölkerung der Bundesrepublik Deutschland wird sich auch längerfristig zu einem großen Teil nicht nur durch Geburten, sondern auch durch Zuwanderungen ergänzen. Durch Heiratsmigration und Familiennachzug sowie durch Asylbewerber mit verfestigtem Aufenthaltsstatus wird es immer wieder neue "Erste Generationen" von Familien ausländischer Herkunft mit unmittelbaren Migrationserfahrungen geben. Migration ist dabei in aller Regel ein Familienprojekt, das nicht in einer Generation abgeschlossen ist, sondern mehrere Generationen umfasst und in ihnen seine Folgen hinterlässt. Familien ausländischer Herkunft brauchen deshalb eine langfristige Perspektive, damit sie ihre Aufgaben erfüllen zu können. Dies setzt insbesondere Überschaubarkeit und Kontinuität in den politischen und administrativen Rahmenbedingungen und Steuerungsinstrumenten voraus. Häufige Änderungen in den familien- und ausländerpolitischen Regelungen und eine allzu starke Betonung des Opportunitätsprinzips bei der Durchsetzung aufenthaltsrechtlicher Bestimmungen führen nicht nur zu einer starken Verunsicherung von Familien ausländischer Herkunft, sie behindern auch die Eigeninitiative dieser Familien und verhindern langfristige Investitionen in das Humanvermögen nachfolgender Generationen.

Gemeinsame Wanderung und die personalen Ressourcen von Frauen und Müttern sind für eine positive Gestaltung des familiären Migrationsprojektes wichtige Grundvoraussetzungen. Rechtsbestimmungen sind daraufhin zu überprüfen, ob sie zu einer Ungleichheit zwischen den Ehepartnern führen; dies ist z. B. dann der Fall, wenn im Bereich der Aussiedlereingliederung innerhalb einer Familie unterschiedliche Ansprüche auf Eingliederungshilfen (z. B. Sprachkurse) bestehen, weil der eine Ehepartner die deutsche Staatsangehörigkeit sofort erhält, der andere aber seinen Ausländerstatus behält. Ebenso ist sicherzustellen, dass für Familien ausländischer Herkunft, die sich in der Phase der ehelichen Anpassung oder in der Familiengründungsphase befinden, diese sensible Phase, die häufig entscheidend für die Ehezufriedenheit und Familienentwicklung ist, nicht durch räumliche Trennung und administrative Erschwernisse belastet wird. Die Formen der Heirats- und Familienmigration sind für eine Stärkung des Humanvermögens und für eine sinnvolle Eingliederung in die Deutsche Gesellschaft zu nutzen. Das ausdifferenzierte System von verschiedenen Formen der Verfestigung des Aufenthaltsstatus in Verbindung mit einem Ausbau der Zivilgesellschaft sind dahingehend weiterzuentwickeln, den Aufenthaltsstatus nicht länger primär an Abstammung und Aufenthaltszeiten zu binden, sondern an erbrachte Leistungen. So könnte z. B. eine Verfestigung des Aufenthaltsstatus an Bildungszertifikate, an die Beherrschung der deutschen Verkehrssprache, Kenntnis des demokratischen Rechtsstaats oder (im Falle von Heirats- und Familienmigration) an Kenntnisse des Erziehungs- und Bildungssystems geknüpft werden.

Die Solidarpotenziale in Familien ausländischer Herkunft stellen am wirksamsten sicher, dass keine Marginalisierung der ausländischen Kinder und Jugendlichen erfolgt. Eine familienorientierte Ausländerpolitik muss insbesondere sicherstellen, dass der Ausgang des Eingliederungsprozesses der zweiten Migrantengeneration nicht "Marginalisierung" ist, bei der jegliche soziale Bindungen und eine kulturelle Identität fehlen. Jugendkriminalität, Drogenmissbrauch, Verwahrlosung und psychische Erkrankungen sind erwartbare Konsequenzen einer solchen Entwicklung. Besondere Risiken für eine solche Entwicklung ergäben sich daraus, wenn in einer Aufnahmegesellschaft zwar (zumeist unter dem Namen "Ausländerintegration") "Assimilation" als Ablösung von der Herkunftskultur propagiert, gefordert und betrieben wird, aber Gelegenheiten für die Übernahme von sozialen Positionen in der Aufnahmegesellschaft (insbesondere: im Beschäftigungssystem) nicht bereitstehen und soziale Distanzierung den Lebensalltag bestimmt. Gerade vor diesem Hintergrund ist "Segregation" als Form ethnischer Abschließung, die auch Verdichtung der sozialen Beziehungen bedeutet, eine dann verständliche Reaktion des Selbstschutzes vor Marginalisierung; Ziel der Bemühungen sollte jedoch sein, gleiche Chancen für die Partizipation an der Aufnahmegesellschaft zu ermöglichen, ohne dass dies zwangsläufig mit einer Aufgabe der Herkunftskultur und mit einem Verlust sozialer Bindungen zu Mitgliedern der Herkunftsgesellschaft verbunden ist. Die Solidarpotenziale der Familien ausländischer Herkunft stellen am wirksamsten sicher, dass die besonderen Belastungen, die in Zusammenhang mit Bürgerkrieg und politischer Verfolgung entstehen, für die Familienmitglieder gemildert werden und sie Kräfte entwickeln, diese Belastungen zu verarbeiten. Rechtsbestimmungen sind so zu gestalten, dass diese Solidarpotenziale sich optimal entfalten können. So sollten z. B. die Familienmitglieder von Asylbewerbern möglichst schnell zusammengeführt werden, wenn diese zu unterschiedlichen Zeitpunkten oder auf unterschiedlichem Wege in der Bundesrepublik eingetroffen sind.

Die Handlungsbedingungen für Familien ausländischer Herkunft sind so zu gestalten, dass sie ihren familiären Solidarverpflichtungen nachkommen können: Hierzu gehört insbesondere auch die Sorge und die Pflege von Familien- und Verwandtschaftsmitgliedern in der Herkunftsgesellschaft und der Erhalt lebenslanger Mobilitätsoptionen. Anpassungsleistungen unter Migrationsbedingungen, die Übernahme neuer Rollen und die fortlaufende Gestaltung des Generationenverhältnisses sind von der Familie als Solidargemeinschaft abhängig. Familien ausländischer Herkunft entfalten diese Solidarpotenziale selbst dann zu außerordentlich großer Wirksamkeit, wenn keine ethnischen Kolonien unterstützend verfügbar sind. Sie unterhalten enge verwandtschaftliche Beziehungen auch dann, wenn hierzu die Überwindung größerer räumlicher Entfernungen notwendig sind. Immer mehr Angehörige der ersten Migrantengeneration kommen ins Rentenalter bzw. sind in einem Alter, in denen sie selbst Eltern zu pflegen und zu versorgen haben. Familien ausländischer Herkunft müssen bei ihrer ausgeprägten Bereitschaft, Pflegeleistungen im Falle von Krankheit und Alter ihrer Familienangehörigen zu übernehmen, gefördert und durch ambulante Dienste unterstützt werden.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | September 2002

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