FES HOME MAIL SEARCH HELP NEW
[DIGITALE BIBLIOTHEK DER FES]
TITELINFO / UEBERSICHT



TEILDOKUMENT:


[Seite der Druckausg.: 37]



Hans Jürgen Ahrens
Über-, Unter- und Fehlversorgung im deutschen Gesundheitswesen


Die Spitzenvertreter der gesetzlichen Krankenkassen reisen zur Zeit von Konsensgespräch zu Konsensgespräch mit der Bundesgesundheitsministerin. Die Konsensgespräche am Runden Tisch zur Zukunft des Gesundheitswesens starten gerade. Bei all diesen Konsensbemühungen darf nicht vergessen werden, dass gerade im Bereich der Arzneimittelversorgung die Konsensgespräche erst notwendig wurden, nachdem die Politik meinte, hier andere Weichen stellen zu müssen. Ohne diese Konsensgespräche werden über kurz oder lang die gesetzlichen Krankenkassen nicht davor verschont, den steigenden Ausgaben mit Beitragssatzerhöhungen begegnen zu müssen.

Dieser Handlungsdruck ist auch darin begründet, dass die GKV heute Lasten zu schleppen hat, die der Gesetzgeber im Rahmen der sogenannten Verschiebebahnhofpolitik der gesetzlichen Krankenversicherung aufgeschultert hat. So muss die GKV allein in diesem Jahr Einnahmeausfälle in Höhe von 9 Mrd. DM hinnehmen, verursacht unter anderem durch die Absenkung der Beitragsbemessungsgrundlagen für Arbeitslose von 100 % auf 80 %, der Absenkung der Beitragsbemessungsgrundlage für Arbeitslosenhilfeempfänger von 80 % auf 58 %, der Absenkung der Zuzahlung von Arzneimitteln und der Chronikerregelung sowie den Auswirkungen aus dem Einmalzahlungsgesetz und aus der Reform der Erwerbsminderungsrente. Zu diesen finanziellen Belastungen kommen Belastungen der Krankenkassen im Westen durch den gesamtdeutschen Risikostrukturausgleich.

Dieser finanzielle Handlungsdruck in der gesetzlichen Krankenversicherung nimmt zu. Die AOK hat mehrfach die Politik daran erinnert, diesen Belastungen mit einem Konsolidierungsgesetz zu begegnen. Bisher ohne Resonanz.

Das deutsche Gesundheitswesen steht nicht allein unter finanziellem Handlungsdruck. So hat der Sachverständigenrat für die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen in seinem letzten Sondergutachten festgestellt, dass bei

[Seite der Druckausg.: 38]

einer internationalen Betrachtung Deutschland zwar bei den Gesundheitsausgaben jeweils mit an der Spitze rangiert, im Hinblick auf objektive Outcome-Indikatoren wie Lebenserwartung und verlorene Lebensjahre aber nur im Mittelfeld rangiert. Und im weiteren folgert der Rat, dass selbst unter Berücksichtigung einer begrenzten Aussagekraft dieser Indikatoren nicht nur Hinweise auf erhebliche Schwächen in der Struktur und der derzeitigen Mittelallokation im deutschen Gesundheitswesen in dieser Feststellung gesehen werden können, sondern auch Ansatzpunkte für die Nutzung erheblicher Qualitäts- und Wirtschaftlichkeitsreserven. Prof. Lauterbach hat in seinem Vortrag dazu Beispiele gebracht.

Bildlich gesprochen bedeutet das nichts anderes, als dass die Deutschen das Geld für einen Luxuswagen ausgeben, dafür aber nur ein funktionsfähiges Mittelklassefahrzeug erhalten. Und wenn die finanziellen Belastungen weiterhin zunehmen, könnte es in Zukunft sogar nur noch einen Kleinwagen als Gegenleistung geben.

Die Ursachen hierfür liegen neben der bereits beschriebenen Verschiebebahnhofpolitik vor allem in den Überkapazitäten in nahezu allen Versorgungsbereichen. Dieses Überangebot determiniert zudem eine steigende Nachfrage nach Gesundheitsleistungen und Produkten. Und damit wird auch deutlich, dass Verweise auf die steigende Nachfrage der Patienten zu kurz greifen. Ganz ohne Zweifel steht die steigende Nachfrage auch in Relation zum steigenden Wohlstand, aber die Hauptursache liegt darin begründet, dass Leistungserbringer selbst häufig die Nachfrage nach Gesundheitsleistungen stimulieren.

Beispiel für Überkapazitäten liefern internationale Vergleiche, z. B. zu Klinikbetten:

1997 wurden pro 1000 Einwohner in den Niederlanden 3,8 Klinikbetten vorgehalten. In Frankreich fiel die Zahl mit 4,3 höher aus. In Deutschland vollzieht sich der notwendige Reduktionsprozess viel langsamer als bei unseren europäischen Nachbarn. Hier weisen die amtlichen Statistiker 6,6 Krankenhausbetten auf 1000 Einwohner aus.

[Seite der Druckausg.: 39]

Fakt ist zudem:

Im deutschen Gesundheitswesen gibt es zu viele Ärzte. Im Vergleich zu 1992 ist die Zahl der Vertragsärzte bis zum 31. Dezember 1998 noch einmal um 18 % angewachsen.

Laut Untertitel der vorliegenden Tagungsdokumentation existieren im Gesundheitssystem Über-, Unter und Fehlversorgung, die ebenfalls zusätzliche Kosten verursachen. Die Beteiligten im Gesundheitswesen haben auf Aufforderung des Sachverständigenrates für die Konzertierte Aktion ihre Beispiele zu Über- und Fehlversorgungsstrukturen übermittelt.

Die Spitzenverbände der gesetzlichen Krankenkassen haben zahlreiche Beispiele für Über-, Unter- und Fehlversorgungsstrukturen im Gesundheitswesen dokumentiert. Ich will Ihnen daraus einige nennen:

  • Es besteht wohl im wesentlichen Konsens darüber, dass ein erheblicher Teil der in Deutschland durchgeführten Röntgenuntersuchungen (dies gilt aber sicher auch für andere bildgebende Verfahren wie die Sonographie) überflüssig ist. Schätzungen reichen bis zu einem Anteil von 50 %.

  • Im Rahmen eines Modellprojektes des Bundesgesundheitsministeriums zur Qualitätssicherung und operativen Gynäkologie gelangten unabhängige Wissenschaftler zu dem Schluss, dass mindestens 25 % der in den 44 beteiligten Krankenhäusern vorgenommenen Eierstock- und Eileiteroperationen unnötig waren.

  • Bei einer retrospektiv durchgeführten Untersuchung von 400 Blinddarmoperationen in der Münchener Universitätsklinik fand eine Forschergruppe heraus, dass bei über 25 % der Eingriffe kein akut entzündeter Blinddarm vorlag.

Hinweise auf Fehlversorgung:

  • Durch eine nicht angemessene Versorgungspraxis bleiben die Raten medizinisch nicht indizierter Gliedmaßenamputationen bei Diabetikern in Deutschland unverändert hoch.

[Seite der Druckausg.: 40]

Hinweise auf Unterversorgung:

  • Insbesondere erwachsene Patienten mit Krebserkrankungen in Deutschland erhalten vor allem in der Akutbehandlungsphase und in der ambulanten Nachversorgung in unzureichendem Maße ein qualifiziertes Angebot von psychoonkologischer Beratung bzw. psychoonkologischer Behandlung.

Zum Bereich Krebsbehandlung: Wir hören mit Besorgnis, dass die deutsche Onkologie hinter internationalen Entwicklungen bei einigen Erkrankungen hinterherhinkt. Wir haben uns deshalb schon vor geraumer Zeit bereit erklärt, im so genannten Clearing-House Krebs mitzuwirken, dass vermehrt hochwertige und praxisrelevante Studien auf den Weg gebracht werden können (Stichwort: Therapieoptimierung). Dabei hat uns eingeleuchtet, dass der bisherige Wildwuchs in der Studienlandschaft gebändigt werden muss. Wir haben vor allem auch die Erwartung gehabt, dass man so unnötige Belastungen für Patienten (wir sprechen jetzt hier über das Thema Fehlversorgung) vermeiden kann. Die ungeprüft eingeführte Hochdosis-Chemotherapie von Frauen mit Brustkrebs war ein solches Beispiel, bei dem wir als Kassen massiv bedrängt wurden zu bezahlen, bis sich herausstellte, dass Frauen von dieser aggressiven Behandlung nicht profitiert haben. Umso erstaunter sind wir jetzt, so höre ich von meinen Fachleuten, dass es kaum Anträge an das Clearing-House gibt und dass es wohl eher um grundsätzliche Begehrlichkeiten in Richtung Studienfinanzierung geht. Dies war nicht die Verabredung, wir bleiben aber im konstruktiven Dialog. Ich spreche hierüber, um Ihnen zu zeigen, dass wir sehr wohl bereit sind, die Fragen von Unter-, Über- und Fehlversorgung auch ganz praktisch anzupacken und nicht nur Kritik zu üben.

Dies soll an dieser Stelle genügen als Beispiele für vor allen Dingen Über- und Fehlversorgungsstrukturen im deutschen Gesundheitswesen.

Ich will auch nicht vergessen, dass aus unserer Sicht nach wie vor im Gesundheitswesen Wirtschaftlichkeitsreserven vorhanden sind. Ich verweise auf den Arzneiverordnungsreport, der immer noch Milliarden Einsparpotentiale in Arzneimittelversorgung bei umstrittenen Arzneimitteln und einer zunehmenden Verordnung von Generika sieht.

So errechnet der Arzneiverordnungsreport 2000 bei der Versorgung mit umstrittenen Arzneimitteln und unter Berücksichtigung von Substitutions-

[Seite der Druckausg.: 41]

vorschlägen für das Jahr 1999 ein Einsparvolumen von ca. 3 Mrd. DM. Eine Umstellung der Verordnung von Originalpräparaten auf preisgünstige Generika beinhaltet ebenfalls ein Einsparpotential von ca. 3 Mrd. DM. Der Verzicht auf teure Analogpräparate (MeToo-Präparate) durch Einsatz pharmakologisch-therapeutisch vergleichbarer Wirkstoffe beinhaltet noch mal ein Einsparpotential von ca. 2,2 Mrd. DM im Jahre 1999, so dass nach dem Arzneiverordnungsreport 2000 allein für das Jahr 1999 ein Einsparpotential im Arzneimittelmarkt von über 8 Mrd. DM möglich wäre.

Die aufgezeigten Wirtschaftlichkeitsreserven und die zu erwartende Diskussion um Über-, Unter- und Fehlversorgung werden dann nicht zielführend sein, wenn man sich im Einzelnen über die Ergebnisse verschiedener Studien und ihrer „Wissenschaftlichkeit„ stützt. Dass die Studienlage bei weitem nicht ausreichend ist, haben die Spitzenverbände bereits angemahnt. Also dennoch weisen die vorhandenen Studien beispielgebend auf über-, unter- und fehlversorgte Strukturen hin. Daher wird es darum gehen, in Zukunft sich darauf zu verständigen, was sind die gesellschaftspolitischen Zielvorstellungen, und welche volkswirtschaftlichen Ressourcen können für die Gesundheitsversorgung bereitgestellt werden.

Aus Sicht der AOK sollten klar definierte Ziele vorgegeben werden:

1. Ziel:
Innovationspotentiale im Gesundheitswesen systematisch identifizieren und den medizinischen, den medizinisch-technischen und den pharmakologischen Fortschritt sicherstellen.
Mit anderen Worten: Es muss zunächst geprüft werden, was bringt das neue Verfahren? Ein Beispiel dazu: In der Radiologie muss geprüft werden, ob eine verbesserte Bildqualität eines neuen Verfahrens tatsächlich für die Patienten zu Fortschritten im Hinblick auf Diagnostik und Therapie führt. Gesundheitstechnologiebewertung lautet hier das Zauberwort.
Nur wenn Scheininnovationen als solche entlarvt werden, kann in Zukunft der Anspruch der Patienten auf die bestmögliche Qualität ihrer Versorgung nach dem jeweiligen Stand der wissenschaftlichen Erkenntnis erfüllt werden.

[Seite der Druckausg.: 42]

2. Ziel:
Qualitätsstandards etablieren, die sich an Evidence-based medicine und Wirtschaftlichkeitskriterien orientieren; so muss die Über- als auch Unterversorgung von Patienten durch Versorgungsleitlinien verhindert werden.

3. Ziel:
Leistungen in der gesetzlichen Krankenversicherung künftig mit den jeweils produktivsten Verfahren erbringen.

4. Ziel:
Bei nur langsam sinkender Massenarbeitslosigkeit, der allgemeinen Veränderung der Erwerbsbiographien und der demographischen Wirkungen auf der Einnahmenseite der gesetzlichen Krankenversicherung mit mittelfristig wirksamen Maßnahmen die Finanzierung des Gesundheitswesens sichern.

5. Ziel:
Die enormen Präventionspotentiale der Bevölkerung in Bezug auf das heutige Krankheitsspektrum heben; so bietet zum Beispiel eine früh einsetzende Prävention die Chance, chronische Erkrankungen zu verhindern bzw. deren Folgeschäden zu verringern. Mit anderen Worten: Investitionen in Präventionen sind auch gesundheitsökonomisch sinnvoll.

Und an dieser Stelle kann der bereits zitierte Sachverständigenrat nochmals aufgeführt werden. Denn seine Forderungen – die unter anderem auch Prof. Lauterbach vorgetragen hat – nach einer Überwindung der verkrusteten Strukturen zwischen den Bereichen der ambulanten und stationären Versorgung und der Rehabilitation, die Förderung von Disease-Managementkonzepten und entsprechenden Anreizsystemen, die gezielte Förderung der Prävention, mehr Transparenz in der Versorgung, eine Rezertifizierung der Ärzte, dies alles sind Stichworte, mit denen wir die von mir vorgestellten Ziele umsetzen können.

Denn dies sind die Herausforderungen, denen wir uns stellen müssen. Dann dürfte es uns auch leichter fallen, die Frage zu beantworten, ob die Medizin uns bedarfsgerecht versorgt. Und es wird zukünftig um die Frage gehen, ob ein Wettbewerb oder kein Wettbewerb in der sozialen Krankenversicherung stattfinden wird. Wenn wir unter diesen Zielprämissen das Gesundheitswesen weiterentwickeln, und dazu auch am Runden Tisch im Konsens die notwendigen Weichenstellungen bereits präzisieren können, dann könnten wir das Gesundheitswesen zukunftsfähig gestalten.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | Februar 2002

Previous Page TOC Next Page