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TEILDOKUMENT:


[Seite der Druckausg.: 43]



Jörg-Dietrich Hoppe
Bedarfsgerechte medizinische Versorgung und Anforderungen an die Gestaltung des Gesundheitswesens


  1. Der medizinische Fortschritt und die demographische Entwicklung hin zu einer „Gesellschaft des langen Lebens„ haben zu einer Leistungsdynamik im Gesundheitswesen geführt, die mit der Mobilisierung vermeintlicher „Wirtschaftlichkeitsreserven„ allein nicht mehr aufgefangen werden kann. Die unter dem Primat der Beitragssatzstabilität zur Verfügung stehenden Mittel reichen nicht aus, um das derzeitige Versorgungsniveau der GKV aufrecht zu erhalten und gleichzeitig den Fortschritt im Gesundheitswesen zu gewährleisten.

Dank des medizinischen Fortschritts ist die durchschnittliche Lebenserwartung in Deutschland und anderen hochindustrialisierten Ländern in den letzten Jahrzehnten kontinuierlich gestiegen. Immer mehr Menschen, die früher ohne die Möglichkeit wirksamer Hilfe gestorben wären, erreichen durch den medizinischen Fortschritt ein höheres Lebensalter. Die Menschen werden älter, sind im Alter aber häufiger krank und oft auch dauerbehandlungsbedürftig. Hinzu kommt, dass viele alte Menschen an mehreren Erkrankungen gleichzeitig leiden (Multimorbidität). Die Leistungssteigerungen der Medizin bewirken aber auch, dass die Bevölkerung insgesamt besser versorgt werden kann. Viele unentdeckte Leiden können mit verbesserter Diagnostik frühzeitig erkannt werden. Bisher erfolglos therapierte Patienten werden in Zukunft geheilt werden können. Die Patienten werden aber nur dann von den neuen Möglichkeiten der Medizin profitieren können, wenn die Finanzierung der gesetzlichen Krankenversicherung auf Dauer gesichert ist. Eine rein ökonomisch begründete Begrenzung der Ausgaben wird zwar nicht den medizinischen Fortschritt aufhalten können, wohl aber dazu führen, dass immer weniger Menschen in den Genuss dieses Fortschritts kommen. Die Angst der Versicherten vor einer Zweiklassen-Medizin durch eine rigide Begrenzung der finanziellen Mittel ist daher nur allzu berechtigt.

[Seite der Druckausg.: 44]

  1. Zu knapp bemessene und nicht am medizinischen Bedarf ausgerichtete sektorale Budgets verhindern eine bedarfsgerechte Versorgung.

Trotz aller Reglementierungen und ökonomischen Zwangsmaßnahmen der vergangenen drei Jahrzehnte ist es der Ärzteschaft gelungen, insgesamt eine ausreichende Versorgung der Patienten sicherzustellen. Die Dauerbudgetierung der letzten Jahre hat aber dazu geführt, dass in vielen Fällen eine bedarfsgerechte Versorgung zunehmend schwieriger wurde. In einigen Bereichen - beispielsweise bei der Verordnung hochwirksamer innovativer Medikamente – hatte die starre Budgetierung von GKV-Ausgaben Leistungseinschränkungen zur Folge, die von den Patienten als Mangelversorgung empfunden wurden. Die Budgets waren nicht am Versorgungsbedarf, sondern ausschließlich an der Beitragssatzstabilität ausgerichtet. Der Versuch, Nachfrage zu steuern, indem man die Angebotsmenge rationiert, führte zu einer Mangelverwaltung.

  1. Mit einer optimalen Ressourcennutzung allein wird eine bedarfsgerechte Versorgung nicht aufrecht zu erhalten sein. Denn Ursache der Finanzkrise der gesetzlichen Krankenversicherung ist nicht die immer wieder behauptete „Kostenexplosion", sondern in erster Linie die schwierige Einnahmensituation der Kassen.

Seit über 20 Jahren bewegen sich die Gesundheitsausgaben etwa im Gleichschritt mit der allgemeinen wirtschaftlichen Entwicklung; der Anteil der GKV-Ausgaben am Bruttoinlandsprodukt (BIP) ist seit 1980 so gut wie konstant geblieben. Bald könnte das Gegenteil eintreten: Bei einer dauerhaften Anbindung der Ausgaben an die Grundlohnsumme würde das Gesundheitswesen von der volkswirtschaftlichen Gesamtentwicklung abgekoppelt. Denkbar wäre dann eine Entwicklungsperspektive des Gesundheitswesens unterhalb des BIP-Zuwachses. In den Krankenhäusern sind die Konsequenzen einer solchen Politik schon jetzt zu besichtigen.

[Seite der Druckausg.: 45]

  1. Durch die chronische Unterfinanzierung der Krankenhäuser bei Betriebsmitteln und Investitionen sind die Strukturen für eine gute Patientenversorgung nicht mehr gegeben.

Unbezahlte Überstunden, hohe Arbeitsverdichtung, unsichere Arbeitsverhältnisse und schlechte Bezahlung kennzeichnen den Arbeitsalltag, insbesondere der jungen Ärztinnen und Ärzte, am Krankenhaus. Auf diese Situation, die einer Ausbeutung der Krankenhausärzte gleichkommt, hat zuletzt der Deutsche Ärztetag aufmerksam gemacht. Er forderte die Verantwortlichen auf Bundes- und Landesebene, insbesondere aber auch die Krankenkassen und Krankenhausträger dazu auf, für verantwortbare Arbeitsbedingungen in den Krankenhäusern Sorge zu tragen und eine den geltenden Gesetzen entsprechende Arbeitsbelastung der Krankenhausärztinnen und -ärzte sicherzustellen.

  1. Angesichts der demographischen Entwicklung und des Fortschritts im Gesundheitswesen ist die ausschließliche Anbindung der GKV-Einnahmen an das Arbeitseinkommen keine auf Dauer tragfähige Lösung. Zur Sicherung der Finanzierungsgrundlagen der GKV müssen auch andere Einkommensarten berücksichtigt werden, beispielsweise Kapitaleinkünfte.

Die Regierungen haben auf die Finanzierungskrise im Gesundheitswesen bisher nur mit phantasielosen Kostendämpfungsgesetzen reagiert, entweder nach dem „Rasenmäherprinzip„, d.h. alle Bereiche wurden gleichmäßig gekappt, oder nach dem Prinzip der „Verschiebebahnhofpolitik„, um Löcher in der Rentenkasse oder in der Arbeitslosenversicherung zu stopfen. An den strukturellen Problemen haben diese Maßnahmen nichts ändern können. Denn die Ursache der Einnahmekrise besteht im Kern in der Bindung der Einnahmen der gesetzlichen Krankenversicherung an den Produktionsfaktor Arbeit. Bei unbefriedigender Konjunkturlage, insbesondere bei hoher Arbeitslosigkeit, wird diese ausschließliche Anbindung der GKV-Einnahmen an die Arbeitseinkommen zum Problem. Schon eine geringfügige Zunahme der Arbeitslosigkeit führt zu erheblichen Einnahmeausfällen.

[Seite der Druckausg.: 46]

  1. Die steigende Lebenserwartung der Versicherten verlangt mehr Eigenverantwortung im Gesundheitsverhalten und eine stärkere Förderung der Prävention.

Mit dem Fortschritt in der Medizin sind auch die Ansprüche der Patienten und die Hoffnung, geheilt werden zu können, gestiegen. Die Medizin darf aber nicht als Reparaturbetrieb betrachtet werden. Viele Erkrankungen könnten vermieden oder frühzeitig erkannt werden, wenn die Bereitschaft zur Eigenverantwortung, Prävention und Individualvorsorge noch größer wäre. Die Ärzteschaft fordert deshalb schon seit Jahren, wissenschaftlich nachprüfbare und qualitätsgesicherte Maßnahmen zur Prävention stärker zu fördern.

  1. Die medizinische Versorgung muss auch zukünftig ausreichend und zweckmäßig sein, darf allerdings auch aus Gründen der Mittelknappheit das Maß des Notwendigen, so wie im SGB V gefordert, nicht überschreiten. Daher muss der Leistungsumfang in der GKV - unter Einbeziehung aller an der Gesundheitsversorgung Beteiligten - nach nicht notwendigen Leistungen durchforstet sowie versicherungsfremde Leistungen aus der GKV ausgegliedert werden.

Allerdings muss auch der neu zu gestaltende Leistungskatalog eine bedarfsgerechte Versorgung nach dem Notwendigen sichern. Gesundheitsleistungen aber, die über das Notwendige hinausgehen und rein persönlichen Bedürfnissen wie dem des Wohlbefindens dienen, sollten privat bezahlt werden. Hier kann und darf der Versicherte nicht die Solidargemeinschaft belasten. Für den Versicherten muss es daher Wahlmöglichkeiten geben, um dem individuellen Bedürfnis nach Gesundheitsleistungen entsprechen zu können.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | Februar 2002

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