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TEILDOKUMENT:


[Seite der Druckausg.:89]


Stefan Küpper
Bilanz und Perspektiven tariflicher Arbeitszeitpolitik


1. Die Verkürzung der Arbeitszeit ist nicht die notwendige Folge eines stagnierenden oder schrumpfenden Arbeitsvolumens, sondern ihre originäre Ursache.

Zwischen 1870 und 1992 stieg in Deutschland die Produktivität je Arbeitsstunde um rund 1730 Prozent, das Bruttoinlandsprodukt je Einwohner nahm um etwa 1000 Prozent zu, und die Arbeitszeit reduzierte sich um rund 47 Prozent. Angesichts der enormen Steigerung der Produktivitätsraten ist eine weit verbreitete Meinung, dass ohne die Reduktion der Pro-Kopf-Arbeitszeit eine im Vergleich zu den aktuellen Arbeitslosenzahlen weitaus verheerendere Beschäftigungssituation zu beklagen wäre. Produktivitätsfortschritte und Automatisierung machten hiernach eine kontinuierliche Arbeitszeitverkürzung und -umverteilung unausweichlich.

Aber wo soll das enden, wenn es nichts mehr umzuverteilen gibt, wenn vielleicht am Ende des nächsten Jahrhunderts die 20-, 15- oder gar 10-Stunden-Woche die Regel geworden ist? Oder anders gefragt: Ist das Ende der Arbeit vorprogrammiert? Die Antwort lautet „Nein", und zugleich zeigen diese Fragen das ganze Dilemma der Umverteilungsideologie. Die ihr innewohnende rein statische Betrachtungsweise lässt nur zwei Optionen für die Zukunft zu: die absolute Beschäftigungskatastrophe oder eine Art Schlaraffenland, in dem ohne eigene Anstrengung Milch und Honig fließen. Beides wird aber nicht eintreten.

Denn warum sind bei 1730 Prozent Produktivitätssteigerung in 120 Jahren „nur" 1000 Prozent Wachstum herausgesprungen? Weil ein beträchtlicher Teil des Wohlstandes in die Arbeitszeitverkürzung und in ein Mehr an Freizeit investiert wurde. Mehr Freizeit heißt weniger Wertschöpfung und weniger Einkommen, weniger Produktion und weniger Nachfrage und daher weniger Wachstum und Beschäftigung. Die Verkürzung der Arbeitszeit ist also nicht die notwendige Folge eines stagnierenden oder schrumpfenden Arbeitsvolumens, sondern ihre originäre Ursache.

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Das heißt nicht im einfachen Umkehrschluss, dass unser Bruttoinlandsprodukt doppelt so hoch und unsere Beschäftigungsprobleme gelöst wären, wenn wir heute noch so lange arbeiten würden wie im Jahr 1870. Denn natürlich hat sich der Zugewinn an Freizeit und Lebensqualität auch positiv auf die Entwicklung von Produktivität und Wachstum ausgewirkt. Doch muss an dieser Stelle an das ökonomische Axiom erinnert werden, dass Produktivitätssteigerungen und menschliche Arbeitskraft Hauptquellen des wirtschaftlichen Wachstums sind.

2. Im Verlauf der Jahre ist das sozialpolitische Paradigma der Arbeitszeitreduzierung mehr und mehr der Ideologie der Arbeitsumverteilung gewichen.

Arbeitszeitverkürzung und das Mehr an Freizeit waren neben steigenden Einkommen über viele Jahrzehnte legitimer Ausdruck des Wohlstandszuwachses. Doch im Verlauf der Jahre ist dieses sozialpolitische Paradigma der Arbeitszeitreduzierung mehr und mehr der Ideologie der Arbeitsumverteilung gewichen. Auch rhetorisch wurde aus dem Zugewinn an Freizeit für die Arbeitnehmer der Verzicht auf Arbeit. Die Umverteilung von Arbeit wird zu einem Akt der Solidarität hochstilisiert. Wer widerspruchslos Freizeit konsumiert, verhält sich nach dieser merkwürdig verdrehten Sichtweise selbstlos und solidarisch. Wer länger arbeitet und etwas leisten will, wird gesellschaftlich geächtet; er steht im Verdacht, anderen etwas wegzunehmen.

3. Die kollektive Arbeitszeitverkürzung hat den Rationalisierungsdruck erhöht und die Beschäftigungsprobleme von geringer Qualifizierten erheblich verschärft.

Die kollektive Arbeitszeitverkürzung auf Regelarbeitszeiten von weniger als 8 Stunden täglich und 40 Stunden wöchentlich hat die Kostenlast in den deutschen Unternehmen hochgetrieben. Alle Schritte der Arbeitszeitverkürzung sind in Deutschland mit Lohnausgleich einhergegangen, nie fand eine volle Anrechnung der Kostensteigerung statt. Für die Gesamtheit der westdeutschen Unternehmen hat dies zwischen 1987 und 1997 einen Kostenschub von 7 Prozent ausgelöst, in der Industrie waren es sogar 12 Prozent;

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dies zeigt der steilere Anstieg des Tarifentgeltniveaus auf Stundenbasis gegenüber der Monatsbasis.

Besonders verheerend war das für die im internationalen Wettbewerb stehenden Branchen und Unternehmen. 1999 hatte Westdeutschland mit einer durchschnittlichen tariflichen Jahresarbeitszeit von 1592 Stunden in der Industrie die kürzeste Arbeitszeit. Japan mit 1952, die USA mit 1904, Frankreich mit 1771, Großbritannien mit 1762 und die Niederlande mit 1712 Stunden lagen deutlich darüber.

Die gestiegene Kostenlast hat einen enormen Druck auf Rationalisierung, Beschäftigungsabbau und Abwanderung aufgebaut. Arbeit verteuert sich absolut und in der Relation zu Kapital. Die Kapitalintensität wächst, und das Rationalisierungstempo nimmt zu. Die Anforderungen an die Stundenproduktivität der Arbeitskräfte und ihre Qualifikationen steigen, grenzproduktive Arbeitsplätze fallen weg. Das geht besonders zu Lasten einfacher Tätigkeiten und geringer qualifizierter Arbeitskräfte. Eine im letzten Jahr erschienene empirische Studie des Instituts für Wirtschaftsforschung Halle (IWH) für die Branchen des Produzierenden Gewerbes Westdeutschlands untermauert diesen Verdrängungseffekt durch generelle Arbeitszeitverkürzung eindrucksvoll. [Christian Dreger/Jürgen Kolb: Generelle Verkürzung der Wochenarbeitszeit verdrängt ungelernte Arbeiter, in: Institut für Wirtschaftsforschung Halle (Hrsg.): Wirtschaft im Wandel, Heft 12, Jg. 1999]

4. Per saldo steht ein dickes Beschäftigungsminus unter der Bilanz der Arbeitszeitpolitik der achtziger und neunziger Jahre.

Die Arbeitszeit muss bei Arbeitszeitverkürzung so gestaltet werden, dass die Betriebsnutzungszeiten erhalten bleiben. Das erfordert eine verbesserte Kombination von Betriebs- und Leerzeiten sowie von Arbeits- und Freizeiten. Nach einer DIHT-Umfrage, deren Ergebnisse im April 2000 vorgestellt wurden, haben die meisten der befragten Unternehmen erst 1993 oder

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später mit der Einführung flexibler Arbeitszeitmodelle begonnen. [Deutscher Industrie- und Handelstag: Arbeitszeitflexibilisierung zur Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit. Ergebnisse einer DIHT-Umfrage, Berlin, April 2000] Insoweit ist die Arbeitszeitflexibilisierung auch ein Reflex auf die Wochenarbeitszeitverkürzungen, die zur Mitte der neunziger Jahre ihren vorläufigen Höhepunkt mit der Einführung der 35-Stunden-Woche hatte.

Hoffnungen auf positive Beschäftigungswirkungen aus der Kombination von Arbeitszeitverkürzung und -flexibilisierung haben sich aber als falsch erwiesen. Die positiven Effekte der Arbeitszeitflexibilisierung sind durch die steigenden Fixkostenlasten überlagert worden. Per saldo steht ein dickes Beschäftigungsminus unter der Bilanz der Arbeitszeitpolitik der achtziger und neunziger Jahre.

5. Die BDA/DGB-Bündnisvereinbarung ist der Beginn der gewerkschaftlichen Abkehr von kollektiven Arbeitszeitverkürzungs- und -umverteilungsstrategien.

In der gemeinsamen BDA/DGB-Erklärung vom 6. Juli 1999 heißt es: „BDA und DGB treten für eine differenzierte und flexibilisierte Arbeitszeitpolitik und den beschäftigungswirksamen Abbau von Überstunden ein."

Diese Erklärung stellt eine Zäsur dar und steht für den Beginn der gewerkschaftlichen Abkehr von kollektiven Einheitslösungen wie z. B. Wochenarbeitszeitverkürzungen. Dahinter verbirgt sich die Erkenntnis, dass nur die flexible und differenzierte Verteilung von Arbeit den Bedürfnissen der Arbeitnehmer entgegenkommt und den Betrieben in Form längerer Maschinenlauf- und Betriebsnutzungszeiten, kapazitätsorientierter Arbeitszeiten und der Vermeidung teurer Überstundenzuschläge Kosten sparen hilft, Wettbewerbsvorteile erschließt und Arbeitsplätze schafft.

Die Gewerkschaften reagieren aber vor allem auch auf die zunehmende Unzufriedenheit der Arbeitnehmer mit der undifferenzierten Arbeitszeitverkürzungspolitik. Immer mehr Beschäftigte wollen sich nicht damit abfinden, dass ihre Arbeitszeit rationiert und ihnen die Chance auf Entfaltung genommen wird. Untersuchungen des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) zeigen, dass die Bereitschaft zur weiteren Verkürzung der

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Arbeitszeit bei den Beschäftigten angesichts ohnehin gesunkener Arbeitszeiten immer weniger ausgeprägt ist, während die Zahl derer zugenommen hat, die eine Ausweitung der Erwerbsarbeit anstreben. [Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung (Hrsg.): Arbeitszeitpräferenzen in West- und Ostdeutschland 1997, in: DIW Wochenbericht 37/1998]
Das ist auch der Grund, warum die Schattenwirtschaft in der Arbeitszeitverkürzung eine eigene Wachstumsquelle gefunden hat. In der Schattenwirtschaft finden sich die individuellen Präferenzen wieder, die im starren Korsett von Arbeitszeitvorgaben keinen Platz mehr finden.

6. Beschäftigte und Betriebe brauchen und wollen individuell differenzierte und flexible Arbeitszeitregelungen.

Die Beschäftigten haben unterschiedliche Wünsche hinsichtlich der Dauer ihrer Arbeitszeit. Ältere Arbeitnehmer wollen häufig weniger arbeiten als jüngere Beschäftigte und sind im Gegenzug auch bereit, auf Einkommen zu verzichten. Die positiven Erfahrungen mit der Altersteilzeit unterstreichen das. Bei jüngeren Beschäftigten steht dagegen häufig der Wunsch nach einem höheren Einkommen im Vordergrund; Einkommen, für das man dann auch bereit ist, länger zu arbeiten. Die familiäre Situation wiederum ist häufig ein Grund für den Wunsch nach einer reduzierten Arbeitszeit. Die bessere Vereinbarkeit von Beruf und Familie lässt dann auch die Nachfrage nach intelligenten Verteilmodellen entstehen.

Die Unternehmen fragen ihrerseits vermehrt an qualifikatorischen Gesichtspunkten orientierte Arbeitszeiten nach. Denn Qualifikationen sind unterschiedlich verteilt. Viele sind knapp und einige kaum zu bekommen. Hier haben die Unternehmen ein Interesse an längeren Arbeitszeiten. Mit längeren Arbeitszeiten der Leistungsträger nimmt die Leistungsfähigkeit des gesamten Betriebes zu. Kreativität kann gedeihen, Produkte können schnell, kundenorientiert und günstig auf den Markt gebracht werden. Die künstliche Verknappung von Qualifikationen wird vermieden.

Bei besonders belasteten Arbeitnehmern, wie z. B. in der Fertigung beschäftigten Schichtarbeitern, haben die Betriebe dagegen kein Interesse, die Belastungen durch eine Ausweitung der Arbeitszeitdauer zu erhöhen und die Arbeitsmotivation der Beschäftigten unnötig zu gefährden.

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Arbeitsmotivation und -zufriedenheit sind auch wichtige Beweggründe für die Unternehmen, den Beschäftigten bei der flexiblen Gestaltung und Verteilung der Arbeitszeiten entgegenzukommen. Darüber hinaus werden in den Unternehmen eine Reihe von weiteren Zielen mit der flexiblen Verteilung des Arbeitsvolumens verfolgt: Durchlaufzeiten und Lieferfristen sollen verkürzt, die Arbeitszeit an den Arbeitsanfall angepasst, Überstunden vermieden, Anlagen mit hoher Kapitalbindung besser genutzt, Arbeitsplatzkosten gesenkt, kundengerechte Ansprech- und Öffnungszeiten umgesetzt und eine reibungslose innerbetriebliche Kommunikation sichergestellt werden.

Beschäftigte und Betriebe brauchen und wollen also individuell differenzierte und flexible Arbeitszeitregelungen. Das betrifft sowohl die individuelle Arbeitszeitdauer (Differenzierung) als auch die Verteilung dieses Arbeitszeitvolumens (Flexibilisierung).

7. Die individuelle Differenzierung und Flexibilisierung der Arbeitszeit ist im Rahmen der Branchentarifverträge möglich.

Schon heute eröffnen die Tarifverträge einen beträchtlichen Spielraum zur Verteilung der Arbeitszeit: Korridorlösungen und Kontenmodelle mit bis zu 27- bis 36-monatigen Ausgleichszeiträumen gehören inzwischen zum selbstverständlichen tarifpolitischen Instrumentarium. Laut DIHT-Umfrage vom April 2000 nutzen inzwischen zwei Drittel der Unternehmen verschiedene Formen der Arbeitszeitflexibilisierung. Flexible Wochenarbeitszeiten, Jahresarbeitszeitkonten und Gleitzeitregelungen sind in vielen Betrieben Standard.

Noch wenig ausgeprägt sind dagegen individuelle Differenzierungen beim Arbeitsvolumen. Um das zu ändern, kann die Arbeitszeitdauer an verschiedenen individuellen Kriterien festgemacht werden. Dies würde beispielsweise die Möglichkeit eröffnen, an der Qualifikation des Mitarbeiters orientierte größere oder kleinere Arbeitszeitvolumen zu vereinbaren. Konkret sind folgende tariflichen Vorgaben vorstellbar: Der Tarifvertrag legt Volumenkorridore auf der Basis von Wochen- oder Jahresarbeitszeiten fest. Gekoppelt wird das jeweilige Arbeitszeitvolumen an bestehende tarifvertragliche Tätigkeits- und Eingruppierungsmerkmale. Damit wird eine Differenzierung

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sowohl nach Qualifikation als auch nach Einsatzbereich im Unternehmen (Verwaltung, Planung, Fertigung etc.) erreicht. Die Kopplung an Tätigkeits-merkmale/Eingruppierungen könnte z. B. bedeuten, dass geringerqualifizierte Tätigkeiten, die in aller Regel mit einem höheren Automatisierungsgrad belegt sind, mit einem kleineren Zeitvolumen ausgestattet werden als Arbeiten mit einem größeren Anforderungsprofil. Positiver Nebeneffekt wäre eine stärkere, an qualifikatorischen Gesichtspunkten ausgerichtete Lohnspreizung.

Denkbar wäre auch die Vereinbarung von ans Lebensalter gekoppelten Zeitvolumina: So kann z. B. in jungen Jahren mehr, im Alter weniger gearbeitet werden. Ein erstes Beispiel für eine tarifvertraglich geregelte altersdifferenzierte Regelarbeitszeit ist der Ergänzungstarifvertrag für industrienahe Dienstleistungen der Metallindustrie in Baden-Württemberg und Berlin („debis-Tarifvertrag"). Die Regelarbeitszeit beträgt hier 40 Stunden, wird aber mit zunehmendem Alter reduziert. Ab dem 50. Lebensjahr verringert sich die Arbeitszeit auf 38 Stunden, ab dem 53. Lebensjahr auf 36 Stunden und ab dem 55. Lebensjahr auf 35 Stunden.

Unterschiedliche Arbeitszeitvolumen könnten dann wiederum mit einer erweiterten tariflichen Flexibilisierung verbunden werden, indem der Flexi-Rahmen (Verteilkorridor) in Abhängigkeit vom zu verteilenden Volumen ausgeweitet oder eingeengt wird: Je höher das unregelmäßig zu verteilende Volumen, desto breiter der Flexibilisierungsrahmen. Mit diesem Ansatz einer differenzierten Flexibilisierung wäre es beispielsweise möglich, den in der Fertigung beschäftigten Schichtbetriebler auf der Basis der tariflich regelmäßigen 35 Stunden pro Woche innerhalb eines Verteilzeitraumes von 12 Monaten einzusetzen, während sein Kollege in der Planungs- und Entwicklungsabteilung desselben Unternehmens 45 Stunden pro Woche arbeitet und dieses erhöhte Volumen in Abhängigkeit von Art und Umfang des Planungsprojektes, z. B. über einen Zeitraum von drei Jahren, flexibel verteilen kann.

Im Ergebnis strukturiert der Tarifvertrag so Arbeitszeitregelungen vor, die dann über Tarifoptionen und Öffnungsklauseln entweder im Rahmen von Betriebsvereinbarungen (für ganze Betriebsteile oder einzelne Beschäftigtengruppen) oder auf Basis einzelvertraglicher Regelungen in detaillierte Regelungen umgesetzt werden. Der Tarifvertrag behält seine sozial befriedende Funktion als Vertrag über ökonomische und soziale Mindestbedin-

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gungen und eröffnet zugleich Differenzierungs- und Flexibilisierungsspielräume für die Betriebe und ihre Beschäftigten.

8. Langzeit- und Lebensarbeitszeitkonten eröffnen neue Möglichkeiten und Aufgaben für eine investive Arbeitszeitpolitik.

Durch die tarifvertragliche Vereinbarung von längeren Verteilzeiträumen, die über die heutigen Tarifstandards von ein bis zwei Jahren hinausgehen, kann Tarifpolitik dann auch den Boden für Modelle von Langzeit- und Lebensarbeitszeitkonten bereiten. Mit diesen Modellen kommen dann auf die Arbeitszeitpolitik völlig neue Aufgaben zu.

In der Erklärung des Bündnisses für Arbeit, Ausbildung und Wettbewerbsfähigkeit vom 10. Juli 2000 heißt es dazu: „Wir sehen in langfristigen Arbeitszeitguthaben eine Möglichkeit, lebenslagenorientiert in Weiterbildung, in Altersvorsorge und in ein vorzeitiges Ausscheiden aus dem Erwerbsleben im Rahmen der Altersteilzeit zu investieren."

Für eine flächendeckende Verbreitung solcher Modelle ist wichtig, dass unbürokratische und flexible Regelungen gefunden werden. Nur so werden Langzeit- und Lebensarbeitszeitkonten auch für die vielen Klein- und Mittelbetriebe handhabbar. Bei der Insolvenzsicherung sind verwaltungs- und kostenintensive Belastungen für die Betriebe zu vermeiden und größtmögliche Flexibilitäten zu erhalten. Außerdem ist eine reibungslose Übertragbarkeit im Fall des Arbeitgeberwechsels zu gewährleisten.

9. Arbeitszeitflexibilisierung ist eine Voraussetzung für lebenslanges Lernen.

Die zunehmend schnellere Entwertung von Wissen und der wachsende Bedarf an qualifizierten Arbeitskräften lassen lebenslanges Lernen und betriebliche Weiterbildung immer wichtiger werden. In Zukunft werden Arbeiten und Lernen immer wieder abwechseln und miteinander integriert.

Der Nutzung von Langzeitguthaben kommt dabei eine zentrale Rolle zu. Der einzelne Arbeitnehmer hat die Möglichkeit, seine angesparten Zeitgut-

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haben für die Qualifizierung einzusetzen. Die Investition in seine eigene Beschäftigungsfähigkeit eröffnet ihm dann neue Berufs- und Verdienstchancen. Ein Um- und Aufstieg zu neuen Aufgaben und Tätigkeiten wird leichter möglich.

Aber auch die Unternehmen haben angesichts des rasanten technologischen Fortschritts und des mit der demographischen Entwicklung einhergehenden Fachkräftemangels ein ureigenes Interesse an Investitionen in die Köpfe ihrer Mitarbeiter. Im Zusammenhang mit der Arbeitszeitflexibilisierung und der Nutzung von Langzeitguthaben sind daher ergänzende Zeitinvestitionen durch die Unternehmen im Rahmen tariflicher oder betrieblicher Regelungen sehr gut vorstellbar.

10. Langzeitguthaben werden zu einer eigenständigen Finanzierungsquelle für die kapitalgedeckte Altersvorsorge.

Die auf Langzeitkonten angesammelten Wertguthaben, die nicht für eine Freistellung verwendet werden, können in der Zukunft zu einer wichtigen Finanzierungsquelle für die kapitalgedeckte Altersvorsorge werden.

Unter dem Stichwort „Vorsorge-Arbeit" haben die Tarifpartner im Metallhandwerk Nordrhein-Westfalens in der Tarifrunde 2000 die Möglichkeit geschaffen, den übergesetzlichen Tarifurlaub und Mehrarbeit auf Zeitkonten anzusparen und für die Altersvorsorge einzusetzen.

Etwas ähnliches hat die Volkswagen AG zu Beginn des Jahres 1998 mit dem „Zeit-Wertpapier" angestoßen. Hierbei wird ein Anteil an einem speziell für diesen Zweck von dem Unternehmen geschaffenen Investmentfonds verbrieft. Mitarbeiter können sich zu Lasten unterschiedlicher Teile ihres Entgelts an diesem Fonds beteiligen. So können die Arbeitnehmer Mehrarbeit, Sonderschichten und auch vorhandene Zeitguthaben in Zeit-Wertpapiere umwandeln. Auch Teile des Bruttoentgelts lassen sich monatlich durch Zeitwerte ersetzen. Sonderzahlungen wie Leistungsbonus, Unternehmenserfolgsbonus sowie Prämien aus dem Vorschlagswesen können ebenfalls für den Erwerb von Zeit-Wertpapieren verwendet werden. Bei Fälligkeit können die Guthaben dann als Altersteilzeit gestaltet werden oder, wenn dies nicht möglich oder gewünscht sein sollte, dann kann die

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Altersvorsorge durch eine dem Guthaben entsprechende Erhöhung der Betriebsrente verbessert werden.

Gerade das Zeit-Wertpapier ist ein geeignetes Instrument, um den gesetzlichen Bestimmungen zur Insolvenzsicherung und den Sicherungsinteressen der Arbeitnehmer zu entsprechen, ohne Flexibilitäten einzuschränken. Außerdem können Zeit-Wertpapiere auch bei einem Arbeitsplatzwechsel sicherstellen, dass der Arbeitnehmer über sein Langzeitguthaben verfügen kann. Deshalb haben sich die Partner im Bündnis für Arbeit, Ausbildung und Wettbewerbsfähigkeit in ihrer Erklärung vom 10. Juli 2000 im Zusammenhang mit der Nutzung von längerfristigen Arbeitszeitguthaben für dieses Instrument ausgesprochen.


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