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TEILDOKUMENT:


[Seite der Druckausg.:31]


Steffen Lehndorff
Arbeitszeitkonten als Instrument einer besseren Kontrolle der Arbeitszeit durch die Beschäftigten – oder als Türöffner zur Arbeitszeitverlängerung?


Arbeitszeitkonten machen Karriere in Deutschland. Immer mehr Unternehmen führen Kontenmodelle ein, und bei den Beschäftigten erfreuen diese sich wachsender Beliebtheit. Vielen Kommentatoren gelten Arbeitszeitkonten als ein Königsweg, um die Flexibilitätsinteressen der Unternehmen und die individuellen Arbeitszeitbedürfnisse der ArbeitnehmerInnen unter einen Hut zu bekommen. Nicht selten hört man auch, mit Hilfe von Arbeitszeitkonten könnten Arbeitsplätze gesichert oder sogar geschaffen werden.

Diese Erwartungen sind, so meine ich, nicht unrealistisch – aber nur unter bestimmten Bedingungen. Es sollte mehr über die Voraussetzungen diskutiert werden, unter denen Arbeitszeitkonten die in sie gesetzten Erwartungen erfüllen können. Wenn wir uns diese Bedingungen nicht klar machen und daraus die notwendigen Konsequenzen ziehen, können sich Arbeitszeitkonten unter der Hand in etwas ganz anderes verwandeln: in ein Instrument zur heimlichen Arbeitszeitverlängerung.

Diese These mag zunächst abwegig erscheinen. Ich will sie deshalb im folgenden begründen, indem ich auf einige Strukturveränderungen der Arbeitszeit in Deutschland eingehe. Dadurch werden die Voraussetzungen erkennbar, unter denen ArbeitnehmerInnen mit Hilfe von Arbeitszeitkonten ihre Arbeitszeit tatsächlich besser kontrollieren können.

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Strukturveränderungen der Arbeitszeit

Wie wir alle wissen, ist infolge der gewerkschaftlichen Bemühungen die durchschnittliche Arbeitszeit ab Mitte der 80er Jahre weiter zurückgegangen. Die Verkürzung der tariflichen Arbeitszeiten ist auf die tatsächlich geleisteten Arbeitszeiten durchgeschlagen. Dies drückt sich zum Beispiel in den Erhebungen des Mikrozensus aus, bei denen nach den „gewöhnlich im

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Durchschnitt pro Woche geleisteten Arbeitsstunden" gefragt wird. Sieht man sich jedoch die Verteilung der tatsächlichen Wochenarbeitszeiten genauer an, so erkennt man Anzeichen einer Trendumkehr in den 90er Jahren (Abbildung 1). 1995 arbeiteten die Vollzeitbeschäftigten zwar kürzer als 1987, aber schon wieder etwas länger als 1990.

Abbildung 1: Verteilung der gewöhnlichen wöchentlichen Arbeitszeit von abhängig Beschäftigten in Deutschland, 1987 / 1990 / 1996 (Männer und Frauen)

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[Seite der Druckausg.:33]

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Quelle: Eurostat Sonderauswertung (IAT)

Für den sich abzeichnenden Pendelschlag zurück zu längeren Arbeitszeiten gibt es verschiedene Gründe. Einer davon liegt schlicht in der Tatsache, dass die Arbeitszeiten in Ostdeutschland, die in die Erhebung von 1995 neu einbezogen wurden, länger als in Westdeutschland sind. Doch eine Trendwende kann daraus noch nicht folgen. Was sich jedoch in der neuen Tendenz zur Arbeitszeitverlängerung bereits ausdrückt, ist die Tatsache, dass es in Deutschland praktisch keine gewerkschaftlichen Bewegungen für Arbeitszeitverkürzungen mehr gibt. Weitere Gründe werden erkennbar, wenn wir die Strukturveränderungen der Arbeitszeit von Vollzeit- und Teilzeitbeschäftigten auf der Basis des Sozioökonomischen Panels (SOEP) für Westdeutschland - also ohne den Effekt der längeren Arbeitszeiten in Ostdeutschland – betrachten (Tabelle 1).

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Tabelle 1: Durchschnittliche tatsächliche Wochenarbeitszeit in Stunden nach Beschäftigtenkategorien, 1984 und 1997, Westdeutschland


Alle
Arbeitnehmer

Vollzeit

Teilzeit


1984

1997

1984

1997

1984

1997

Un- und Angelernte

35,9

31,4

41,1

41,5

25,1

16,3

Arb./Ang./Beamte mit
dualer Ausbildung

39,2

37,3

42

41,3

25,9

21,4

Vorarb./höher qualif. Ang./Beamte

39,9

37,1

42,7

42,2

25,6

22,7

Meister

43,2

44,7

44

44,8

(23,2)

38,4

Hochqualif. Angest./Beamte

43,4

44,7

45,9

47

28,7

30,3

Insgesamt

39,4

37,7

42,8

43,1

26

21,2

Frauen

33,8

31,7

41,6

41,4

25,5

21,1

Männer

42,8

42,2

43,2

43,9

30,8

21,5

Anm.: Die Angaben sind wegen unterschiedlicher Erhebungsmethoden mit denen aus anderen Quellen nicht im Niveau, sondern nur in der Tendenz vergleichbar.

Quelle: Sonderauswertung Sozioökonomisches Panel (IAT)

Der Vergleich der Wochenarbeitszeiten in den Jahren 1984 und 1997 zeigt, dass wir es mit ganz unterschiedlichen, teilweise gegensätzlichen Tendenzen bei Männern und Frauen, Vollzeit- und Teilzeitbeschäftigten, niedrig und hoch Qualifizierten zu tun haben. Die durchschnittliche Arbeitszeit aller ArbeitnehmerInnen ist in diesem Zeitraum zwar gesunken, doch dies hängt im wesentlichen mit dem Anstieg des Anteils von Teilzeitbeschäftigten an allen ArbeitnehmerInnen sowie dem Rückgang der durchschnittlichen Ar-

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beitszeit von Teilzeitkräften – insbesondere durch den Zuwachs bei der geringfügigen Beschäftigung – zusammen. Die durchschnittliche Arbeitszeit der Vollzeitbeschäftigten dagegen ist trotz tariflicher Arbeitszeitverkürzungen ungefähr gleichgeblieben, wobei der leichte Rückgang der Arbeitszeiten von Frauen durch den Anstieg der Arbeitszeiten von Männern kompensiert oder sogar leicht überkompensiert wurde. Diese geschlechtsspezifische Differenzierung dürfte auf der niedrigsten Qualifikationsstufe am ausgeprägtesten sein, wenn man den massiven Rückgang der durchschnittlichen Arbeitszeit der Teilzeitkräfte in die Betrachtung einbezieht. Hinsichtlich der Statusgruppen ist die Arbeitszeitverlängerung zum größten Teil auf die höheren Qualifikationsgruppen zurückzuführen. Die Arbeitszeitverkürzungen sind allein bei den Arbeitern und Angestellten mittlerer Qualifikation auf die tatsächlichen Arbeitszeiten durchgeschlagen.

Nun stellen die zuletzt genannten Beschäftigtenkategorien die große Mehrheit der abhängig Beschäftigten dar. Die tarifvertragliche Arbeitszeitregulierung ist insoweit immer noch wesentlich wirksamer als ihr Ruf. Wenn ich jetzt auf einige Probleme zu sprechen komme, dann bitte ich deshalb, dies nicht als Schwarzmalerei aufzufassen. Es geht mir lediglich darum, auf ernst zu nehmende Frühwarnsignale aufmerksam zu machen.

Wie die Tabelle zeigt, sind vor allem die Arbeitszeiten der hochqualifizierten Angestellten (und Beamten) länger geworden. Hier liegt der Verdacht nahe, dass diese Beschäftigtenkategorien eine durch die Arbeitszeitpolitik der Tarifparteien ohnehin nicht tangierte Minderheit darstellen. Doch dem ist nicht so. Über ein Viertel der Angestellten haben heute einen Hochschulabschluss und werden deshalb in der Statistik als hochqualifiziert eingestuft. Sehen wir uns an, wie sich die Arbeitszeiten derjenigen hochqualifizierten Angestellten entwickelt haben, die eine vertraglich vereinbarte Arbeitszeit haben (und dies ist immer noch die große Mehrheit der Angestellten dieser Kategorie). Ihre vertraglich vereinbarte Arbeitszeit ist von 1984 bis 1997 um rund drei Stunden zurückgegangen, doch ihre tatsächliche Wochenarbeitszeit hat um rund eine Stunde zugenommen (Abbildung 2). Es hat sich also eine Schere zu öffnen begonnen.

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Abbildung 2: Durchschnittliche vereinbarte und tatsächliche wöchentliche Arbeitszeiten der Angestellten mit hochqualifizierter Tätigkeit und Führungsaufgaben in Westdeutschland

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Quelle: Wagner (2000a)

Diese Scherenbewegung bedeutet praktisch, dass die betreffenden Beschäftigten immer mehr Überstunden arbeiten. Zur Struktur dieser Überstunden gibt uns das SOEP ebenfalls Auskunft (Abbildung 3).

Die Überstunden der größten Beschäftigtenkategorien werden in hohem Maße durch Freizeit ausgeglichen. Das „Abfeiern" von Überstunden scheint bereits eine größere Bedeutung erlangt zu haben als die klassische bezahlte Mehrarbeit. Doch bei den höher und hochqualifizierten Beschäftigten schieben sich die unbezahlten Überstunden in den Vordergrund. Bei den hochqualifizierten Angestellten ist sogar der größte Anteil der Überstunden unbezahlt.

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Abbildung 3: Angestellte* nach Qualifikation und Art der Abgeltung von Überstunden, Deutschland 1996

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* nur Vollzeitbeschäftigte mit vertraglich vereinbarten Arbeitszeiten
Quelle: Wagner (2000a)

Doch die Abbildung gibt lediglich eine Momentaufnahme wieder. Sehen wir uns deshalb die Entwicklung der Überstundenarbeit im Zeitablauf an (Tabelle 2). In den zurückliegenden zehn Jahren ist die Gesamtzahl der pro Beschäftigten in der Woche durchschnittlich geleisteten Überstunden angewachsen. Doch dies ist nicht etwa auf einen Anstieg der bezahlten Mehrarbeit zurückzuführen. Zugenommen haben zum einen die Überstunden mit Zeitausgleich. Hier spiegelt sich die Karriere der Arbeitszeitkonten wider, die ja in hohem Maße dem Zeitausgleich für „Mehrarbeit" dienen. Zugenommen haben aber ebenfalls die unbezahlten Überstunden. Ihr Volumen hat mit dem der bezahlten Überstunden ungefähr gleichgezogen.

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Tabelle 2: Strukturveränderungen der Überstundenarbeit in Deutschland*


1989

1993

1995

1999

Überstunden
regelmäßig (%)

35

39

45

56

Überstunden
selten/nie (%)

65

61

55

44

Überstundenvolumen pro Besch. pro Woche (Std.)

davon:

2,0

1,7

2,9

2,8

bezahlt (Std.)

1,0

0,6

1,3

0,9

unbezahlt (Std.)

0,4

0,6

0,9

0,8

Zeitausgleich (Std.)

0,6

0,5

0,7

1,1

* bis 1993 Westdeutschland.
Quelle: Bundesmann-Jansen et al. 2000

Sowohl die Überstunden mit Freizeitausgleich als auch die unbezahlten Überstunden gewinnen also an Bedeutung für die Struktur der Arbeitszeiten. Dies hängt, wie ich nun zeigen möchte, damit zusammen, dass flexible Formen der Arbeitszeitorganisation sich in Deutschland rasch ausbreiten.

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Arbeitszeitschwankungen und Arbeitsorganisation

Ein wesentliches Motiv von Unternehmen für die Einführung von Arbeitszeitkonten ist die kostengünstige Anpassung der Arbeitszeiten an Schwankungen des Arbeitsbedarfs. Nach einer kürzlich durchgeführten Erhebung des DIHT (2000) bei 19.000 Unternehmen setzen heute rund zwei Drittel der Unternehmen in Deutschland irgend eine Form flexibler Arbeitszeitorganisation ein, und wiederum zwei Drittel dieser Unternehmen gaben an, die flexible Arbeitszeitform erst in den zurückliegenden drei Jahren eingeführt zu haben. Es ist also damit zu rechnen, dass die Arbeitszeiten von immer mehr Beschäftigten mit dem Arbeitsanfall variieren.

Gemessen an dieser Erwartung sind die Arbeitszeiten der meisten ArbeitnehmerInnen in Deutschland noch erstaunlich stabil. Nach einer repräsenta-

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tiven Beschäftigtenbefragung des IAT arbeiten über drei Viertel der Beschäftigten jede Woche im wesentlichen die gleiche Stundenzahl (Tabelle 3). Lediglich (oder immerhin) 17% berichten davon, dass ihre Arbeitszeit stark vom Arbeitsanfall abhänge.

Tabelle 3: Schwankungen der wöchentlichen Arbeitszeit und ihre Ursachen (abhängig Beschäftigte, Angaben in vH aller Befragten)

Gleiche Stundenzahl pro Woche

46,3

Abgesehen von 1-2 Überstunden pro Woche in jeder Woche gleiche Stundenzahl

27,5

Leichte Variationsmöglichkeiten durch Gleitzeit

6,8

Regelmäßige Arbeitszeitänderungen durch Schichtsystem

4,9

Wöchentl. Arbeitszeit hängt stark vom tägl. oder wöchentl. Arbeitsanfall ab

16,9

Quelle: Wagner (2000b)

Sieht man sich nun an, welche Beschäftigtengruppen angeben, von schwankenden Arbeitszeiten betroffen zu sein, ergibt sich ein ähnliches Bild wie bei den Überstunden. Arbeitszeiten, die stark vom Arbeitsanfall abhängen, nehmen mit steigendem beruflichen Status zu. Diese Angestellten verfügen nach eigenen Angaben zwar über eine überdurchschnittlich ausgeprägte Arbeitszeitsouveränität, aber sie erringen sie um den Preis einer starken Anpassung der eigenen Zeit an die Erfordernisse des Unternehmens. Es kann daher nicht überraschen, dass Vollzeitbeschäftigte mit schwankenden Arbeitszeiten deutlich länger arbeiten als der Durchschnitt der abhängig Beschäftigten mit Vollzeitverträgen (Tabelle 4).

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Tabelle 4:

Durchschnittliche Dauer und Schwankung der tatsächlichen wöchentlichen Arbeitszeiten (abhängig Beschäftigte, Angaben in Stunden)


Beschäftigtenkategorie

Tatsächliche
Wochenarbeitszeit

Schwankungsbreite

Alle Vollzeitbeschäftigten

39,7

4,25

Alle Vollzeitbeschäftigten mit wöchentl. Gleichen Arbeitszeiten

38,1

0

Alle Vollzeitbeschäftigten mit Arbeitszeitschwankungen wegen unregelmäßigen Arbeitsanfalls

44,5

13,0

Quelle: Wagner (2000b)

Der statistische Zusammenhang zwischen schwankenden und langen Arbeitszeiten ist also unübersehbar. Dem statistischen Zusammenhang liegen aber reale Prozesse zugrunde, die uns dazu veranlassen sollten, aus den heutigen Arbeitszeitrealitäten hochqualifizierter Angestellter Schlussfolgerungen für die zukünftige Arbeitszeitregulierung insgesamt zu ziehen. Für das Management eines Unternehmens lautet die interessante Frage ja nicht primär, wie lange gearbeitet wird, um ein angestrebtes Ergebnis zu erzielen, sondern wie viel von dieser Zeit bezahlt werden muss. Es kann sich deshalb für das Unternehmen lohnen, mit den Beschäftigten lediglich die zu erzielende Leistung zu vereinbaren, aber das Problem, ob diese Leistung innerhalb einer bestimmten Arbeitszeit (sofern sie überhaupt tariflich oder einzelvertraglich definiert ist) zu erreichen ist, den Beschäftigten selbst zu überlassen. Variable Arbeitszeitsysteme zielen deshalb mehr und mehr darauf ab, das Vermögen der Arbeitenden zu fördern und zu nutzen, sich vorausschauend und relativ selbständig auf wechselnde Arbeitsanforderungen einzustellen. Zeitliche Flexibilität ist dann auf die Variierung von Dauer und Lage der individuellen Arbeitszeit durch die Beschäftigten selber ge-

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stützt, so dass Arbeitszeitänderungen nicht mehr vom Management angeordnet, sondern unter aktiver Mitwirkung der Beschäftigten zustande kommen oder sogar von ihnen in eigener Initiative vorgenommen werden.

Paradigmatisch für diese Tendenz steht die Just-in-time Produktion. „Man stellt die Beschäftigten dem Kunden gegenüber und nicht mehr dem Chef" lautete die prägnante Formel, auf die sie ein Gewerkschafter aus einem französischen Automobilzulieferbetrieb im Interview mit mir brachte (Lehndorff 1997: 73). Das „Man" in diesem Satz bedeutet, dass der Chef durchaus noch existiert. Aber er tritt gewissermaßen zur Seite und setzt die Beschäftigten der Notwendigkeit aus, sich in ihrer Arbeit direkt dem Markt zu stellen. In Bereichen mit hohen Qualifikationsanforderungen wird heute bereits vielfach die gesamte Verantwortung für die Arbeits- und Zeitplanung an die Beschäftigten übertragen. Von hier ist es nur noch ein Schritt bis zu einer Arbeitsorganisation, in der es den Beschäftigten selbst überlassen bleibt, in welcher Zeit das vereinbarte Ziel erreicht wird. Der Arbeitgeber steuert nicht mehr direkt durch Anordnung, sondern nur noch indirekt durch das Setzen der Rahmenbedingungen, unter denen die Beschäftigten bzw. Teams profitabel zu agieren haben. Die einzelnen Beschäftigten und ihre Teams sollen sich verhalten, als ob sie selbständig wären. Sie werden – mit den Worten von Peters (1996), dessen Argumentation ich mich hier anschließe - zu „unselbständig Selbständigen". Die Notwendigkeit, sich in eigener Initiative am Markt zu behaupten, geht mit dem Streben nach Selbstentfaltung in der Arbeit eine innige Verbindung ein. Unter den Bedingungen einer solchen indirekten Steuerung ist es durchaus denkbar, auch auf das Erfassen der Arbeitszeit zu verzichten. Dann wird Arbeitszeit vollständig „informalisiert", ihre Grenzen werden fließend. Wenn sie jetzt wieder länger wird, merkt dies außer den unmittelbar Betroffenen niemand mehr – und selbst diese scheinen sich nicht mehr dafür zu interessieren.

Selbstverständlich führt dies nicht zwangsläufig zu längeren Arbeitszeiten. Aber der Weg dahin wird geebnet, nicht mehr und nicht weniger. Die Beteiligten betreten Neuland: Die Übertragung von Verantwortung an die abhängig Beschäftigten, die Überwindung von geisttötender Routine und Weisungsabhängigkeit, größere inhaltliche und organisatorische Herausforderungen – all dies bietet den Beschäftigten größere Chancen für die Entwicklung der eigenen Fähigkeiten und die Stärkung des Selbstbewusstseins. Doch der entscheidende Punkt dabei ist, ob die Beschäftigten mit wachsen-

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der Verantwortung zugleich erweiterte Kompetenzen, Befugnisse und Ressourcen erhalten, also Voraussetzungen, die sie benötigen, um ihrer Verantwortung gerecht zu werden. Je größer die Diskrepanz zwischen Verantwortung und Voraussetzungen, desto größer die Leistungsverdichtung und der Stress. Es wächst die Notwendigkeit, dass die Beschäftigten ihre Arbeitszeit und ihre Arbeitsbedingungen individuell kontrollieren, dass Regulierung um Selbst-Regulierung erweitert wird (vgl. dazu ausführlicher Lehndorff 2000).

Vor diesem Hintergrund können Arbeitszeitkonten zwei ganz verschiedene Gesichter haben:

  • Sie können eine pro-forma-Lösung darstellen, wenn die Arbeit unter den vorgegebenen restriktiven Rahmenbedingungen nicht zu schaffen ist, so dass die Guthaben auf den Arbeitszeitkonten anwachsen und schließlich „überlaufen". Vielfach werden diese Überhänge dann einfach abgeschnitten, weil keine Möglichkeit zur Entnahme der Zeitguthaben absehbar ist. Das Resultat ist unbezahlte Mehrarbeit. Wenn Zeitguthaben in einer solchen Arbeitsumgebung auf die zur Zeit in Mode kommenden Langzeitkonten umgeschichtet werden, können zwar im Prinzip Ansprüche auf spätere Auszahlung gewahrt werden (im Extremfall zwecks Aufbesserung der Rente). Doch der unmittelbare Effekt auf die Arbeitszeiten bleibt derselbe: Sie werden unter der Hand wieder verlängert.

  • Arbeitszeitkonten können jedoch auch ein Instrument der selbstorganisierten Kontrolle der Beschäftigten über ihre eigene Arbeitszeit sein, weil sie die gearbeitete Zeit für die Beschäftigten, für ihre Vorgesetzten und für den Betriebsrat transparent machen. Wenn dies angestrebt wird, muss jedoch über zwei Dinge nachgedacht werden: über die Konstruktion der Arbeitszeitkonten und über die Voraussetzungen, unter denen sie diese Selbstkontroll-Funktion erfüllen können.

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Bedingungen für eine bessere Kontrolle der Arbeitszeit durch die Beschäftigten mit Hilfe von Arbeitszeitkonten

Auf sinnvolle Konstruktionsmöglichkeiten von Arbeitszeitkonten muss ich hier nicht im Detail eingehen, weil dazu an anderer Stelle in der vorliegenden Broschüre Beispiele aus der Praxis vorgestellt werden. Eines dieser Beispiele behandelt sogenannte Ampelkonten, die ich nur deshalb hier erwähne, weil sie ein besonders interessantes Grundmerkmal aufweisen. Sie zielen auf einen „Wenn-Dann-Mechanismus" ab: Wenn die Zeitguthaben auf den Arbeitszeitkonten (einzelner Beschäftigter, Teams oder Abteilungen) eine bestimmte Marke übersteigen, dann müssen bestimmte Maßnahmen ergriffen werden. Der Kern dieser Maßnahmen besteht immer darin, dass Wege zum Abbau der Guthaben vereinbart werden müssen und auch der Betriebsrat wieder ins Spiel kommt, dessen Mitbestimmungsmöglichkeiten über Mehrarbeit bei der Einführung variabler Arbeitszeiten ja zunächst de facto eingeschränkt werden. Der springende Punkt ist also, dass Arbeitsstunden, die über die vertraglich vereinbarte Zeit hinaus geleistet wurden, nicht einfach irgendwo pro forma verbucht und dann „vergessen" oder gekappt werden (weshalb sie über kurz oder lang ohnehin nicht mehr aufgeschrieben werden, weil das Verbuchen folgenlos bleibt), sondern dass etwas passiert, wenn die vertragliche Arbeitszeit über einen längeren Zeitraum hinweg überschritten wird. Arbeitszeitverlängerungen bleiben dadurch nicht länger das persönliche Problem einzelner Beschäftigter, sondern werden zu einer öffentlichen Angelegenheit in der Abteilung oder im Betrieb, zu einem Verhandlungsgegenstand.

Nun wissen wir gut, dass wir nicht allein dadurch zu Reichtum gelangen, dass wir uns ein Bankkonto einrichten. Auch Arbeitszeitkonten beeinflussen, für sich genommen, unsere Arbeitszeit nicht substantiell. Sie sind zunächst einmal nichts anderes als ein Pegel, der über den Wasserstand Auskunft gibt. Wenn beim Erreichen eines für bedenklich gehaltenen Pegelstandes eine Warnblinklampe angeht, wie dies die Ampelkonten vorsehen, ist dies ausgesprochen nützlich. Allerdings muss auch jemand hinsehen und Maßnahmen einleiten, sonst ändert sich nichts. Durch die bloße Existenz des Pegels wird der Wasserstand nicht reguliert.

Es geht also letztlich um die Voraussetzungen einer wirksamen Arbeitszeitregulierung mit Hilfe von Arbeitszeitkonten. Auf zwei besonders wichtige Voraussetzungen möchte ich hier aufmerksam machen.

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Erstens kommt es darauf an, Arbeitszeitkonten in die Arbeitsorganisation einzubinden. Unter den Bedingungen variabler Arbeitszeiten ist die Dauer der Arbeitszeit weder durch die Beschäftigten selber noch durch ihre gewählten Vertretungen wirklich kontrollierbar, wenn nicht beide ihren Einfluss auf die Arbeitsorganisation erhöhen. Welche materiellen Rahmenbedingungen müssen gegeben sein, um ein angestrebtes Arbeitsergebnis innerhalb einer vereinbarten Zeit erreichen zu können? Es wird darauf ankommen, diese Frage zu einem Verhandlungsgegenstand im Betrieb zu machen. Dies berührt das Verhältnis zwischen Lohn, Arbeitszeit und Arbeitsergebnis, also die Leistungsfrage, die in der deutschen Betriebsverfassung nur im Zusammenhang mit dem Leistungslohn – dessen Bedeutung unaufhörlich zurückgeht - zu einem mitbestimmungsrelevanten Thema gemacht werden konnte. Wo aber wird zukünftig die Auseinandersetzung um die Frage stattfinden, auf welchen impliziten Leistungsnormen Zielvereinbarungen beruhen? Offensichtlich haben viele Beschäftigte nur dann eine Chance, ihren Freizeitanspruch in flexiblen Arbeitszeitsystemen zur Geltung zu bringen, wenn eine unrealistisch knappe Personalbemessung zum betrieblichen Verhandlungsgegenstand gemacht werden kann. In einigen wenigen Betriebsvereinbarungen ist dies, wie rudimentär auch immer, bereits gelungen (siehe Kasten). Ein weiteres Beispiel für den Zusammenhang zwischen flexiblen Arbeitszeiten und Arbeitsorganisation ist die Gruppenarbeit. Beschäftigte in „teilautonomer Gruppenarbeit" haben überdurchschnittlich große Möglichkeiten, über Anfang und Ende ihrer täglichen Arbeitszeit sowie die Lage ihres Urlaubs zu entscheiden oder mitzubestimmen sowie ihre Arbeitszeit auf eigenen Wunsch kurzfristig zu verändern. Dennoch geben GruppenarbeiterInnen nicht häufiger als andere Beschäftigte mit vergleichbaren Tätigkeitsmerkmalen an, dass ihre Arbeitszeit mit dem Arbeitsanfall stark schwanke, und ihre Arbeitszeit ist sogar etwas kürzer als die der Vergleichsgruppe (Wagner 2000b). Eine wichtige Ursache dafür dürfte in der internen Flexibilität von Gruppen liegen.

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Arbeitszeitkonten und Personalbemessung:
Beispiele aus Betriebsvereinbarungen

Aus einem „Ampelmodell": „Rot 71-100 Std. Gleitzeitguthaben: Geschäftsleitung und Betriebsrat bestimmen den Stundenabbau und legen dafür Umfang und Zeitpunkt fest. Sollten mehr als 1 Arbeitnehmer in einer Abteilung im Rot-Bereich sein, treten Geschäftsleitung und Betriebsrat in Gespräche über Einstellungen in dieser Abteilung ein."

„Entwickeln sich die Zeitkontensalden des gesamten Betriebes bzw. einzelner Abteilungen in überhöhtem Maße (größer als 120 Stunden) und ist ein Abbau dieser im Ausgleichszeitraum nicht erkennbar, dann ist die Geschäftsleitung verpflichtet, mit dem Betriebsrat über Neueinstellungen in Verhandlung zu treten mit dem Ziel, wieder auf eine durchschnittliche wöchentliche Arbeitszeit von 35 Stunden zu kommen."

„Wird sich nach der vorliegenden Planung das durchschnittliche Freischichtkonto auf über + 100 Stunden entwickeln, ist zwischen Werkleitung, ZVL-Leitung und Betriebsrat rechtzeitig über geeignete Personalmaßnahmen zu beraten."

„Die individuelle Einsatzzeit pro Mitarbeiter ist von der Auftragssituation abhängig. ... Bei einer Erhöhung des Auftragsvolumens ist für die erforderliche Nutzungszeit die bestehende Arbeitszeitregelung durch ein verändertes oder neues Modell zu ersetzen. Vorrangig ist zu prüfen, ob personelle Maßnahmen wie Neueinstellungen, Versetzungen usw. Vorzunehmen sind."

Quelle: Texte von Betriebsvereinbarungen (Lindecke/Lehndorff 1997)

Die zweite Voraussetzung ist die Qualifikation. Dies betrifft unmittelbar die betriebliche Aus- und Weiterbildung, aber die Bedeutung des Themas reicht weit über den Betrieb hinaus. Die Nachfrage nach qualifizierter Arbeit nimmt zu, und zwar sowohl relativ zur Gesamtbeschäftigung als auch absolut. In den Jahren 1991 bis 1998 waren die Fachhochschul- und Universi-

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tätsabsolventInnen die einzigen wachsenden Beschäftigtengruppen in Deutschland (sowohl in West- als auch Ostdeutschland). Die Nachfrage nach gering qualifizierter Arbeit hat demgegenüber relativ und absolut abgenommen (Reinberg 1999). In einer IAB/Prognos-Studie wurde auf der Basis des qualifikatorischen Strukturwandels in Westdeutschland seit 1985 eine Projektion bis zum Jahr 2010 errechnet. Danach werden Hoch- und FachhochschulabsolventInnen in zehn Jahren um 50% stärker nachgefragt sein als Menschen ohne Berufsabschluß, während ihre Zahl vor 15 Jahren erst 40% der letzteren betrug (Tabelle 5).

Tabelle 5: Qualifikationsstruktur der Erwerbstätigen 1985 und 1995 und Projektion für das Jahr 2010
(Westdeutschland, in %)

Qualifikationsstufe nach dem Berufsabschluss

1985

1995

2010

Ohne Berufsabschluss

25,2

16,7

11,4

Lehre

56,5

60,5

59,6

Fachschule

8,0

8,6

12,0

Fachhochschule

3,5

5,1

6,7

Hochschule

6,8

9,0

10,3

Zusammen

100

100

100

Quelle: Reinberg (1999)

Ein ungenügender Nachschub an qualifizierten Arbeitskräften begünstigt eine heute bereits einsetzende Fehlentwicklung, die sich für die Gesellschaft als eine „ex und hopp"-Sackgasse erweisen wird: Je mehr „geistige Anlagen" ein Unternehmen besitzt, desto eher wird es – analog zu Maschinen – auf möglichst lange „Laufzeiten" dieser Anlagen drängen. Wissensbasierte

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Produktion und Dienstleistungen stärken also das unmittelbare Interesse der Unternehmen an langen Arbeitszeiten. Unmittelbare Interessen vieler der beteiligten Beschäftigten tragen das Ihre dazu bei: Begeisterung für die Sache, Identifikation mit dem Unternehmenserfolg, Karriere und Konkurrenz, aber auch Furcht vor beruflichen Nachteilen bis hin zur Angst um den Arbeitsplatz – die indirekte Steuerung hat viele Facetten. Doch wie sieht es mittelfristig aus? In den Jahren nach 2010, spätestens 2015, sind zum Beispiel die heute Ende 20- bis Anfang 30-jährigen IT-SpezialistInnen, die gegenwärtig in der Presseberichterstattung gerne als die Pioniere eines Arbeitens rund um die Uhr aus eigenem Antrieb gefeiert werden, 40 bis 50 Jahre alt. Ihren heutigen Arbeitsstil werden sie dann schon längst nicht mehr pflegen wollen - und dies auch nicht können. Manche von ihnen werden bereits ans Aussteigen denken und sich dies sogar wegen ihres hohen Einkommens erlauben können. Doch sie werden gerade in der Phase rückläufigen Arbeitskräftenachschubs mehr denn je gebraucht, und überdies werden sie weiterhin gesund, produktiv und kreativ sein müssen. Das „mismatch" zwischen Arbeitsnachfrage und -angebot in Tätigkeitsbereichen mit hohen Qualifikationsanforderungen wird bedeutend größer sein als heute – Folge einer „ex und hopp" – Mentalität im Umgang mit qualifizierter Arbeitskraft, die für viele Unternehmen und Beschäftigte heute typisch ist. Welches Land soll aber 2015 unser Indien sein?

Es wird deutlich, dass der Vergleich der „geistigen Anlagen" eines Unternehmens mit seinen Maschinen, deren Amortisation gleichermaßen nach langen Laufzeiten verlangt, aus dem einfachen Grunde hinkt, weil wir bei „Humankapital" über menschliche Individuen reden: Intelligenz und kreative Kraft von Menschen sind wie „nachwachsende Rohstoffe". In sie muss fortgesetzt investiert und ihnen muss auch Zeit zur Reproduktion gegeben werden, wenn ihr Nutzen für das Unternehmen, ganz zu schweigen vom Nutzen für die beteiligten Individuen, nachhaltig sein soll.

Kurz gesagt: Mit unseren Investitionen in das gesamte Bildungssystem sowie mit der Schaffung zeitlicher Ressourcen für die periodische Weiterbildung der Arbeitenden entscheiden wir heute darüber, ob die Arbeitszeit morgen unter dem Deckmantel ihrer Flexibilisierung verlängert wird – oder durch die Beschäftigten mit Hilfe von Arbeitszeitkonten tatsächlich besser kontrolliert werden kann.

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Literatur

Bundesmann-Jansen, Jörg/Groß, Hermann / Munz, Eva (2000): Arbeitszeit ’99. Ergebnisse einer repräsentativen Beschäftigtenbefragung zu traditionellen und neuen Arbeitszeitformen in der Bundesrepublik Deutschland. Köln: ISO Institut zur Erforschung sozialer Chancen im Auftrag des Ministeriums für Arbeit, Soziales und Stadtentwicklung, Kultur und Sport des Landes Nordrhein-Westfalen

DIHT (2000): Arbeitszeitflexibilisierung zur Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit. Berlin: Deutscher Industrie- und Handelstag

Lehndorff, Steffen (1997): Zeitnot und Zeitsouveränität in der just-in-time-Fabrik. Arbeitszeitorganisation und Arbeitsbedingungen in der europäischen Automobilzulieferindustrie. München und Mering

Lehndorff, Steffen (2000): Ist die Arbeitszeit in Zukunft noch regulierbar? In: ders. / Urban, Hans Jürgen (Hrsg.): Wiederaneignung der Zeit. Elemente einer neuen Regulation. Supplement der Zeitschrift Sozialismus 4/2000: 15-33

Lindecke, Christiane / Lehndorff, Steffen (1997): Aktuelle Tendenzen flexibler Arbeitszeitorganisation. Ein Überblick über neuere Betriebsvereinbarungen. WSI-Mitteilungen, Heft 7: 471 – 480

Peters, Klaus (1996): Der Begriff der Autonomie und die Reorganisation von Unternehmen. In: Fricke, E. (Hrsg.): Betrieblicher Wandel und Autonomie von Ingenieuren. Friedrich-Ebert-Stiftung, Forum Humane Technikgestaltung, Heft 14: 22-31

Reinberg, Alexander (1999): Der qualifikatorische Strukturwandel auf dem deutschen Arbeitsmarkt – Entwicklungen, Perspektiven und Bestimmungsgründe. MittAB, Heft 4: 434-447

Wagner, Alexandra (2000a): Arbeitszeiten hochqualifizierter Angestellter in Deutschland. Eine Auswertung des Sozio-oekonomischen Panels. In: Jahrbuch des Instituts Arbeit und Technik. Gelsenkirchen (im Erscheinen)

Wagner, Alexandra (2000b): Zeitautonomie oder Scheinautonomie? Arbeitszeitregelungen innerhalb und außerhalb von Gruppenarbeit. In: Nordhause-Janz, Jürgen / Pekruhl, Ulrich (Hrsg.): Arbeiten in neuen Strukturen? Partizipation, Kooperation, Autonomie und Gruppenarbeit in Deutschland. München und Mering: 139-172


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