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TEILDOKUMENT:






Sicherung der Finanzierung und der sozialen Gerechtigkeit durch gezielte und systematische Prävention




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These 7: Kostensenkung durch strukturierte und qualitätsgesicherte Programme (Disease Management-Programme)

Der Aufbau einer gezielten und systematischen Prävention gelingt am ehesten im Rahmen strukturierter Programme, wie z.B. sog. Disease Management Programmen. Disease Management wurde in den USA zur Qualitätssicherung und Kostenstabilisierung entwickelt, als sich herauskristallisierte, dass sich durch unkoordinierte Einzelmaßnahmen (Ressourcen- oder Komponentenmanagement) keine weiteren Kosteneinsparungen realisieren ließen. Die Prämisse des Disease Managements ist entsprechend, dass eine systematische, sekorenübergreifende, evidenzbasierte und langfristige Versorgung einer Patientengruppe qualitativ hochwertiger und kosteneffektiver ist, als die unkoordinierte Versorgung von Krankheitsepisoden einzelner Individuen. Für qualitätsgesicherte Disease Management-Programme liegt Evidenz internationaler Studien vor, dass der Prozentsatz chronisch Kranker, die evidenzbasiert therapiert werden, bei gleichzeitiger Kostensenkung deutlich ansteigt (Abbildung 21).

Abbildung 21: Medizinische und Ökonomische Outcomes von Disease Management Programmen

Programm

Medizinische Outcomes

Ökonomische Outcomes

Herzinsuffizienz

a) Aufenthaltsdauer von 6.6 auf 4.9 Tage verkürzt.

b) Mortalitätsrate von 8.2% auf 2.2% gesenkt.

Verordnung von ACE-Hemmern von 67% auf 88% gesteigert

a) Kostenersparnis von
US$ 490/Monat/Mitglied

b) Kostenersparnis pro
Versichertem US$ 618
in 6 Monaten

Diabetes Mellitus

Besuch von Notfallam-bulanzen von 147 auf 128 verringert.

Krankenhauseinweisung von 45 auf 41 verringert.

Anzahl jährlicher Über-weisungen zum Augenarzt um 5% gesteigert

Break even point im ersten Jahr erreicht

Asthma

Interventionsgruppe und Kontrollgruppe mit 2235 bzw. 3292 Versicherten.

Kostenreduktion um 17%.

Durchschnittliche Verringerung der Kosten pro Versichertem:

•Notfallambulanz: -29%
•Krankenhausaufenthalt: -13%
•Arztbesuche: -36%
•Medikation: -18%

Quelle: Eigene Darstellung in Anlehnung an Disease Management and Health Outcomes 2000 [Disease Management and Health Outcomes 2000.].

Einsparungen im stationären Sektor werden durch eine Verkürzung der Krankenhausaufenthaltsdauer, vermiedenen Einweisungen in Notfallambulanzen und eine Senkung der Komplikationsraten mit nachfolgender stationären Behandlung erreicht. Einsparungen im ambulanten Bereich können sich durch eine Optimierung der medikamentösen Therapie mit der Verdrängung nicht-wirksamer Medikamente durch evidenzbasierte Medikamente ergeben, sowie durch eine Reduktion der erbrachten Leistungen (Arztbesuche, Doppel- und Mehrfachuntersuchungen). Entsprechende Einsparungen sind nur möglich, wenn die Disease Management Programme auf der Grundlage der evidenzbasierten Medizin und bei strenger Qualitätskontrolle durchgeführt werden. Außerdem ergeben sich mögliche Einsparungen nicht kurzfristig, es sei denn, die Disease Management Programme werden auch zum Abbau bestehender Über- oder Fehlversorgung bei chronisch Kranken eingesetzt, was unbedingt zu empfehlen wäre. Industrieabhängige Projekte, Verzicht auf die Konzentration auf das Wesentliche, Ausklammerung des Abbaus von Über- und Fehlversorgung und die Einschreibung nicht geeigneter Patienten sind Gefahren, denen am besten durch eine frühe Klärung der geeigneten Erkrankungen und eine krankheitsspezifische Definition der Anforderungen an die Programme begegnet werden kann.

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These 8: Gezielte Prävention kann die Krankheitslast in der Bevölkerung senken

Das zentrale Anliegen der Gesundheitspolitik zur Stabilisierung der Kosten muss es sein, den durchschnittlichen Gesundheitszustand der Bevölkerung zu verbessern. Wie bereits dargelegt, ist der entscheidende Faktor für die gesamten Kosten für Gesundheit die Zahl der chronisch Kranken in der Bevölkerung insgesamt und deren durchschnittlicher Gesundheitszustand. Als zentrales Instrument zur mittelfristigen Sicherung der Finanzierbarkeit des Gesundheitssystems ist daher eine effektive, systematische und gezielte Prävention zu fordern.

Durch gezielte Präventionsprogramme können beispielsweise Risikofaktoren beeinflusst werden, die gleichzeitig die Wahrscheinlichkeit für das Auftreten mehrerer chronischer Erkrankungen beeinflussen. So ergaben große epidemiologische Studien mit Beta-Blockern und Diuretika über 5 Jahre bei Patienten mit Bluthochdruck, dass eine Senkung des diastolischen Blutdrucks um 5 bis 6 mmHg bei geeigneten Patienten das Risiko einen Schlaganfall zu erleiden um 38% und das Risiko ein kardiovaskuläres Ereignis zu entwickeln um 16% senkt [Collins R, Peto R, MacMahon s, Herbert P, fiebach NH, Ererieein KA, Godwin J, Qizibash N, Taylor JO, Hennekens CH. Blood pressure, stroke, and coronary heart disease. Part 2, short-term reductions in blood pressure: overview of randomised drug trials in their epidemiological context. Lancet 1990;335:827-839. Collins R, MacMahon s. Blood pressure, antihypertensive drug treatment and the risks of stroke and of coronary heart disease. Br med bull 1994;50:272-298. Mac Mahon S, Rodgers A. the effects of antihypertensive treatment on vascular disease: reappraisal of the evidence in 1994. Journal of Vascular Medicine and biology 1993;4:265-271. Messerli FH, Grossman E, Goldbourt U. Are beta-blockers efficacious as first-line theapy for hypertension in the elderly? A systematic review. JAMA 1998;279:1903-1907.].
Das Risiko eine Herzinsuffizienz als Folgeerkrankung der Hypertonie zu entwickeln wird durch die Therapie mit Beta-Blockern bzw. Diuretika halbiert. Bedenkt man, dass die Herzinsuffizienz eine kostenintensive Erkrankung, Beta-Blocker und Diuretika hingegen kosteneffektive Medikamente mit Generikakosten von z.T. deutlich weniger als 50 Pfennig pro Tag sind, so ergeben sich nennenswerte mögliche Kostensenkungen. Gleichzeitig zeigen neuere Studien, dass durch die Behandlung des Bluthochdrucks auch das Risiko einer Alzheimer Demenz reduziert werden kann.

Durch den Aufbau wissenschaftlich gesicherter, nationaler Präventionsstrategien für die wichtigsten Volkskrankheiten hat das deutsche Gesundheitssystem die Chance, die Finanzierbarkeit bei gleichzeitiger Wahrung eines qualitativ hohen Versorgungsniveaus langfristig zu sichern. Beispielsweise konnte in Finnland durch strukturierte Präventionsprogramme innerhalb eines Zeitraums von 20 Jahren die Anzahl neu eingetretener Herzinfarkte halbiert werden [Vartiainen E, Puska P, Jousilahti P, Korhonen HJ, Tuomilehto J, Nissinen A. Twenty-year trends in coronary risk factors in north Karelia an in other areas of finland. Int J Epidemiol 1994;23(3):495-504.].

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These 9: Ein Modell der Grund- und Zusatzversicherung trifft nicht das Kernproblem der GKV, sondern fördert die Erbringung von nicht-evidenzbasierten und nicht-kosteneffektiven Verfahren in der medizinischen Versorgung

Als Reformoption zur Sicherung der Finanzierbarkeit in der Gesetzlichen Krankenversicherung wird immer wieder die Eingrenzung des Leistungskatalogs mit einer Aufteilung in Grund- und Zusatzleistungen diskutiert. Über die Zusatzversicherung sollen die nicht solidarisch über die gesetzliche Krankenversicherung zu finanzierenden Leistungen abgedeckt werden.

Nach welchen Kriterien soll eine Eingrenzung des Leistungskatalogs jedoch vorgenommen werden? Eine abschließende Definition wirksamer Leistungen ist aufgrund des kontinuierlichen Fortschritts in der Medizin nicht möglich. Medizinische Verfahren veralten täglich und werden durch wirksamere Verfahren verdrängt. Das SGB V definiert daher den Leistungsumfang der auf Kosten der Gesetzlichen Krankenversicherung erbracht werden kann sinngemäß „als dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Kenntnisse entsprechend und unter Berücksichtigung des medizinischen Fortschritts" (§ 2 I SGB V) sowie explizit aus- bzw. eingeschlossene Leistungen. Zu beachten sind ferner das Wirtschaftlichkeitsgebot (§12 SGB V) und die medizinische Notwendigkeit. Ausgehend von dieser Prämisse sind für die Bewertung von Leistungen in der Gesetzlichen Krankenversicherung zwei Fragen entscheidend:

  1. welcher Nutzen einer Leistung (bewertet nach den Maßgaben der evidenzbasierten Medizin) ist für den Patienten zu erwarten?

  2. welche Kosten-Nutzen-Relation hat eine Leistung unter gesamtgesellschaftlichen Aspekten?

Davon ausgehend lassen sich medizinische Leistungen folgendermaßen klassifizieren:

  • Leistungen, die evidenzbasiert sind und eine gute Kosten-Nutzen-Relation aufweisen

  • Leistungen, die evidenzbasiert sind, aber eine schlechte Kosten-Nutzen-Relation aufweisen

  • Leistungen, die nicht evidenzbasiert sind

Es ist davon auszugehen, dass zur Zeit schätzungsweise lediglich die Hälfte aller in Übereinstimmung mit dem Stand des medizinischen Wissens erbrachten Leistungen als evidenzbasiert gelten kann. So ist beispielsweise der Anteil verordneter Arzneimittel, die keine wissenschaftlich nachgewiesene Wirkung besitzen in Deutschland besonders hoch. Eine Gesundheitsversorgung kann jedoch nur dann als qualitativ hochwertig angesehen werden, wenn der Anteil evidenzbasierter Leistungen möglichst hoch und der Anteil nicht wirksamer Leistungen möglichst gering ist. Betrachtet man nun die Frage, welche Leistungen sich für die Grund- und welche für eine Zusatzversorgung eignen, so ergibt sich folgendes Bild:

  • Evidenzbasierte Leistungen mit guter Kosten-Nutzen-Relation: Diese Leistungen sind in Übereinstimmung mit SGB V der Kern der gesetzlichen Krankenversicherung. Eine Ausgliederung dieser Leistungen würde zu Rationierung auf der Grundlage des Einkommens führen und wäre unter dem Aspekt der sozialen Gerechtigkeit nicht zu vertreten.

  • Evidenzbasierte Leistungen mit schlechter Kosten-Nutzen-Relation: Das Angebot von Leistungen mit schlechter Kosten-Nutzen-Relation im Rahmen einer Zusatzversicherung scheint auf den ersten Blick plausibel. Ein solches Vorgehen setzt jedoch unerwünschte Anreize für den Aufbau einer Infrastruktur, die ineffiziente Leistungen fördert. Da solche Leistungen zudem von Versicherten mit hoher Morbidität und abzusehender Inanspruchnahme gewählt werden, etabliert sich erfahrungsgemäß kein Gesundheitsmarkt für diese Leistungen.

  • Nicht-evidenzbasierte Leistungen: Besteht die Zusatzversicherung aus Leistungen, deren Wirksamkeit nicht gesichert ist, so stellt sich die Frage, warum für diese Leistungen eine Zusatzversicherung eingeführt werden sollte. Die Einführung einer Zusatzversicherung für unwirksame bzw. in ihrer Wirksamkeit nicht bewiesene Verfahren würde den Verdrängungsprozess dieser Leistungen durch evidenzbasierte Innovationen stoppen. Dieser Prozess, der in Deutschland noch sehr langsam abläuft, sollte aber unbedingt gefördert werden. Auch unter dem Gesichtspunkt der Qualitätssicherung ist die Erbringung dieser Leistungen, die den Patienten potenziell schädigen können und keinen nachgewiesenen medizinischen Nutzen produzieren nicht wünschenswert.

Eine zusätzliche Einbringung neuer Ressourcen durch die Aufgliederung in Grund- und Wahlleistungen trifft den Kern des Problems der gesetzlichen Krankenversicherung nicht, da sie an den bestehenden Qualitätsproblemen und der mangelnden Präventionsorientierung nichts ändert. Im Gegenteil sind sogar schädliche Auswirkungen auf die Versorgungsqualität zu erwarten, da die langsam anlaufende Verdrängung nicht-wirksamer Verfahren durch evidenzbasierte Verfahren behindert würde. Selbst die in diesem Bereich bereits erreichten Erfolge würden durch die Einführung einer Zusatzversicherung wieder gefährdet. Präventionsleistungen z.B., insgesamt der Bereich mit der größten Unterversorgung in Deutschland, werden zum Teil als Kandidaten für eine mögliche Zusatzversicherung vorgeschlagen. Das Beispiel zeigt, dass eine Zusatzversicherung kaum auf das Angebot nicht wirksamer Leistungen beschränkt bleiben würde, sondern auch zu ethisch nicht akzeptablen Rationierungen führen und die einkommensabhängigen Unterschiede in der Gesundheitserwartung vergrößern würde.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | September 2001

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