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TEILDOKUMENT:


[Seite der Druckausg.:99]


Rüdiger Bouillon
Tarifliche Praxis und Perspektiven von Arbeitszeitkonten


Durch die zunehmende Globalisierung der Wirtschaft, dem sich verschärfenden Wettbewerb in den Branchen und den damit verbundenen wechselseitigen Anforderungen an die Gestaltung betrieblicher Prozesse und Abläufe sind im zunehmenden Maße alle Gewerkschaften mit den Forderungen der Arbeitgeber nach flexibleren Arbeitszeitregelungen, insbesondere nach betrieblichen Gestaltungsspielräumen unter Ausnutzung der Höchstgrenzen des Arbeitszeitrechtsgesetzes, konfrontiert.

Seit mehr als zehn Jahren stellt sich die Industriegewerkschaft Bergbau, Chemie, Energie der Weiterentwicklung der Flächentarifverträge. In der Vergangenheit wurden Flexibilisierungsgedanken aufgegriffen, die heute Bestandteil der Tarifverträge sind. Öffnungsklauseln und Korridore haben den Betrieben die Möglichkeit gegeben, auf die Arbeitszeitgestaltung im Sinne eines „atmenden Betriebes" Einfluss zu nehmen.

Ein Beispiel für die Ausgestaltung eines Zeitkorridors zeigen die folgenden Schaubilder:

Schaubild 1:

Flexibilität durch Zeitkorridore

  • 12 Monate Verteilzeitraum

  • Jahresarbeitszeit

[Seite der Druckausg.:100]

Schaubild 2:

Undisplayed Graphic

Schaubild 3:

Verteilzeitraum = 12 Monate

1. Beispiel:
3 Monate 35 Stunden, 6 Monate 40 Stunden, 3 Monate 35 Stunden
= 37,5 Stunden im Durchschnitt von 12 Monaten

2. Beispiel:
9 Monate 39 Stunden, 3 Monate 33 Stunden
= 37,5 Stunden im Durchschnitt von 12 Monaten

3. Beispiel:
6 Monate 37 Stunden, 2 Monate 40 Stunden, 4 Monate 37 Stunden
= 37,5 Stunden im Durchschnitt von 12 Monaten

[Seite der Druckausg.:101]

Schaubild 4:

Undisplayed Graphic

Schaubild 5:

Undisplayed Graphic

[Seite der Druckausg.:102]

Im Rahmen des Verteilzeitraums lassen sich Jahresarbeitszeiten definieren, die auch eine Arbeitszeitkontenführung zulassen. Diese Möglichkeit wird in einer Vielzahl von Unternehmen aller Branchen genutzt. Was wir jedoch nicht wollen, ist ein leider feststellbarer Etikettenschwindel, der bei Zeitkonten oder Vertrauensarbeitszeit auftreten kann.

Arbeitszeitkonten bieten die Möglichkeit, Mehrarbeit weg zu definieren, ohne an der Realität etwas zu ändern. Man ändert lediglich die Bezeichnung: Was früher „Mehrarbeit" hieß, heißt jetzt „Guthaben auf Arbeitszeitkonten".

Sie heißen anders und werden nicht mehr zusätzlich bezahlt (oder auch gar nicht mehr bezahlt), aber es gibt sie nach wie vor.

Neben einer mit Arbeitszeitkonten verbundenen realistischen Personalbedarfsrechnung müssen die folgenden Eckpunkte in einer Jahresarbeitszeit im Sinne der Tarifverträge geregelt werden:

  1. Soweit betriebliche Vereinbarungen zur Jahresarbeitszeit eine Präambel enthalten, soll als allgemeines Regelungsziel auch die Beschäftigungssicherung ausdrücklich aufgenommen werden, um ein Gegengewicht gegen die regelmäßig vom Arbeitgeber genannten Ziele (Flexibilisierung, bessere Auslastung der Produktionseinrichtungen usw.) zu bilden.

  2. Die Vereinbarung zur Jahresarbeitszeit sollte eine Grundarbeitszeitregelung enthalten. Damit ist ein betriebliches Arbeitszeitmodell gemeint, das die regelmäßige tarifliche wöchentliche Arbeitszeit festlegt und umsetzt (beispielsweise Montag bis Freitag täglich 7,5 Stunden - Montag bis Freitag 8 Stunden mit Zeitausgleich über ganze freie Tage oder ähnliches).

  3. Die Flexibilisierungsmöglichkeiten durch Nutzung der Verteilzeiträume werden dadurch erreicht, dass dem Arbeitgeber bestimmte Abweichungsmöglichkeiten von dieser Grundarbeitszeit eingeräumt werden. Dabei sind Höchstgrenzen der Abweichungsmöglichkeiten festzulegen. Derartige Grenzen könnten im Blick auf wöchentliche Arbeitszeiten bei bis zu 10 Stunden plus oder minus und hinsichtlich der täg-

    [Seite der Druckausg.:103]

    lichen Arbeitszeiten in den Vorschriften des Arbeitszeitgesetzes (10 Stunden) liegen.

  4. Die o. g. Abweichungsmöglichkeiten kann der Arbeitgeber ohne Beteiligung des Betriebsrates nutzen, wenn er bestimmte Ankündigungsfristen einhält. Derartige Ankündigungsfristen sollten 10 Tage nicht unterschreiten.

  5. Werden Arbeitszeiten innerhalb der Abweichungsbefugnisse und der Ankündigungsfristen verändert, so handelt es sich um eine andere Verteilung der regelmäßigen tariflichen wöchentlichen Arbeitszeit und nicht um Mehrarbeit. Werden über Grundarbeitszeit und Möglichkeiten einer anderen Verteilung innerhalb der Ankündigungsfrist Arbeitsstunden geleistet, so handelt es sich um Mehrarbeit im Sinne der Mitbestimmung des Betriebsrates nach § 87 und im Zuschlagssinne.

  6. Verlängert der Arbeitgeber aufgrund seiner Abweichungsbefugnis für Arbeitnehmer in teilkontinuierlicher Wechselschichtarbeit die Arbeitszeit an Samstagen, kann dies u. U. dazu führen, dass die Voraussetzungen der fiktiv-vollkontinuierlichen Arbeitsweise erfüllt werden. Die Betriebsvereinbarung über Jahresarbeitszeit soll vorsehen, dass die beteiligten Arbeitnehmer die höhere Zulage für vollkontinuierliche Arbeitsweise erhalten, wenn für ihren Arbeitsplatz die Voraussetzungen der fiktiv-vollkontinuierlichen Schichtarbeit für mindestens drei Wochen erfüllt sind; dieser Anspruch soll auch dann bestehen, wenn nicht jeder einzelne Arbeitnehmer individuell gleichfalls die entsprechenden Voraussetzungen erfüllt. In der Vereinbarung über Jahresarbeitszeit ist vorzusehen, dass das Vorliegen der Voraussetzungen für die vollkontinuierliche Schichtzulage regelmäßig überprüft wird.

  7. Die Vergütung muss für alle Arbeitnehmer mit Jahresarbeitszeit im Monatslohn erfolgen.

  8. Als Urlaubstage gelten die entsprechend der Grundarbeitszeit bzw. im Rahmen der Abweichungsbefugnis festgelegten Arbeitstage. Gegebenenfalls ist eine Nachberechnung des Urlaubs vorzunehmen.

    [Seite der Druckausg.:104]

  9. Der Verteilzeitraum für die Jahresarbeitszeit muss in der Vereinbarung kalendermäßig bestimmt werden (z. B. 01.01. bis 31.12. oder 01.04. bis 31.03.).

  10. Eine Überwachung von Zeitkonten hat im Hinblick auf die Einhaltung der regelmäßigen tariflichen wöchentlichen Arbeitszeit regelmäßig auch durch den Betriebsrat stattzufinden. Zumindest einmal pro Quartal ist der Stand der Zeitkonten auch im Hinblick auf die personelle Ausstattung zwischen Arbeitgeber und Betriebsrat zu beraten.

  11. Betriebsvereinbarungen zur Jahresarbeitszeit sollten Probecharakter haben und daher zunächst nur für die Dauer eines Jahres abgeschlossen werden. Die Nachwirkung muss ausdrücklich ausgeschlossen sein. Dies kann auch in der Weise geschehen, dass die Vereinbarung zu einem bestimmten Zeitpunkt ohne Nachwirkung endet, wenn nicht zuvor eine Verlängerung der Regelung im Einvernehmen zwischen den Betriebsparteien vereinbart wird.

  12. Betriebliche Jahresarbeitszeitregelungen erfordern individuelle Zeitkonten für jeden Arbeitnehmer. Die damit zusammenhängende Mitbestimmung des Betriebsrates und die datenschutzrechtlichen Gesichtspunkte sind in einer gesonderten Vereinbarung zu regeln.

Die Zukunft der Arbeitszeitgestaltung lässt sich jedoch nicht nur an der Frage der Zeitkonten und Verteilzeiträume mit Jahresfrist festmachen.

Durch die gesetzliche und tarifliche Möglichkeit, Altersteilzeit in Anspruch zu nehmen, ist die Diskussion eröffnet worden, ob es Sinn macht, Lebensarbeitszeitmodelle tarifvertraglich zu vereinbaren. Beeinflusst wird diese Diskussion von der Tatsache, dass es nicht nachhaltig gelungen ist, Mehrarbeit abzubauen und in Beschäftigung umzumünzen.

[Seite der Druckausg.:105]

Schaubild 6:

Langzeitkonto

Zeit/Geld

(z.B. VW-Modell der Altersvorsorge)

Zeit/Zeit

(z.B. Sabbatical, Altersteilzeit)

Zeit/Wissen

(Bildungsurlaub, Shell-Modell)
(Qualifizierungsmaßnahmen)

Ansatzpunkt ist die gemeinsame BDA/DGB – Erklärung vom 6. Juli 1999, in der eine differenzierte und flexibilisierte Arbeitszeitpolitik und der beschäftigungswirksame Abbau von Überstunden festgeschrieben wurde.

In Verbindung mit Altersvorsorge und der Rentendiskussion eröffnen sich Möglichkeiten, Jahresarbeitszeitkonten über einen längeren Zeitraum zu führen und nach Ablauf von zu definierenden Zeiträumen einer individuellen Nutzung zuzuführen.

Hierzu heißt es in der Erklärung des Bündnisses für Arbeit, Ausbildung und Wettbewerbsfähigkeit vom 10. Juli 2000 u. a.: Wir sehen in langfristigen Arbeitszeitguthaben eine Möglichkeit, lebenslagenorientiert in Weiterbildung, in Altersvorsorge und in ein vorzeitiges Ausscheiden aus dem Erwerbsleben im Rahmen der Altersteilzeit zu investieren.

Die Umsetzung solcher Erklärungen wird die Tarifpolitik in den nächsten Jahren fordern und zu Regelungen führen, die die Arbeitszeitpolitik in Verbindung bringt mit zu beantwortenden Fragen der

  • Qualifizierung

  • Altersvorsorge

  • Arbeitszeitkonten

  • Sabbaticals

  • Teilzeitarbeit

  • Zusatzrente, usw.

[Seite der Druckausg.:106]

In das Langarbeitszeitkonto können Guthaben aus dem Jahresarbeitszeitkonto, die aus betrieblichen Gründen nicht abgegolten werden können, mit Zustimmung des Arbeitnehmers eingestellt werden. Darüber hinaus kann der Arbeitnehmer entscheiden, dass „X %" seines Zeitguthabens aus dem Jahresarbeitszeitkonto übertragen werden, ohne dass dafür betriebliche Erfordernisse vorliegen.

Zu prüfen ist, inwieweit auf Wunsch der nicht in Anspruch genommene tarifliche Urlaub in das Langzeitarbeitszeitkonto eingestellt werden kann.

Das Langarbeitszeitkonto ist in Zeit und Geld zu führen; der Geldwert ist zu verzinsen und gegen Insolvenz zu schützen.

Für die Inanspruchnahme des Langarbeitszeitkontos sind in Anhängigkeit von der Zeitdauer der Inanspruchnahme entsprechende Ankündigungsfristen durch den Arbeitnehmer und Bestätigungszeiträume durch den Arbeitgeber zu vereinbaren. Denkbar wäre, bei Freistellungen über vier Wochen ein Ankündigungszeitraum von acht Wochen und ein Bestätigungszeitraum von vier Wochen vor dem geplanten Freistellungstermin.

Für längere Freistellungen ab einem Jahr sollte der Ankündigungszeitraum sechs Monate und der Bestätigungszeitraum nach der Antragstellung drei Monate betragen.

Die Inanspruchnahme aus dem Langarbeitszeitkonto sollte erfolgen

  • für längere Freistellungen für persönliche Angelegenheiten, z.B. Bildung, Fortbildung (auch innerbetriebliche Fortbildung),

  • zur Verbesserung der Einkommenssituation bei der Inanspruchnahme von Altersteilzeit,

  • zum gleitenden Übergang in den Ruhestand ohne Rentenabschläge bzw. im Zusammenhang mit der Inanspruchnahme von Altersteilzeit,

  • für Qualifizierungsmaßnahmen.

Wir als Tarifvertragspartei stellen uns diesen Aufgaben und treten für Regelungen ein, die der Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen unserer Mitglieder dienen.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | November 2001

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