FES HOME MAIL SEARCH HELP NEW
[DIGITALE BIBLIOTHEK DER FES]
TITELINFO / UEBERSICHT

TEILDOKUMENT:


[Seite der Druckausg.: 79]


Edgar Sauter
Neustrukturierung des Verhältnisses von Aus- und Weiterbildung - ein Beitrag zur Strukturierung des lebenslangen Lernens


In fast allen Reformüberlegungen zur beruflichen Bildung aus den letzten Jahren ist die Verbindung von Aus- und Weiterbildung ein wichtiger Programmpunkt. Der Abschied vom Lebensberuf und das lebenslange Lernen erfordern eine Perspektive, die über die (Erst-)Ausbildung hinausreicht und die Akzente und Gewichte für das Lernen im gesamten aktiven Arbeits- und Berufsleben neu setzt bzw. verteilt. Diese Perspektive rührt an die traditionellen Grenzen der Bildungsbereiche und dürfte deshalb - das zeigt die bisherige Diskussion - nicht ohne Konflikte durchzusetzen sein.

Einen ersten Vorschlag für eine Gesamtperspektive in der beruflichen Bildung ist vor einigen Jahren vom BIBB entwickelt worden. Mit dem Vorschlag, ein „eigenständiges und gleichwertiges Berufsbildungssystem„ zu konstituieren, war die Absicht verbunden, Erstausbildung, Studium und Weiterbildung in einem Gesamtkonzept zu verbinden. Die systematische Verknüpfung und Vernetzung der Teilbereiche der beruflichen Bildung, die bisher ganz überwiegend weder untereinander verbunden noch aufeinander abgestimmt sind, bedeutet für die Nutzer vor allem die Beseitigung von Sackgassen und ungerechtfertigten Barrieren. Der BIBB-Vorschlag war deshalb vor allem dem Ziel verpflichtet, das duale Ausbildungssystem attraktiver zu machen. Zugleich sind in ihm aber auch Ansätze zu sehen, das lebenslange Lernen in der beruflichen Bildung zu verankern.

Wesentliche Aspekte des BIBB-Vorschlages sind kürzlich vom Sachverständigenrat Bildung bei der Hans-Böckler-Stiftung in seiner Empfehlung „Ein neues Leitbild für das Bildungssystem - Elemente einer künftigen Berufsbildung„ aufgegriffen und weiterentwickelt worden. Kern der Empfehlungen für die Gestaltung der beruflichen Bildung als Gesamtsystem sind Grundsätze, die vor allem dem lebensbegleitenden Lernen verpflichtet sind, wie z.B.

[Seite der Druckausg.: 80]

  • die Verteilung von Lernzeiten über das gesamte aktive Berufs- und Arbeitsleben,

  • die Modularisierung des Bildungsangebots und des Qualifikationserwerbs,

  • die Pluralität und Vernetzung der Lernorte und der Anbieter,

  • die Dualität als Prinzip des Lernens sowie

  • die wachsende Bedeutung und das Sichtbarmachen von informell erworbenen Kompetenzen.

Für die Strukturierung des lebenslangen Lernens kann die Verbindung bzw. Verzahnung von Ausbildung und Weiterbildung einen wichtigen Beitrag leisten, denn: Während die Erstausbildung dem Berufskonzept verpflichtet ist, orientiert sich die Weiterbildung am Prinzip der Arbeitsmarkt- und Beschäftigungsfähigkeit.

Als ein wichtiges Instrument für die Verzahnung von Aus- und Weiterbildung werden seit Jahren die sogenannten Zusatzqualifikationen diskutiert. Als eine Art „Mittelstück„ zwischen Aus- und Weiterbildung kommt ihnen vor allem die Funktion zu, größere Flexibilität und praxisnahe Differenzierung im Sinne einer individuellen Profilbildung herzustellen. Hintergrund der wachsenden Anwendung von Zusatzqualifikationen ist zum einen eine zunehmend integrative Aufgabenwahrnehmung, bei der z.B. Produktion und Kundenserviceleistungen kombiniert werden, was auf eine Flexibilisierung bzw. Individualisierung von Qualifikations- bzw. Berufsprofilen hinausläuft.

Zum anderen verweisen Zusatzqualifikationen auch darauf, dass sich neben dem klassischen hierarchischen Aufstieg neue Mobilitätspfade und Karrieremuster entwickeln; nicht selten ausgelöst durch neue, prozessorientierte Formen der Arbeitsorganisation, die Reduzierung von Hierarchien und die Einführung von Gruppenarbeit.

Es handelt sich bei den Zusatzqualifikationen um zertifizierbare (Teil-)Qualifikationen, die über das hinausgehen, was die Ausbildungsordnungen fordern; sie werden aber in einem engen zeitlichen Zusammenhang mit der Erstausbildung erworben. Typische Beispiele für solche Zusatzqualifikationen sind berufsorientierte Sprachkenntnisse, aber auch Kompetenzen, die

[Seite der Druckausg.: 81]

im Hinblick auf einen späteren Weiterbildungsabschluss erworben werden, gehören zu den Zusatzqualifikationen.

Aus der zeitlichen Lage der Zusatzqualifikationen ergeben sich unterschiedliche Flexibilisierungsstrategien für die Betriebe und damit unterschiedliche Ansätze für die Gestaltung des Verhältnisses von Aus- und Weiterbildung:

  • Es gibt zunächst die Möglichkeit, den Akzent auf die Erstausbildung zu legen und mit Hilfe von Zusatzqualifikationen anspruchsvolle Berufsprofile zu bilden; im Extremfall könnte dies soweit gehen, dass am Ende der Ausbildungszeit z.B. zusammen mit der Gesellenprüfung bereits eine Fortbildungsprüfung (z.B. Betriebsassistent im Handwerk) abgelegt wird. Es stellt sich dabei die Frage, inwieweit es bei dieser „Vorverlegung„ der Weiterbildung zu einem „Lernen auf Halde„ kommt und zu dem - wahrscheinlich untauglichen - Versuch, den „Lebensberuf„ für eine Gruppe von Leistungsstarken zu retten.

    Bei dieser Alternative besteht die Gefahr, dass Weiterbildung auf Zusatzqualifikationen für Berufsanfänger reduziert wird, zumindest wird lebenslanges Lernen nicht sichtbar.

  • Eine grundlegend andere Flexibilisierungsstrategie ist dagegen darin zu sehen, die Erstausbildung auf das Wesentliche und Grundlegende zu konzentrieren und den Erwerb von Zusatzqualifikationen in die Weiterbildung zu verlagern. Dies gilt insbesondere für „erfahrungsträchtige„ Kompetenzen, deren Erwerb an konkrete Arbeitssituationen gebunden ist (z.B. Kommunikationsfähigkeiten), aber auch für aktualitätsbezogene Inhalte. Dabei ist zu berücksichtigen, dass grundsätzlich auch Kompetenzen, die auf dem Weg des Erfahrungslernens erworben und auf dem Arbeitsmarkt genutzt werden, zertifiziert werden sollten.

    In dieser Strategie sind Zusatzqualifikationen nicht nur Bausteine für die Erweiterung von Qualifikationsprofilen von Berufsanfängern, sondern auch Beiträge für die Entwicklung von Qualifikationspotentialen, abgesichert durch Abschlüsse in der geregelten Weiterbildung.

Eine eher integrative Strategie der Flexibilisierung stellen die „gestaltungsoffenen Berufe„ dar. Paradigmatische Bedeutung für diesen neuen Typus von Ausbildungsberufen haben die IT-Berufe, die Medienberufe und

[Seite der Druckausg.: 82]

die neuen Laborberufe. Unter Wahrung des Berufskonzepts verbinden diese Berufe Kernqualifikationen (z.B. im Falle der IT-Berufe: betriebswirtschaftliche, datenverarbeitungstechnische und elektronische Qualifikationen) mit Wahlpflichtbereichen oder Wahlbausteinen, die auf Einsatzbereiche und aktuelle Beschäftigungsfelder ausgerichtet sind.

Für die Neustrukturierung von Aus- und Weiterbildung im beruflichen Bereich ist, das zeigen die Flexibilisierungsstrategien, eine Verbindung von Berufskonzept und Employability erforderlich:

  • Zum einen geht es um die Wahrung der qualitativen Ansprüche des Berufskonzepts: Auf der Grundlage berufsbezogener Qualifikationsbündel mit vielfältigen Beschäftigungsoptionen wird das Ziel der Berufsfähigkeit verfolgt; Handlungskompetenz, die fachliche und fachübergreifende Kompetenzen integriert und identitätsstiftend wirkt, ist dabei das wesentliche gestaltende Element.

  • Zum anderen geht es um laufende Arbeitsmarkt- und Beschäftigungsfähigkeit (employability), d.h., die Erhaltung und Erweiterung der Berufsfähigkeit muss durch modular strukturierte Qualifizierungsanstrengungen gesichert werden.

Eine Neugestaltung des Verhältnisses von Aus- und Weiterbildung, die auf der Verzahnung beider Prinzipien beruht, erhöht nicht nur die Durchlässigkeit zwischen den Bildungsbereichen, sondern sie ist auch ein Beitrag zur Strukturierung des lebenslangen Lernens - als ein lebensbegleitender Prozess.

Die praktische Neugestaltung von Aus- und Weiterbildung im Sinne des lebenslangen Lernens umfasst in einem ersten Schritt eine „Gewichtsverlagerung„ zugunsten der Weiterbildung. Für eine solche neue Akzentsetzung ist die Weiterbildung derzeit nur sehr unzureichend vorbereitet. Es gibt eine Reihe von Schwachpunkten, von denen hier nur vier gravierende herausgegriffen werden:

  1. Ein wesentliches Hemmnis für eine wirkliche Neugestaltung des Verhältnisses von Ausbildung und Weiterbildung sind die im Vergleich zur Ausbildung kaum gesicherten Lernzeiten in der Weiterbildung. Es fehlt nicht an interessanten Instrumenten für die Freistellung von der Arbeit für Lernzwecke, wie z.B. die Bildungsur-

    [Seite der Druckausg.: 83]

    laubs- und die Arbeitnehmerfreistellungsgesetze sowie tarifvertraglichen Regelungen und Betriebsvereinbarungen; gemeinsam ist diesen Instrumenten jedoch ihre begrenzte Reichweite; aus unterschiedlichen Gründen haben sie kaum mehr als marginale Bedeutung. Dies ist m.E. ein Haupthindernis, eine bildungsökonomische Neuverteilung von Bildungszeiten im Rahmen eines lebensbegleitenden Lernens ernsthaft ins Auge zu fassen. Auch bei einem künftigen neuen „deal„ zwischen dem Lernen in Bildungseinrichtungen und dem in der Arbeit und in der Freizeit im Hinblick auf die Gestaltung alternativer Lernortarrangements werden solche gesicherten Lernzeiten erforderlich. Neben einer lernförderlichen Arbeit (Arbeits- und Erwerbsbedingungen mit Lernchancen) geht es hier vor allem um Arbeitszeitmodelle (z.B. Zeitkonten, Sabbatjahr), die Lernzeiten einräumen können (für Erwerbslose: Jobrotation).

  2. Das seit Jahren angestrebte System von bundeseinheitlichen Weiterbildungsberufen ist immer noch ein Torso. Obwohl die Vereinbarung zur beruflichen Fortbildung zwischen den Sozialparteien von Dezember 1996 als ein Durchbruch in der Entwicklung der beruflichen Weiterbildung gilt, sind bisher noch nicht einmal die zum Zeitpunkt der Vereinbarung definierten „Altlasten„ abgearbeitet, d.h., von den seinerzeit geplanten 15 bundesweiten Fortbildungsberufen sind inzwischen erst drei Verordnungen in Kraft: Versicherungsfachwirt, Verkehrsfachwirt und der Immobilienfachwirt; weitere drei stehen zwar vor einem Abschluss, aber insgesamt ist das doch eine recht magere Bilanz. Das bedeutet, das Spektrum der Fortbildungsberufe ist immer noch sehr schmal und traditionell orientiert; insbesondere ist es bisher nicht gelungen, das Spektrum auf die neuen Dienstleistungsbereiche wie Gesundheitswesen, Pflege, Sicherheit, Tourismus und Freizeit auszudehnen. Zugleich fehlt es an hinreichend ausgeprägten Entwicklungs- und Aufstiegswegen (z.B. für Fachkarrieren und den klassischen vertikalen Aufstieg).

  3. Ein weiterer Schwachpunkt ist schließlich in der unzureichenden Transparenz und Qualitätssicherung vor allem bei der (ungeregelten) Anpassungsweiterbildung zu sehen. Ausbildungsordnungen und Weiterbildungsregelungen unterliegen Qualitätsstandards, auf

    [Seite der Druckausg.: 84]

    die sich die Bildungsinteressierten verlassen können, auch wenn sie nicht bis ins Detail informiert sind; die Nutzer der ungeregelten Weiterbildung sind hingegen in vielen Fällen noch immer dem frustrierenden System von „Versuch und Irrtum„ bei der Wahl ihres Bildungsangebots ausgesetzt. Die Fülle der phantasievollen Job-Bezeichnungen und entsprechender Weiterbildungsangebote hat inzwischen eher mit systematischer Verwirrung zu tun als mit Information und Aufklärung. Die Einrichtung von Qualitätssicherungen für die Bildungsinteressierten ist deshalb dringend erforderlich. Das gilt auch für die von der Bundesanstalt für Arbeit (BA) geförderte Weiterbildung. Es gibt zwar eine Tradition der Qualitätssicherung in der BA, aber der Schritt zur Kundenorientierung ist bisher nicht vollzogen worden. Deshalb sind auch hier Bildungstests durch unabhängige Einrichtungen zum Schutze der Verbraucher und für die Orientierung der Nutzer notwendig. Dazu gehört selbstverständlich auch eine kompetente Weiterbildungsberatung.

  4. Schließlich fehlt es immer noch an einer Einrichtung, die die Idee des seit vielen Jahren diskutierten und in ersten Ansätzen auch vorhandenen Berufsbildungspaß praktisch umsetzt. Das lebensbegleitende Lernen macht es erforderlich, dass neben den Berufsabschlüssen der Aus- und Weiterbildung auch Teilqualifikationen und Lernerfahrungen aus der Praxis im Hinblick auf individuelle Qualifikationsprofile berücksichtigt werden. Das bedeutet, die Erfassung formell erworbener Qualifikationen ist durch die Zertifizierung des informell Gelernten zu ergänzen. Für die Dokumentation der Qualifikationen und Kompetenzen hat sich zwar die Portfolio-Methode, d.h. der Berufsbildungspaß bereits weitgehend durchgesetzt; es steht allerdings noch aus, dass modular erworbene Kenntnisse und Fähigkeiten sowie Kompetenzen aus dem Erfahrungslernen nach einheitlichen Kriterien zertifiziert werden. Dies wäre auch die Voraussetzung, um eine europaweite Transparenz und Vergleichbarkeit von Kompetenzen zu erreichen.

    Auch für diesen Punkt gilt: Es gibt genügend Ansätze, Modellversuche und Beispiele, aber es fehlt eine durchgreifende Umsetzung.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | November 2001

Previous Page TOC Next Page