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[Seite der Druckausg.:7]





I. Problemstellung


Kaum ein Zukunftsthema findet in der wissenschaftlichen wie der politischen Diskussion eine so uneingeschränkte Zustimmung wie die Notwendigkeit des lebenslangen Lernens. Vor allem in einer Volkswirtschaft, deren bisherige Erfolge und internationale Wettbewerbsstärke wesentlich auf der Erstellung relativ humankapitalintensiver Produkte und Dienstleistungen beruhen, gelten vermehrte Investitionen in Aus- und Weiterbildung der Arbeitskräfte ("most valuable assets") als unabdingbare Voraussetzung, um die zukünftige Wettbewerbsfähigkeit des Standortes zu sichern. Sowohl OECD [Auf ihrer Konferenz 1996 einigten sich die Bildungsminister der OECD-Länder auf folgendes ehrgeizige Ziel: "Lifelong learning will be essential for everyone as we move into the 21 st century and has to be made accessible to all" (OECD 1996, S. 21).] als auch EU [Die verschiedenen Initiativen der EU, die Aktivitäten zum lebensbegleitenden Lernen in den Mitgliedsländern zu intensivieren fasst das "Memorandum über Lebenslanges Lernen" vom Oktober 2000 noch einmal zusammen (EU 2000).] haben wiederholt die Notwendigkeit des lebenslangen Lernens betont, ihre zentrale Bedeutung für wirtschaftliches Wachstum und hohe Produktivitätszuwächse aufgezeigt (OECD 1998; OECD 2001a), ihr einen herausragenden Stellenwert in ihren politischen Konzeptionen zugewiesen und den Mitgliedsländern entsprechende Aktivitäten empfohlen.

In einem merkwürdig defizitären Verhältnis hierzu sind die bisherigen Politikansätze geblieben. Es fehlt ein gesellschaftlich akzeptiertes Konzept, das allen Beschäftigten Zugang zu lebensbegleitender beruflicher Weiterbildung sichert. Angesichts der konzeptionellen Lücke nimmt es auch nicht Wunder, dass es lange Zeit an zielgerichteten und koordinierten Aktivitäten mangelte, die die institutionellen, finanziellen, organisatorischen sowie curricularen Voraussetzungen schaffen, damit lebenslanges Lernen zu einem festen Bestandteil im beruflichen Alltagsleben möglichst aller Beschäftigten werden kann. Dieser Umstand ist nur schwer nachvollziehbar, da allen beteiligten Akteuren klar sein dürfte, dass vermehrte Investitionen in Humankapital nicht nur den einzelnen Individuen und Betrieben, sondern auch der Gesellschaft insgesamt zusätzliche Erträge versprechen. Ebenso wenig ist nachvollziehbar, wie eine von den Arbeitgeberverbänden favorisierte vorrangig marktgesteuerte berufliche Weiterbildung in der Lage sein soll, die aufgrund der zukünftigen Arbeitsmarktentwicklung steigenden Qualifikationsanforderungen zu meistern, wenn es bereits dem bestehenden Weiterbildungssystem trotz eines hohen Arbeitskräfteüberhangs nicht gelingt, partielle Angebots-Nachfrage-Diskrepanzen rasch, und besser noch präventiv, auszuräumen.

Da erhöhte Investitionen in gesellschaftliches Humankapital stets auch verteilungspolitische Fragen betreffen, dürfte ein nicht unwesentlicher Grund für die nur schleppend vorankommende weiterbildungspolitische Diskussion in der bislang ungeklärten Frage zu suchen sein, wer für die zusätzlichen Investitionen aufkommen soll. Neben den direkten Kosten (Gebühren, Lernmaterialien usw.) gilt dies besonders für die indirekten Kosten für die während der Weiterbildungszeit zu zahlenden (oder entgangenen) Einkommen. Damit rücken Zeitfragen in den verteilungspolitischen Mittelpunkt. Wenn von einem durchschnittlich steigenden Pensum an individueller Weiterbildungszeit auszugehen ist, stellt sich die Frage, ob hierfür zukünftig zusätzliche Teile der Arbeits- oder der Freizeit zu reservieren sind oder ob sich Mischungsverhältnisse beider Zeitbereiche finden lassen. In diesem Zusammenhang ist auch die über den Bereich der beruflichen Weiterbildung hinausgehende Diskussion zu sehen, die

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die berufliche Erstausbildung einbezieht und eine Neuverteilung von Lernzeiten über die gesamte Erwerbsphase anstrebt. Die Neubestimmung von Lernzeiten ist nicht nur als eine bloße zeitorganisatorische Angelegenheit zu begreifen. Sie hat weitreichende Konsequenzen für die curriculare und organisatorische Gestaltung sowohl der beruflichen Erst- als auch Weiterbildung. Aber selbst diese Perspektivenerweiterung ist der Aufgabe, einen Rahmen für lebenslanges Lernen zu entwerfen, nicht angemessen. Im Grunde gehört das gesamte Bildungssystem auf den Prüfstand und ist konzeptionell unter der Perspektive des lebenslangen Lernens neu auszurichten [Diesem Anspruch können auch die nachfolgenden Ausführungen nicht genügen. Einen umfassenderen Vorschlag hat der „Sachverständigenrat Bildung bei der Hans-Böckler-Stiftung„ (1998) gemacht.].

Neue Impulse in die Debatte um lebenslanges Lernen haben jüngst verschiedene tarifliche und betriebliche Vereinbarungen bringen können, zu denen vor allem der im Sommer 2001 in der Metallindustrie von Baden-Württemberg abgeschlossene Tarifvertrag sowie der nur wenig später vereinbarte Haustarifvertrag bei der Volkswagen AG für die "Auto 5000 GmbH" zählen. Der Tarifvertrag für Baden-Württemberg sichert den Beschäftigten einen Anspruch auf regelmäßige Gespräche über Qualifizierungsnotwendigkeiten und -wünsche und bei der Volkswagen AG auf Weiterbildungszeiten von 3 Stunden pro Woche, davon die Hälfte als bezahlte Arbeitszeit. Mit wegweisenden Ideen haben auch die im Bündnis für Arbeit kooperierenden Vertreter von Bundesregierung, Arbeitgeberverbänden und Gewerkschaften die Diskussion belebt. Wiederholt haben sie vorgeschlagen, Arbeitszeitkonten einzurichten und u. a. für berufliche Weiterbildung zu nutzen [In der gemeinsamen Erklärung des 6. Spitzengesprächs vom 10. Juli 2000 heißt es: "Wir sehen in langfristigen Arbeitszeitguthaben eine Möglichkeit, Lebenslagen orientiert in Weiterbildung, in Altersvorsorge und in ein vorzeitiges Ausscheiden aus dem Erwerbsleben zu investieren" (Presse- und Informationsamt 2000). Dieser Gedanke wird auf dem 7. Spitzengespräch am 4. März 2001 untermauert: "Die Tarifvertragsparteien werden die Rahmenbedingungen für Weiterbildung im Sinne eines lebenslangen Lernens vereinbaren. Zeitinvestitionen für Qualifizierung sind neue Aufgaben der Arbeitszeitpolitik. Die Tarifvertragsparteien streben im Zusammenhang mit der Nutzung von Langzeitkonten und anderen arbeitszeitpolitischen Maßnahmen an, dass bei einem Einsatz von Zeitguthaben für Weiterbildung zugleich auch Arbeitszeit investiert wird." ( http://www.bundesregierung.de/top/sonstige/Schwerpunkte/ Bue ndnis fuer Arbeit/ix 7274.htm)].

Diesen Gedanken haben einige erste Überlegungen aufgegriffen und versucht, Eckpunkte für einen konzeptionellen Rahmen von Lernzeitkonten zu entwerfen (Senatsverwaltung 2001; Seifert 2001). Ein Anfang ist also gemacht. Die nachfolgenden Ausführungen knüpfen an dieser aufkeimenden Debatte an. Sie stellen die bisherigen konzeptionellen Vorschläge vor und versuchen, sie weiter zu präzisieren (Teil IV). Zuvor gilt es, die aktuellen sowie die zukünftigen auf Grund der absehbaren Arbeitsmarktentwicklung sich abzeichnenden Handlungsbedarfe der beruflichen Weiterbildung kurz zu beschreiben (Teil II). Der hieran anschließende Überblick untersucht, welche rechtlichen, tariflichen und betrieblichen Anspruchsgrundlagen bereits Zeitansprüche auf berufliche Weiterbildung bieten (Teil III). Danach wird gezeigt, welche zeitorganisatorischen Voraussetzungen für die Etablierung und Nutzung von Lernzeitkonten bestehen. Vor diesem Hintergrund werden die in die Diskussion gebrachten Konzepte zur Etablierung von Lernzeitkonten vorgestellt, diskutiert und bewertet.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | Februar 2002

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