FES HOME MAIL SEARCH HELP NEW
[DIGITALE BIBLIOTHEK DER FES]
TITELINFO / UEBERSICHT



TEILDOKUMENT:




[Seite der Druckausg.: 7]



Bernd Hof
Zuwanderungsbedarf der Länder der Europäischen Union


Anfang November 1991 wurde an gleicher Stelle im Gesprächskreis Arbeit und Soziales der Friedrich-Ebert-Stiftung die Zuwanderungspolitik der Zukunft (1992) aus Sicht der Bundesrepublik Deutschland behandelt.[Fn_1] Zwei Richtungen bestimmten damals die Diskussion. Unter Hinweis auf den nahen Martinstag meinten die einen, die reichen Industriestaaten seien zum Teilen und damit zur Aufnahme möglichst vieler Menschen aufgerufen. Andere mahnten mit dem Zitat von Rosa Luxemburg, die Freiheit des einen höre dort auf, wo die Freiheit des anderen beginne, zur Vorsicht und benannten einen ökonomisch begründeten Zuwanderungsbedarf. Aus deutscher Sicht kann man heute mit Zufriedenheit feststellen: Die Diskussion um die Wanderungsbewegungen wurde im Verlauf der zurückliegenden drei Jahre zunehmend sachlicher geführt. Geholfen hat dabei das Bemühen, Wanderungsfragen von ideologischen Zwängen zu befreien, sie in ökonomischen Zusammenhängen zu erörtern, ohne die sozialen und humanen Bezüge zu verlieren.

Page Top

1. Theoretische Vorbemerkung

Bemüht man die Theorie, liegen die Standpunkte gar nicht so weit auseinander. Denn die Ökonomen beurteilen internationale Wanderungsbewegungen vom Grundsatz her positiv. Die neoklassische Theorie[Fn_2] kommt unter der Annahme von Vollbeschäftigung sogar zu dem Ergebnis, daß der freie Austausch wirtschaftlicher Aktivitäten Voraussetzung für inter-

[Seite der Druckausg.: 8]

nationale Wohlfahrtsmaximierung ist. In diesem Prozeß siedeln sich Produktion und Kapital dort an, wo die Kosten besonders niedrig sind. Die Arbeitskräfte hingegen wandern in jene Regionen, wo die Arbeitsproduktivität und damit auch die Löhne besonders hoch sind. Auf diese Weise entsteht ein Wohlstandsplus. Arbeitskräftewanderungen überwinden Knappheiten und ebnen Produktivitätsunterschiede allmählich ein. Langfristig bildet sich auf den Faktor- und Gütermärkten ein einheitlicher Preis. Damit ist die effiziente Verteilung der Produktionsfaktoren im Raum erreicht.

Dieser Grundgedanke läßt sich an einem einfachen Modell nachvollziehen, in dem sich zwei Länder mit unterschiedlichen Produktionsbedingungen zu einem gemeinsamen Arbeitsmarkt entschließen. Dabei ist die Produktion im Ausland arbeitsintensiv und weist folglich ein niedriges Produktivitätsniveau auf. Im Inland hingegen sind die Produktionsverhältnisse kapitalintensiv und die Produktivitätsniveaus entsprechend hoch. Freizügigkeit der Arbeitskräfte führt langfristig zur Angleichung der Produktivitätsniveaus. Im Zuge dieses Prozesses verändern sich auch die Einkommensverteilungen mit spürbaren Lohnsteigerung im Ausland und Lohnsenkungen im Inland. Zuwanderung führt zu einer Einkommensumverteilung zwischen den Nichtmigranten zugunsten der Kapitalbesitzer, Abwanderung zu einer Umverteilung zugunsten der Arbeiter.[Fn_3] Entscheidend für das Ausmaß des Lohndrucks im Inland ist, in welche Arbeitsmarktsegmente Arbeitskräfte zuwandern. Findet Migration in Konkurrenz zu einheimischen Tätigkeiten statt oder ist sie komplementär und bewegt sie sich dorthin, wo im Inland Arbeitskräftemangel herrscht?

In diesem Sinn liefert das neoklassische Modell brauchbare Sortierungsansätze - trotz der zur Zeit überall verletzten Vollbeschäftigungsannahme. Deshalb sollen im folgenden Zuwanderungsbedarfe herausgearbeitet werden, die im wesentlichen komplementäre Funktion haben und konkurrierende Wirkungen weitgehend ausschließen. Welcher Effekt tatsächlich eintritt, entscheidet sich an der Entwicklung des Arbeitsplatzangebotes

[Seite der Druckausg.: 9]

wie des Arbeitskräftepotentials. Das wird für die Bundesrepublik Deutschland zunächst an drei historischen Arbeitsmarktsituationen erläutert.

Page Top

2. Exemplarischer Rückblick

In Westdeutschland hatte die Ausländerzuwanderung der sechziger Jahre zweifellos komplementäre Wirkungen. Die Entwicklung des inländischen Arbeitskräftepotentials reichte nicht aus, die Nachfrage nach Arbeitskräften zu befriedigen. Aber rein demographisch gesehen schrumpfte das inländische Arbeitskräfteangebot in den sechziger Jahren nicht. Es waren vielmehr Veränderungen im Erwerbsverhalten, die eine spürbare Schrumpfung des inländischen Arbeitskräftepotentials bewirkten: die Verlängerung der Schul- und Ausbildungszeiten sowie der Zug um Zug vorverlegte Rentenbeginn. Zugespitzt kann man formulieren, daß zwischen 1960 und 1975 die Ausländerzuwanderung den bildungs- und sozialpolitischen Fortschritt erst ermöglichte, zumindest aber begünstigte. Diese Zusammenhänge verdeutlicht Schaubild l. Darin zeichnet Modell I den Erwerbspersonenverlauf im Inland ohne Nettozuwanderung. Modell II setzt darüber hinaus noch die Erwerbsbeteiligung des Jahres 1960 konstant und legt so die demographischen Veränderungen der inländischen Erwerbsbevölkerung offen.

Bis Mitte der siebziger Jahre war die Zuwanderung nicht nur komplementär zum rückläufigen Erwerbsverhalten. Sie war es auch im konjunkturellen Sinn. Die Wanderungsbewegung der ausländischen Wohnbevölkerung hatte bis Mitte der achtziger Jahre eine hohe Korrelation mit den Schwankungen der Ausländerbeschäftigung. Erst nach 1985 ging der konjunkturelle Zusammenhang verloren: Seitdem übertreffen die Nettowanderungssalden der ausländischen Bevölkerung den aufwärts gerichteten Pfad der Ausländerbeschäftigung recht deutlich (Schaubild 2). Hinzu kam im Zuge des Wiedervereinigungsprozesses die hohe Zahl der Übersiedler aus der ehemaligen DDR und der Zustrom deutschstämmiger Aussiedler aus Osteuropa (Schaubild 3). Aufgrund all dieser Komponenten kommt man für die Zeit nach 1988 um den Befund nicht herum, daß die Zuwanderung von insgesamt 2,5 Millionen Arbeitskräften am westdeutschen Arbeitsmarkt konkurrierende Wirkungen auslöste. Auf dem Hintergrund von 2,2 Mil-

[Seite der Druckausg.: 10]

lionen Arbeitslosen 1987 war das gesamtwirtschaftliche Beschäftigungssystem überfordert, bis 1992 auch nur annähernd Vollbeschäftigung zu erreichen.[Fn_4] Verdrängungseffekte gab es vor allem in Arbeitsmarktsegmenten mit weniger qualifizierten Tätigkeitsanforderungen, weshalb trotz guter Konjunktur die Langzeitarbeitslosigkeit auf hohem Niveau blieb.


Schaubild 1:



Arbeitsmarktbilanzen 1960-1992 (D-West)

[Seite der Druckausg.: 11]


Schaubild 2:



Ausländer in Westdeutschland


Schaubild 3:



Westdeutsche Aussenwanderungssalden

[Seite der Druckausg.: 12]

Page Top

3. Zur demographischen Lücke

Diese am deutschen Arbeitsmarkt gesammelten Erfahrungen mahnen für alle Mitgliedstaaten der Europäischen Union Bedarfsschätzungen an, die beiden Arbeitsmarktseiten gerecht werden. Deshalb wird die erste Orientierung an den nachvollziehbaren Bevölkerungsentwicklungen festgemacht. Es geht zunächst um Szenarien, die lediglich die internen altersstrukturellen Prozesse fortschreiben und somit von einem langfristig ausgeglichenen Wanderungssaldo ausgehen. Da der Arbeitsmarkt im Vordergrund der Analyse steht, werden Projektionsergebnisse der Erwerbsbevölkerung im Alter zwischen 15 und 65 Jahren präsentiert. Nimmt man diesen aktiven Bevölkerungsteil für die einzelnen EU-Länder ins Visier, werden sehr unterschiedliche Entwicklungsmuster deutlich.[Fn_5] In Deutschland schrumpft die Erwerbsbevölkerung schon seit Ende der achtziger Jahre. Italien, Luxemburg und Belgien folgen in der ersten Hälfte der neunziger Jahre. Dänemark schließt sich 1996 an, Griechenland ein Jahr später. Spanien und Portugal erreichen die Gipfelpunkte der Erwerbsbevölkerung gegen Ende des Jahrzehnts. Die Niederlande überschreiten den Gipfel im Jahr 2008, Frankreich und Großbritannien erst im Jahr 2011, während in Irland die Erwerbsbevölkerung im gesamten Projektionszeitraum zunimmt.

Die Erwerbsbevölkerung der Europäischen Union (Schaubild 4) bleibt bis gegen Ende der neunziger Jahre bei annähernd 232 Millionen stabil. Erst danach setzt der Rückgang ein, der nach 2010 zunehmend an Tempo gewinnt. Das ist das Ergebnis der regional sehr differenziert verlaufenden Schrumpfungsprozesse. Mittelfristig wird die demographische Entwicklung der Union vor allem durch die beiden Mitgliedstaaten Deutschland und Italien gestört. Löst man nämlich die beiden Bevölkerungsgruppen heraus, nimmt in den verbleibenden zehn Mitgliedstaaten die Erwerbsbevölkerung bis zum Jahr 2008 zu.

Die Projektionen der Erwerbsbevölkerung fuhren zum ersten Abschätzungsversuch künftiger Zuwanderungsbedarfe. Dabei werden aus den Beobachtungen zurückliegender Migrationsströme zwei Erfahrungen ge-

[Seite der Druckausg.: 13]

nutzt. Das ist zum einen die bemerkenswert stabile Altersstruktur. Feststellbar war zugleich auch eine einigermaßen stabile Geschlechterproportion. Das führt zu drei Annahmen, die im gesamten Projektionszeitraum unverändert bleiben:


Schaubild 4:



Erwerbsbevölkerung in Europa 1990-2020

[Seite der Druckausg.: 14]

  • Es findet Familienwanderung und keine Arbeitskräftewanderung statt. Die Geschlechterproportionen künftiger Wanderungsbewegungen entsprechen in etwa derjenigen der einheimischen Bevölkerungen.

  • Das Durchschnittsalter der Migranten ist erheblich niedriger als das der ansässigen Bevölkerung.

  • Die Zuwanderer realisieren am Arbeitsmarkt ein ähnliches Erwerbsniveau wie die einheimische Bevölkerung.

Da die demographischen Lücken im Arbeitskräftepotential regional zeitversetzt auflaufen, entsteht eine Familienwanderung, die von Jahr zu Jahr größere Dimensionen annimmt (Tabelle). Die Nettowanderungssalden der Europäischen Union werden danach von 260.000 Personen pro Jahr in der ersten Hälfte der neunziger Jahre auf rund 1,9 Millionen Personen bis 2020 ansteigen. Deutschland und Italien werden sehr früh zu intensiven Zuwanderungsregionen, Frankreich und Großbritannien erst gegen Ende des Projektionszeitraums in weitaus geringerem Umfang. Diese lückenorientierte Zuwanderung würde für die Europäische Union in den kommenden dreißig Jahren im Durchschnitt eine Nettozuwanderung von jährlich 900.000 Personen bedeuten - Kinder, Arbeitnehmer, Ältere. Davon entfielen allein 400.000 auf Deutschland und 200.000 auf Italien. Bemerkenswert ist dabei auch, daß Spanien und Portugal nach dem Jahr 2000 sehr rasch in beachtliche, demographisch bedingte Potentiallücken hineinlaufen werden.

[Seite der Druckausg.: 15]

Tabelle:

Potentialorientierte Zuwanderung für die Mitgliedstaaten der EU
- Jahresdurchschnittliche Wanderungssalden in 1000 Personen -


Land

1991-1995

1996-2000

2001-2005

2006-2010

2011-2015

2016-2020

Insg. 1991-2020 in Mio.

EU

260

475

635

960

1391

1878

28,0*

B

2

11

28

40

46

60

0,9

DK

0

8

18

20

21

25

0,5

D

302

440

292

290

462

712

12,5

GR

0

0

16

22

43

50

0,7

E

0

0

25

114

168

188

2,5

F

0

0

12

98

139

150

2,0

IRL

-45

-40

-27

-9

-1

-1

..

I

0

65

222

294

336

384

6,5

L

1

1

2

2

2

2

..

NL

0

11

40

58

60

88

1,3

P

0

0

7

18

29

42

0,5

UK

0

0

0

24

86

178

1,4

* Differenzen durch Rundungen.

Quelle: Hof, 1993.

Vier Schlußfolgerungen lassen sich aus diesem demographischen Prozeß ableiten. Die Dramatik auf der Zeit- und auf der Mengenachse fordert in der Europäischen Union unterschiedliche Anpassungsprozesse heraus. Im Hinblick auf die Gesamtbevölkerung und die erwartbare Geburtenentwicklung wird aber auch deutlich, daß die Union längerfristig die Bevölkerungsentwicklung nur noch über Zuwanderung stabilisieren kann. Aber selbst bei hoher Zuwanderung werden die Bevölkerungen altem. Allenfalls die Dynamik des Alterungsprozesses läßt sich durch Zuwanderung mildern. Viertens schließlich führt die am Arbeitskräftepotential orientierte Lückenzuwanderung in ein dynamisches Bevölkerungswachstum hinein, und dies selbst dann, wenn die Geburtenziffern (GZ) und die Lebenserwartung (LE) im gesamten Projektionszeitraum unverändert bleiben (Schaubild 5).

[Seite der Druckausg.: 16]


Schaubild 5:



Bevölkerungsprognose EU 1990 bis 2020

[Seite der Druckausg.: 17]

Page Top

4. Interne Ausgleichspotentiale

Diese rein demographisch abgeleiteten Größenordnungen wären im Sinne der Neoklassik für den Arbeitsmarkt komplementär, denn sie resultieren aus der altersstrukturell bedingten Abnahme des Arbeitskräftepotentials. Da jedoch diese lückenorientierte Zuwanderung einschließlich der mitwandernden Familienangehörigen in ein dynamisches Bevölkerungswachstum hineinfuhrt, liegt es nahe, nach internen Ausgleichspotentialen zu suchen, die sich aus verändertem Erwerbsverhalten ableiten lassen. Zusammengefaßt ist an drei Möglichkeiten zu denken:

  • Die europäischen Gesellschaften verkürzen die Ausbildungszeiten, um die den Geburtendefiziten folgende Nachwuchslücke zu verringern.

  • Sie greifen verstärkt auf die steigenden Erwerbswünsche der Frauen zurück.

  • Sie schieben den Rentenbeginn hinaus, um das ältere Arbeitskräftepotential länger auszulasten.

Schon ein Blick auf das Erwerbsverhalten des Jahres 1990, das in Schaubild 6 für Belgien, Deutschland und die Niederlande dargestellt ist, macht trotz der räumlichen Nähe sehr unterschiedliche Erwerbsentwürfe deutlich. Die Erwerbsquoten in Belgien sind ausgesprochen niedrig, die Ausbildungszeiten entsprechend lang. Die Erwerbsquoten der älteren deutschen Männer liegen spürbar höher als in Belgien und in den Niederlanden, wo folglich die Männer wesentlich früher in den Ruhestand treten. Auch die Erwerbsquoten der deutschen Frauen im Alter von mehr als vierzig Jahren liegen über den entsprechenden Quoten der beiden Nachbarregionen. Aber für alle drei Staaten weisen die Frauenerwerbsquoten noch den typischen Drei-Phasen-Verlauf auf, der nach Familiengründung zu einem spürbaren Rückgang der Erwerbsbeteiligung führt, die anschließend, so wie in Deutschland, dann wieder leicht zunimmt.

Zunächst wäre herauszufinden, wie sich die regionalen Erwerbslandschaften künftig verändern. Ist es etwa vorstellbar, daß bei einsetzender demographischer Verknappung des Arbeitskräfteangebots die belgischen Männer zu ähnlich hohen Erwerbsniveaus finden wie die deutschen oder wird es bei den für Belgien typisch niedrigeren Werten bleiben? Oder - wollen die holländischen Frauen im gleichen Umfang erwerbsbeteiligt sein, wie

[Seite der Druckausg.: 18]

die dänischen Frauen mit ihren höchsten Quoten innerhalb der Union? Das ist im Einzelfall schwer zu entscheiden. Aber man wird sicher davon ausgehen können, daß die regional über längere Zeiträume entstandenen Erwerbsentwürfe zunächst ihre typische Gestalt behalten werden. Eine europaweit einheitliche Erwerbsneigung wird sich aller Voraussicht nach nicht einstellen.


Schaubild 6:



Erwerbsbeteiligung 1990

[Seite der Druckausg.: 19]

Auf diesem Hintergrund fließen drei Sichtweisen in die Annahmen zur Erwerbsbeteiligung ein. Es wird von keiner generellen Verkürzung der Ausbildungszeiten ausgegangen, weil der Bedarf an qualifizierten Arbeitskräften künftig steigt. Angenommen wird eine weiterhin steigende Frauenerwerbsbeteiligung. Dabei sollte allerdings darauf geachtet werden, daß die steigende Auslastung der weiblichen Erwerbsbevölkerung nicht zu Lasten der Familie und damit der Geburten geht. Der Staat hat dafür zu sorgen, daß das infrastrukturelle Umfeld des Familienbildungsprozesses verbessert wird, sei es durch ein ausreichendes Kindergartenplatzangebot oder sei es durch die Einführung von Ganztagsschulen. Am oberen Rand der Erwerbspyramide wird es wenig Sinn machen eine Strategie zu wählen, die der kaum wendbaren Nachwuchslücke ein immer größer werdendes Potential älterer Arbeitnehmer gegenüberstellt. Ein so motivierter späterer Rentenbeginn würde der ohnehin einsetzenden Alterungstendenz des Arbeitskräftepotentials weiteren Vorschub leisten. Die regional unterschiedlichen Veränderungen werden für die Union in zwei Erwerbsvarianten zusammengefaßt:

  • Bei den Männern steigt in der oberen Variante die Erwerbsquote von derzeit 80% auf 83% im Jahr 2020, in der unteren Variante auf 81,6%.

  • Bei den Frauen wird bis zum Jahr 2020 in der unteren Variante ein Quotenanstieg von derzeit 54% auf 60% erwartet und in der oberen Variante auf 65,5% (Schaubild 7).

[Seite der Druckausg.: 20]


Schaubild 7



EU-Erwerbsbeteiligung (EB) 1990 und 2020: zwei Varianten



Page Top

5. Größenordnungen des internen Ausgleichs

Folglich kann die Europäische Union intern durch steigendes Erwerbsverhalten beachtliche Ausgleichspotential erschließen (Schaubild 8). Selbst in der unteren Erwerbsvariante würde das Arbeitskräfteangebot ohne Zuwanderung bis zum Jahr 2005 auf rund 163 Millionen ansteigen, während es bei konstanter Erwerbsneigung bei rund 156,5 Millionen liegen würde.

[Seite der Druckausg.: 21]

Damit fuhrt die untere Erwerbsvariante bis zum Jahr 2005 zu einem Ausgleichspotential von rund 6,5 Millionen Arbeitskräften. Die obere Erwerbsvariante wirft für das gleiche Jahr ohne Zuwanderung ein Arbeitskräftepotential von annähernd 167 Millionen aus. Das sind gut zehn Millionen mehr als im Fall konstanter Erwerbsbeteiligung des Jahres 1990. Bemerkenswert ist auch dies: Bis 2012 führt selbst die untere Erwerbsvariante zu einem Arbeitskräfteverlauf, der höher liegt als der Pfad mit exakt lückenorientierter Zuwanderung. Dieser Verlauf wird für die Mehrzahl der Mitgliedstaaten typisch sein.


Schaubild 8:



Arbeitskräfteangebot EU 1990 bis 2020

[Seite der Druckausg.: 22]

Es ist vor allem die Bundesrepublik Deutschland, die aus diesem Bild ausschert. Dort wird es kaum möglich sein, die demographische Lücke allein durch interne Ausgleichspotentiale zu schließen. Dafür ist die Wucht der demographischen Schrumpfung zu stark.[Fn_6] Ähnlich verhält es sich in Dänemark, dort aber vor allem wegen der ohnehin schon heute hohen Erwerbsbeteiligung der Frauen, die kaum noch Steigerungsmöglichkeiten zulassen. Auch Italien wird intern beachtliche Ausgleichspotentiale erschließen können, aber ein Ausgleich der demographischen Lücke wäre nur in der hohen Erwerbsvariante möglich. Somit wird deutlich, daß die lückenorientierten Nettowanderungsvolumen konkurrierende Arbeitsmarktbeziehungen auslösen werden, wenn sie im Inland auf steigendes Erwerbsverhalten stoßen. Eine solche Konkurrenzsituation ist weniger für Deutschland, Dänemark und Italien zu erwarten, sehr wohl aber für Frankreich und Großbritannien.

Die konkurrierenden Mechanismen werden weniger in den Arbeitsmarktsegmenten der Männer anzutreffen sein, sondern in den Feldern der Frauenbeschäftigung. Denn die internen Ausgleichspotentiale der Frauen weisen Größenordnungen auf, die die alterungsbedingten Schrumpfungseffekte bei weitem überwiegen. Um so mehr müssen die europäischen Aufnahmegesellschaften entscheiden, welchen Weg sie gehen wollen. Entscheiden sie sich intern für eine maximale Auslastung des vorhandenen Arbeitskräftepotentials oder wird Zuwanderung im jeweils entsprechendem Ausmaß bei eher gemäßigtem Erwerbsanstieg zugelassen. Man kann dies auch auf das Gegensatzpaar reduzieren: die Europäer der Zukunft „Arbeiten um zu leben" oder sie „Leben um zu arbeiten".

Wie auch immer die Entscheidungen ausfallen, die Veränderungen der Altersstrukturen sind beachtlich. Es ist unabwendbar, daß die Zahl der jungen Arbeitskräfte europaintern zurückgehen wird (Schaubild 9). Die Altersgruppe der 15- bis 25jährigen wird im Status quo von 28,5 Millionen 1990 auf nur noch rund 20 Millionen bis 2020 sinken. Demgegenüber nimmt die Zahl der über 55jährigen Arbeitskräfte spürbar zu, in der oberen Variante von 16,5 Millionen heute auf gut 28 Millionen. Sie steigt damit auf das Nachwuchspotential des Jahres 1990 an. So ist es auch diese Scherenbewegung, die die natürliche Regeneration des Humankapi-

[Seite der Druckausg.: 23]

tals zunehmend gefährdet. Alle europäischen Staaten wären gut beraten, die negativen Auswirkungen der Nachwuchslücke durch eine bewußt gesteuerte Zuwanderung zu begrenzen. Sie wäre komplementär. Demgegenüber sind konkurrierende Beziehungen über den Frauenarbeitsmarkt hinaus auch bei den weniger qualifizierten Stammbelegschaften im Alter zwischen 25 und 55 Jahren auszumachen.


Schaubild 9:



Arbeitskräfte-Regeneration EU 1990-2020

Das Ergebnis der Suche nach Ausgleichspotentialen läßt sich so zusammenfassen: Etwa bis zum Jahr 2005 kann die Europäische Union dem

[Seite der Druckausg.: 24]

demographischen Schrumpfungsprozeß im Arbeitskräftepotentials durch steigende Erwerbsbeteiligung wirksam begegnen. Für die Union insgesamt mag dies ein beruhigender Befund sein. Für die einzelnen Mitgliedstaaten gilt das nicht automatisch. Dazu bedarf es eines funktionsfähigen regionalen Ausgleichs: Die Arbeitskräftemobilität müßte unionsintern spürbar steigen. Auf den Punkt gebracht bedeutet dies, daß sich die Überschußpotentiale regional dorthin bewegen, wo die demographischen Schrumpfungstendenzen zuerst zu Buche schlagen, also eine spürbare Migration etwa von Frankreich oder Großbritannien nach Deutschland oder Italien. Die Wahrscheinlichkeit für zunehmende Mobilität kann aus heutiger Sicht nicht hoch eingeschätzt werden. Zumindest im deutschen Außenwanderungsbefund hat sich die Hoffnung der Europäischen Union nicht erfüllt, mit steigender wirtschaftlicher Integration würde die Mobilität der Menschen zunehmen. In Deutschland stieg die Ausländerbeschäftigung nicht durch Zuwanderung aus den Mitgliedstaaten, sondern durch die Arbeitsaufnahme von Kräften außerhalb der Union.

Page Top

6. Zur Beschäftigungsdynamik

Die bislang allein am Arbeitskräftepotential orientierten Ausgleichsmechanismen bedürfen der Ergänzung um die Entwicklung der Beschäftigungsmöglichkeiten. Gegenwärtig mag es zunächst wenig überzeugen, bei rund 18 Millionen Arbeitslosen in der Europäischen Union auf längerfristig positive Beschäftigungsperspektiven zu verweisen. Dennoch ist eine durchgreifende Besserung der konjunkturellen Situation mittlerweile unübersehbar. Es gibt keine Anzeichen dafür, daß sich der zurückliegende konjunkturelle Beschäftigungsabbau zu einem strukturellen Desaster ausweitet. Im Gegenteil, überall in Europa bildet die tertiäre Beschäftigungsentwicklung ein Bollwerk gegen den industriellen Arbeitsplatzverlust. Auf diesem Strukturbild ruht denn auch die Hoffnung wieder aufwärts gerichteter Arbeitsplatzpfade.

Wenn sich die Dienstleistungsbeschäftigung auf einem wettbewerbsfähigen industriellen Fundament entwickeln kann, bleiben die Beschäftigungsperspektiven langfristig günstig. Dazu müssen aber auch die Rahmenbedingungen stimmen. Die europäischen Gesellschaften sind aufgerufen, den Arbeitszeitrahmen für mehr Beschäftigung zu verändern. Das setzt vor-

[Seite der Druckausg.: 25]

aus, daß sich die Reallohnentwicklung überall in die gegebenen Produktivitätsspielräume einfindet. Jedenfalls wäre es beschäftigungsvernichtend, wenn die Reallohnzuwächse über den Produktivitätsfortschritt hinausgingen. Das würde dazu führen, daß entsprechend dem neoklassischen Modell die Produktion samt dem Kapital zu den kostengünstigeren Standorten wandert. Tarifpolitische Vernunft vorausgesetzt, wird das Wachstum der Produktion nicht beschäftigungsärmer, sondern dem längerfristigen Trend folgend beschäftigungsreicher.

Der dahinterstehende tertiäre Wandel mit vermehrter Teilzeitbeschäftigung bedarf allerdings der Absicherung durch rege Innovation in neue Technologien. Umfassend wäre dies die Hinwendung zur Produktinnovation bei verkürzten Innovationszeiten. Europaweit müßte die Kommunikation zwischen Wissenschaft, Unternehmen und staatlichen Bereichen verbessert werden, wobei es nicht zu kompetenzüberschreitenden Aktionen kommen darf. Neue Formen der Zusammenarbeit müssen so gestaltet werden, daß jeder der drei Beteiligten seine Verantwortung zur Beschleunigung des Innovationsprozesses einbringt, ohne sich in die Verantwortung des anderen einzumischen.

Wenn dies ohne Verzug offensiv angegangen wird, wäre in der Europäischen Union eine Wachstumsbeschleunigung durchaus vorstellbar, die beachtliche Beschäftigungseffekte nach sich zieht. Bei einem längerfristigen Wachstumstempo von knapp 3% könnte die Zahl der Erwerbstätigen jahresdurchschnittlich um gut 1% zunehmen. Das wäre gemessen an amerikanischen Verhältnissen vergangener Jahre durchaus noch eine gemäßigte Beschäftigungsperspektive.

Läge hingegen das längerfristige Wachstumstempo bei lediglich gut 2%, könnte die Beschäftigung längerfristig nur rund um einen halben Prozentpunkt pro Jahr zunehmen. Das beschreibt eine eher defensive Orientierung, die zu einer vergleichsweise kapitalintensiveren Produktionsweise führt.

Page Top

7. Die Sicht im ganzen: Arbeitsmarktbilanzen

Konfrontiert man diese Arbeitsplatzperspektiven mit den alternativen Entwürfen des Arbeitskräftepotentials, entstehen Arbeitsmarktbilanzen,

[Seite der Druckausg.: 26]

die Zielkonflikte offenlegen (Schaubild 10). Gewinnen die konjunkturellen Auftriebskräfte 1995 weiter an Dynamik und setzt sich ein Konjunkturzyklus durch, der mit zurückliegenden Mustern vergleichbar ist, würde sich anschließend die Arbeitsmarktsituation nur dann verbessern, wenn das Arbeitskräftepotential von Zuwanderung verschont und die Erwerbsbeteiligung unverändert bliebe. Nur unter diesen Bedingungen würde vermieden, daß nach Beendigung des Konjunkturzyklus im Jahr 2000 erneut ein höherer Arbeitslosenbestand registriert würde. Vielmehr wäre bis 2000 ein Rückgang der Arbeitslosigkeit auf rund 13 Millionen und damit auf das Niveau von 1990 vor Beginn der Rezession möglich. Das entspräche einer Arbeitslosenquote von rund 8%. Das wäre arbeitsmarkt-politisch ein Erfolg. Aber die von der Kommission bis 2000 angestrebte Halbierung der Arbeitslosenquote auf 5% würde selbst unter diesen günstigen Bedingungen nicht erreicht.

Käme es hingegen zu einer Bevölkerungszuwanderung von jährlich 900.000 Personen und würde die Erwerbsneigung entsprechend der unteren Variante ansteigen, läge im Jahr 2000 das Unterbeschäftigungsvolumen - wiederum gemessen als Differenz zwischen Erwerbspersonen und Erwerbstätigen - sogar noch höher als im Konjunkturtief Mitte der neunziger Jahre. Rund 22 Millionen Arbeitslose wären die Folge. Ohne Nettozuwanderung, aber bei kräftigem Erwerbsanstieg läge die Unterbeschäftigung im Jahr 2000 bei rund 19 Millionen.

Nach dem Jahr 2000 könnte sich die Europäische Union allmählich der Vollbeschäftigung nähern, je nachdem, welche Arbeitskräfte- oder Arbeitsplatzpfade beschriften werden. Im offensiven Wachstumsmuster wäre in Kombination mit den beiden oberen Erwerbsverläufen Vollbeschäftigung im Jahr 2005 beziehungsweise im Jahr 2010 erreicht. Resultiert andererseits die Beschäftigungsentwicklung aus dem defensiven Wachstumsmuster und stellt sich die Arbeitskräfteentwicklung mit lückenorientierter Zuwanderung und gleichzeitigem Erwerbsanstieg gemäß der unteren Variante ein, bliebe eine Arbeitsmarktverbesserung aus. In allen Jahren gäbe es mehr als 22 Millionen Arbeitslose.

Im defensiven Wachstumspfad würden sich nur dann Arbeitsmarktbesserungen einstellen, wenn die Nettozuwanderung gegen null tendiert. Der offensive Wachstumspfad hingegen ließe sich nach 2000 nur mit lückenorientierter Zuwanderung verwirklichen.

[Seite der Druckausg.: 27]


Schaubild 10:



Arbeitsmarktbilanzen EU: Varianten bis 2020

[Seite der Druckausg.: 28]

Page Top

8. Schlußfolgerungen

Die Szenarienergebnisse zeigen, daß es kaum möglich ist, vorab einen exakten Zuwanderungsbedarf abzuleiten. Seine Größenordnung hängt über das erreichbare Beschäftigungsvolumen auch von Entscheidungen der Bildungs-, Sozial- und Familienpolitik ab. Aber wie auch immer die Politik entscheidet, den internen demographischen Prozessen kann sie sich nicht entziehen. Insofern stellen die an der Erwerbsbevölkerung ausgerichteten Zuwanderungsbedarfe (Tabelle) gute Orientierungen zur Verfügung.

Die Szenarien belegen aber auch die Notwendigkeit, periodisch Arbeitsmarktperspektiven zu erstellen, die beiden Arbeitsmarktseiten gerecht werden. Auf diese Weise lassen sich zumindest grobe Bahnen vorzeichnen, die weitestgehend Überraschungen vermeiden helfen. An solchen Szenarien könnte sich eine gesteuerte Zuwanderung orientieren. Informationen für ausgewogene und transparente Wanderungsproportionen wären möglich. Sie nehmen zugleich Bedrohung weg und steigern das Vermögen, die Chancen der Zuwanderung zu erkennen.

Offen bleibt die Frage nach der gemeinsamen Einwanderungspolitik. Europa ist auf Austausch angewiesen. Aber die regional sehr unterschiedlichen demographischen Veränderungen lösen auch unterschiedliche Handlungsbedarfe aus. Konzeptionelle Überlegungen müßten von Deutschland und Italien ausgehen, weil hier zuallererst der Zuwanderungsbedarf entsteht. Die Mehrzahl der Mitgliedsländer wird erst viel später Interesse an einer geregelten Zuwanderung haben, denn deren Szenarien signalisieren im Arbeitsmarktteil zunächst eine Nettozuwanderung von Null.

    [Fußnoten - in der Druckausgabe jeweils auf den betreffenden Seiten unten stehend]

    Fn. 1: Friedrich-Ebert-Stiftung (Hrsg.): Zuwanderungspolitik der Zukunft, Gesprächskreis Arbeit und Soziales, Nr. 3, Bonn 1992.

    Fn. 2: Thomas Straubhaar: ökonomische Bedeutung grenzüberschreitender Arbeitsmigration, in: Werner Weidenfeld u.a. (Hrsg.): Europäische Integration und Arbeitsmarkt. Grundlagen und Perspektiven, Beiträge zur Arbeitsmarkt- und Berufsforschung, Nr. 181, Nürnberg 1994, S. 195-222.

    Fn. 3: Nadine Leiner, Jürgen Meckl: Internationale Migration und Einkommensverteilung. Eine außenhandelstheoretische Analyse, in: Universität Konstanz (Hrsg.): Sonderforschungsbereich 178 „Internationalisierung der Wirtschaft", Diskussionsbeiträge, Serie H -Nr. 217, Konstanz 1994.

    Fn. 4: Bernd Hof: Möglichkeiten und Grenzen der Eingliederung von Zuwanderern in den deutschen Arbeitsmarkt, in: Bundeszentrale für politische Bildung (Hrsg.): Aus Politik und Zeitgeschichte, Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament, Nr. B 48/94 vom 2.12., Bonn 1994.

    Fn. 5: Bernd Hof: Europa im Zeichen der Migration. Szenarien zur Bevölkerungs- und Arbeitsmarktentwicklung in der Europäischen Gemeinschaft bis 2020, Köln 1993.

    Fn. 6: Bernd Hof: a.a.O., 1994, S. 11.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | July 2003

Previous Page TOC Next Page