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TEILDOKUMENT:


[Seite der Druckausg.: 47]


Gabriele Schöttler
Europäische Impulse für die Region Berlin-Brandenburg.
Möglichkeiten und Chancen einer regionalen Bildungs- und Arbeitsmarktpolitik„


Ich will Ihnen in kurzen Zügen die Berliner Arbeitsmarktpolitik erläutern und Ihnen darstellen, wie wir Konzepte und Impulse aus der Europäischen Union umgesetzt haben und weiter umzusetzen gedenken:

Berlin, jetzt Hauptstadt und Regierungssitz der Bundesrepublik Deutschland, ist eine Großstadt mit vielen unterschiedlichen Stadtteilen, auch genannt „Kieze„. Berlin ist zugleich eine europäische Metropole und ein Bundesland mit weitreichenden Budget- und Regelungskompetenzen. In Berlin werden staatliche und kommunale Tätigkeiten nicht getrennt. Die Berliner Verwaltung wird vom Senat und den Bezirksämtern wahrgenommen.

Anfang der 90er Jahre hat der Senat nach der Wiedervereinigung der beiden Stadthälften aus Anlass des Bundesprogramms „Aufschwung Ost„ und der großzügigen Hilfe durch den Europäischen Sozialfonds seine Arbeitsmarktpolitik völlig neu strukturiert.

Auf der Grundlage eines Arbeitsmarktpolitischen Rahmenprogramms betreibt Berlin seit 10 Jahren als wiedervereinigter Stadtstaat eine regionalisierte, auf die lokalen Bedürfnisse bezogene Arbeitsmarktpolitik.

Derzeit wird dieses Arbeitsmarktpolitische Rahmenprogramm fortgeschrieben in Partnerschaft mit den Fachpolitikern im Abgeordnetenhaus, den Sozialpartnern, den Wohlfahrtsverbänden, den Bezirken, dem Landesarbeitsamt, den Arbeitsämtern sowie den professionellen Dienstleistern und wissenschaftlichen Experten in diesem Bereich.

Hierbei orientieren wir uns an folgenden Grundsätzen:

  • Arbeit statt Arbeitslosigkeit finanzieren;

  • jedem Jugendlichen den Einstieg über Ausbildung, Qualifizierung oder Beschäftigung ins Berufsleben ermöglichen;

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  • Frauen entsprechend ihrem Anteil an den Arbeitslosen an allen Förderungen beteiligen;

  • die Arbeitnehmerschaft in kleinen und mittleren Unternehmen für die Anforderungen der Informations- und Dienstleistungsgesellschaft und der Globalisierung fit machen;

  • Arbeitslosigkeit verhindern durch maßgeschneiderte Beratung und Qualifizierung der Belegschaften von insolvenzbedrohten Unternehmen;

  • Integration in den ersten Arbeitsmarkt vorrangig betreiben vor jeder anderen Förderung;

  • statt Konfektionsware in der Qualifizierung und Beschäftigungsförderung individuelle Lösungen anbieten, um jeden, der Hilfe benötigt, zum „Manager seines Berufslebens„ durch integrierte Angebote von Beratung, Coaching, Qualifizierung und Beschäftigung zu qualifizieren;

  • statt Zahlung reiner Lohnkostenzuschüsse, betriebliche Einarbeitungs- und Anpassungsqualifizierung und Begleitung fördern, da dies sowohl dem Arbeitgeber als auch dem Beschäftigten längerfristig besser dient;

  • Modularisierung und Zertifizierung von Teilqualifikationen in Aus- und Weiterbildung ausbauen;

  • Verantwortungsgemeinschaften und Vernetzung auf lokaler Ebene und in den einzelnen Branchen unterstützen, um Ausbildungs- und Berufschancen zu verbessern;

  • bezirkliche Beschäftigungspakte aktiv fördern und den Prozess durch professionelle Dienstleister unterstützen;

  • öffentlich geförderten Beschäftigungssektor für bezirkliche Aufgaben und landesweit bedeutsame Projekte der Infrastuktur nutzen;

  • Sozialhilfe beschäftigungswirksam einsetzen, damit möglichst viele Sozialhilfeempfangende wieder einen Weg in die ökonomische Selbständigkeit finden;

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  • Ältere nicht ausgrenzen, sondern ihr Erfahrungswissen und die Berufskenntnisse gesellschaftlich und betrieblich nutzen;

  • Erwerbsarbeit, bürgerschaftliches Engagement und Ehrenamt verknüpfen zur sozialen Integration der Menschen und zur Gestaltung der lokalen Ökonomie;

  • Best practise Modelle aus anderen Städten und Staaten der Europäischen Union erproben;

  • Auflösung fester Fach-Förder-Strukturen zugunsten von integrierten Programmen nach dem Vorbild des JUMP Programms der Bundesregierung;

  • Wettbewerbe um die besten Integrationsansätze ausloben;

  • Ausschreibungsverfahren für Programmteile entwickeln mit dem Ziel, die Integrationserfolge von Dienstleistern durch einen Bonus zu honorieren.

Zu dieser Programmentwicklung hat die Europäische Beschäftigungspolitik in den vergangenen Jahren vielfältige Anregungen gegeben durch Pilotprojekte, Ausschreibungen, Konferenzen, Programmdiskussionen etc.

An all diesen hat sich Berlin in vielfältiger Weise beteiligt mit sehr unterschiedlichen Aktivitäten und Akteuren.

Statt diese Einzelaktivitäten hier aufzuzählen, möchte ich wieder nur kurz Orientierungslinien aufzeigen, die wir aus der Europäischen Beschäftigungspolitik gewonnen haben:

  • Netzwerke bilden; Verantwortung als eine wesentliche Ressource der Arbeitsmarktgestaltung ins Kalkül ziehen, nutzen und entwickeln;

  • Ideenwettbewerbe ausloben;

  • Best practise als Kriterium neuer Förderungen nutzen;

  • aus Erfahrungen anderer europäischer Regionen lernen, Arbeitsmarktpolitik als Teil regionaler Entwicklungspotentiale begreifen und entsprechend zu implementieren und zu steuern;

  • Gender mainstreaming Ansatz als konstitutiv für die Fachpolitiken einführen;

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  • Beschäftigungsfähigkeit zu einem zentralen Konzept der Arbeitsmarktpolitik machen;

  • Anreize und Belohnungen für Erfolge einführen statt Rückzahlungspflicht;

  • stärkere Beteiligung lokaler und regionaler Akteure bei der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit und der Sicherung vorhandener Beschäftigung fordern;

  • Mediatoren und professionelle Projektentwickler und Prozess-Begleitung als Teil der Förderung begreifen;

  • Kundenorientierung, Innovation und strategisches Denken der Arbeitnehmerschaft in Unternehmen fördern;

  • Unternehmergeist, insbesondere bei jungen Menschen, fördern.

Die oben genannten Orientierungslinien beziehen sich auf einzelne Teilbereiche der Arbeitsmarktpolitik, die wir mit Hilfe dieser Anregungen aus dem europäischen Raum modernisieren im Interesse der Menschen, die einen Arbeitsplatz suchen oder ihre Beschäftigungsfähigkeit erhalten wollen.

Ein anderer Vorschlag der Europäischen Union hat einen wesentlich weiter gespannten Aktionsradius: Wir wurden aufgefordert, eine Modellregion Berlin-Brandenburg zu entwickeln.

Das Konzept „Berlin und Brandenburg als Modellregion der europäischen Beschäftigungsstrategie ‚Europäisch denken – Lokal handeln’„ geht zurück auf einen Vorschlag des - ehemaligen - Generaldirektors der Generaldirektion Beschäftigung und Soziales der Europäischen Kommission, Allan Larsson, von Anfang 1999.

Es fügt sich ein in die aktuellen Aktivitäten auf Ebene der Europäischen Union zur Stärkung lokaler, integrierter Ansätze zur Beschäftigung und nimmt sie zeitlich teilweise vorweg.

Berlin und Brandenburg beabsichtigen dabei, ihre vorhandenen lokalen bzw. regionalen Initiativen auf dem Gebiet der Arbeitsmarktpolitik fortzuentwickeln und zu professionalisieren.

Beide Länder verbinden außerdem mit der Modellregion – im Spannungsfeld der Entwicklung der Metropole Berlin und der ländlich geprägten Re-

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gion Brandenburg – die Erwartung einer verbesserten Zusammenarbeit der aneinander grenzenden Bezirke und Gemeinden. Hierdurch kann sich das Zusammenwachsen der beiden Bundesländer sozusagen von unten mitgestalten.

Bei diesem Ansatz handelt es sich nicht um ein klassisches Förderprogramm im üblichen Sinne, sondern um das Handlungsprocedere für eine Förderstrategie – originär um einen Prozess. Auch dies haben wir von der Europäischen Union gelernt, dass Prozessentwicklung, Prozessunterstützung eine sehr wirksame politische Strategie der Administration ist.

Prozessdenken mit vielen Beteiligten und einer eigenen Dynamik liegt dem deutschen Kästchendenken, das oftmals in unseren Verwaltungen herrscht, eher ferner.

Wir sind nun herausgefordert, diese neuen Regeln einzuüben, nämlich Prozessentwicklung zu unterstützen und in zweckmäßiger Weise mit Förderprogrammen zu verknüpfen.

Wir erleben diesen Vorgang in Berlin gerade im Bereich der bezirklichen Beschäftigungsbündnisse, die wir nach dem Vorbild des Territorialen Beschäftigungspaktes Neukölln in allen Berliner Bezirken initiieren.

Und wir können hier schon vorzeigbare Erfolge vorweisen, auf die ich wegen der Kürze der Zeit nicht eingehen werde, die aber sicherlich in den Arbeitsgruppen diskutiert werden.

Ich würde mich freuen, wenn solche Innovationen auf dem Gebiet der Gestaltung der Arbeitsmarktpolitik auch in die Entwicklung des neuen SGB III aufgenommen würden und wenn die Europäische Union einen solchen hoch komplexen Ansatz mit Verwaltungsvereinfachungen belohnt.

Lokale und bezirkliche Initiativen werden in der Modellregion als integraler Bestandteil einer kommunalen Entwicklungsplanung verstanden und sind somit auf die Lösung von ökonomischen, ökologischen, sozialen und beschäftigungspolitischen Problemen in den Quartieren ausgerichtet.

Sie bringen lokale Akteure aus Wirtschaft, Staat und Gesellschaft zusammen und beziehen dabei die Bevölkerung, Entscheidungsträger, Initiativen und ortsansässige Betriebe etc. mit ein.

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Die lokalen/regionalen Initiativen leisten einen Beitrag zur Bildung von Verantwortungsgemeinschaften, die dringend erforderlich sind, um unsere vielfältigen gesellschaftlichen Probleme zu lösen.

Es handelt sich also um einen Politikansatz, der sehr nah an den Bürgerinnen und Bürgern bzw. an den örtlichen Interessengruppen und Multiplikatoren sowie der kommunalen Verwaltung ansetzt, sich dabei aber in gesamtstädtische Planungen einpasst.

Das Konzept der Modellregion wurde am 11.2.2000 von mir und meinem Brandenburger Kollegen Alwin Ziel der Öffentlichkeit vorgestellt und im Anschluss daran dem Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung übermittelt mit der Bitte, den Vorschlag der beiden Länder an die Europäische Kommission weiterzuleiten.

Dies erfolgte am 21.3.2000. Eine Reaktion aus Brüssel steht noch aus. Die Mitteilung der Kommission „Die Beschäftigung vor Ort fördern – Eine lokale Dimension für die europäische Beschäftigungsstrategie„ bestätigt aber unseren im Konzept zur Modellregion dargestellten Ansatz.

Welche vielfältigen Potentiale die regionale und lokale Ebene für die Beschäftigung vor Ort bieten können, zeigt sich, wenn man sich vor Augen führt, über welches breite Spektrum die lokalen ländlichen und städtischen Gebietskörperschaften an Gestaltungsaufgaben verfügen - unabhängig von den z.T. erheblichen Unterschieden zwischen den Mitgliedstaaten.

Als solche Gestaltungsaufgaben sind zu nennen:

  • Sozialhilfe,

  • Bildungswesen,

  • Gesundheitswesen,

  • Wohnungsbau,

  • Umweltschutz,

  • öffentlicher Nahverkehr,

  • Wasser- und Energieversorgung, Kanalisationssysteme,

  • Abfallwirtschaft,

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  • Instandhaltung der Infrastrukturen,

  • Kultur sowie Freizeitaktivitäten.

Die eingehende Befassung mit Fragen der Beschäftigung und des sozialen Zusammenhalts ist für die gewählten Vertreter vor Ort eine Frage der Glaubwürdigkeit gegenüber ihren Wählerinnen und Wählern, da Arbeitslosigkeit zu einem Kernproblem geworden ist.

Zugleich wissen wir aber auch, dass sich die kommunalen Rahmenbedingungen für diese Gestaltungsaufgaben rasant verändern im Zusammenhang mit der Liberalisierung von öffentlichen Dienstleistungen im Europäischen Binnenmarkt. Es stellt sich daher die Frage, wie die Städte in der Europäischen Union von der fortschreitenden Liberalisierung im europäischen Binnenmarkt betroffen werden.

Es wird zu diskutieren sein,

  • wo die europäischen Regelungen die kommunalen Aufgaben im Rahmen der Daseinsvorsorge,

  • der infrastrukturellen Absicherungen (Energie, Wasser, Verkehr, Straßenreinigung etc.)

  • und der Sozialen Dienste berühren.

[Seite der Druckausg.: 54 = Leerseite]


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | November 2001

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