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TEILDOKUMENT:


[Seite der Druckausg.: 79]



Hans-Jochen Vogel
Der Stellenwert der Erinnerungsarbeit und der aktiven Auseinandersetzung mit unserer Geschichte Zu den Zielsetzungen und Aktivitäten des Projektes "Gegen Vergessen - Für Demokratie e.V."


1.

Ich begrüße, daß die Friedrich-Ebert-Stiftung diese Fachkonferenz veranstaltet und sich in deren Rahmen mit einer Reihe sehr konkreter Fragen beschäftigt. So unter anderem mit der nach der Verbreitung antisemitischer und fremdenfeindlicher Einstellungen und der nach den Möglichkeiten und Grenzen der Bearbeitung des Themas in den Medien. Diese Fragen berühren sich ebenso wie das Generalthema der Konferenz eng mit den Zielsetzungen des Projektes "Gegen Vergessen - Für Demokratie". Als Vorsitzender dieses Projektes habe ich deshalb der Einladung, über die Zielsetzungen und bisherigen Aktivitäten des Projektes zu referieren, gern Folge geleistet. Ich will das tun, indem ich mich zunächst mit dem Stellenwert beschäftige, der dem Erinnern in diesem Zusammenhang zukommt (2.) und sodann der Frage nachgehe, worauf sich das Erinnern richten soll (3.). Danach werde ich auf die Ziele und die Tätigkeiten des Vereins im engeren Sinn eingehen (4.) und dem noch eine kurze Schlußbemerkung hinzufügen.

2.

Ein altes jüdisches Sprichwort sagt: "Das Geheimnis der Versöhnung heißt Erinnerung". Und ein anderes Mahnwort lautet: "Wer sich an die Vergangenheit nicht erinnern kann, ist dazu verdammt, sie zu wiederholen."

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In diesem Satz liegt bereits die Begründung für die Notwendigkeit des Erinnerns. Wer nicht weiß, wessen Menschen in ihrem Fanatismus und ihrer Rechtsfeindschaft, in ihrem Allmachtswahn und in ihrer Mordlust fähig sind, wer die Warnzeichen nicht kennt, die auf das drohende Unheil hinweisen, der ist neuerlichen Gefahren gegenüber weniger wachsam, weniger widerstandsfähig als derjenige, dem die Verbrechen der Vergangenheit vor Augen stehen. Gewiß: Auch er könnte und sollte erkennen, wohin es führt, wenn die Menschenwürde geleugnet, eine Minderheit verteufelt, das Freund-Feind-Denken propagiert und die Gewalt als Mittel zur Lösung politischer Probleme eingesetzt wird. Aber in den Endjahren der Republik von Weimar hat dieses Vermögen, das den Menschen eingeboren ist, eben nicht ausgereicht. Und die Generationen, die die Zeit vor 1945 nicht mehr miterlebt haben - schätzungsweise sind das schon über Zwei-Drittel unseres Volkes - könnten der Einsicht und der Entschlossenheit, ihr gemäß zu handeln, im Ergebnis - wenn auch aus anderen Gründen - vielleicht ebenso ermangeln, wenn ihnen das Wissen über die Katastrophe ihrer Vorfahren fehlt.

Damit rede ich nicht der Konservierung eines kollektiven Schuldkomplexes das Wort. Schuld ist ohnehin ein individueller Begriff. Und auch der Begriff der kollektiven Haftung, der mir für meine Generation und die unserer Eltern angemessen erschien, dürfte für die folgenden Generationen nicht mehr am Platze sein. Auf einem anderen Blatt steht, daß auch sie sich nicht aus der Geschichte des Volkes lösen können, dem sie angehören. Deshalb müssen sie sich mit den dunklen Kapiteln unserer Geschichte ebenso auseinandersetzen und zurechtkommen wie mit den hellen. Nicht im Sinne einer Vergangenheitsbewältigung. Denn bewältigen in dem Sinne, daß sie dann abgetan sei, läßt sich die Vergangenheit, von der hier die Rede ist, gar nicht. Aber in dem Sinne, daß die Jüngeren zu dieser Vergangenheit eine Einstellung finden und aus ihr die richtigen Konsequenzen ziehen. Und eben dafür ist das Erinnern eine notwendige Vorbedingung.

Manche sagen, man solle das jetzt alles auf sich beruhen lassen. Oder man solle es "historisieren", was immer das konkret bedeuten mag.

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Oder sie weisen darauf hin, daß andere ebenso schlimme Verbrechen begangen hätten. Ja, einige erdreisten sich inzwischen zu behaupten, Auschwitz habe es gar nicht gegeben. Auf letzteres hat der Gesetzgeber inzwischen endlich die gebührende Antwort gegeben und solch freche Verhöhnung der Opfer des Holocaust und ihrer Hinterbliebenen ohne Wenn und Aber unter Strafe gestellt.

Daß auch außerhalb unseres Landes schlimme Verbrechen begangen und Menschen in großer Zahl gequält und ermordet worden sind, ist unstreitig. Und unstreitig ist auch, daß die Schrecken des Krieges, die von uns ihren Ausgang nahmen, zuletzt in schrecklicher Weise in unser Land zurückgekehrt sind. Aber das kann den Holocaust und die anderen Verbrechen der NS-Gewaltherrschaft nicht relativieren, geschweige denn in einem milderen Licht erscheinen lassen. Es geht um unsere Geschichte und - so füge ich hinzu - um unsere Zukunft, nicht um die Geschichte anderer Völker.

Warum wir die jüngere Geschichte nicht auf sich beruhen lassen dürfen, habe ich schon dargetan. Und historisieren? Das soll doch wohl heißen, die Zeit der NS-Gewaltherrschaft ebenso zu behandeln wie den 30jährigen Krieg oder die Völkerwanderung. Also den Fachgelehrten zu überlassen. In einem Land, in dem keine fünfzig Jahre nach der Überwindung des Nationalsozialismus wieder Minderheiten gejagt, Ausländer und Asylbewerber getötet, jüdische Friedhöfe geschändet und KZ-Gedenkstätten zerstört werden, ein reichlich abwegiger Gedanke - um es zurückhaltend auszudrücken.

Der Stellenwert des Erinnerns ist nach all dem überaus hoch zu veranschlagen.

3.

Aber woran soll erinnert werden? Ich meine, an dreierlei, nämlich

  • an die Geschehnisse

  • an die Ursachen, das heißt an die Handlungen und Unterlassungen, die Hitler und sein Gewaltsystem an die Macht brachten und

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  • an den Widerstand gegen die Gewaltherrschaft.

Die Geschehnisse kann ich hier nicht im einzelnen rekapitulieren. Das würde den Rahmen meines Referats sprengen. Im Mittelpunkt steht für mich jedenfalls das massenhafte Morden, Töten und Sterben. 55 Millionen Tote haben die Gewaltherrschaft und der durch sie mutwillig begonnene Krieg gekostet. Darunter allein 6 Millionen Juden. Ihre Ausrottung war in diesem Gebirge von Gewalt sicher der Gipfel der Unmenschlichkeit und der Perversion. Diese millionenfache Vernichtung von Leben war überhaupt das Verwerflichste und Unmenschlichste im Nationalsozialismus. Es war schlimm, daß er die Demokratie beseitigte, daß er das Recht mit Füßen trat und daß er Menschen in ihrem Willen vergewaltigt hat. Aber das Furchtbarste, das ihn am stärksten brandmarkt, war doch die massenhafte Auslöschung von menschlichem Leben. Er hat Menschen zu Dingen und Objekten erniedrigt, er ist mit ihnen umgegangen, als ob es sich um schädliche Insekten, ja als ob es sich um leblose Gegenstände handelt. Darauf und auch darauf, wie diese Massenmorde ins Werk gesetzt wurden, muß sich das Erinnern richten.

Wichtig ist aber auch, immer wieder der Frage nachzugehen, wie es dazu kommen konnte, wie all das möglich wurde. Möglich wurde inmitten eines Volkes, das sich auf seine Geschichte, auf seine geistigen Traditionen, auf seine kulturellen und wissenschaftlichen Leistungen, auf seine Ethik von Pflicht und Gehorsam soviel zugute hält und auch halten durfte. Wie konnte das Volk eines Luther, Kant und Goethe, das Volk eines August Bebel, eines Wilhelm Emmanuel von Ketteier, eines Friedrich Naumann, zu einem Volk werden, das zumindest als Wachs in den Händen Hitlers, wenn nicht gar als Volk Hitlers erschien?

Die Versuche, das zu ergründen, füllen inzwischen Bibliotheken. Die wichtigste - heute kaum mehr angefochtene - These lautet: Das war nicht allein das Werk Hitlers und seiner fanatischen oder irregeführten Gefolgsleute. Es war auch nicht nur eine Folge der Wirtschaftskrise, die Hitlers Aufstieg stark begünstigte. Möglich gemacht hat den 30. Januar 1933 auch die Verblendung reaktionär-konservativer Kräf-

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te. Papen und die Deutschnationalen waren ihre politischen Repräsentanten. Ebensowenig ist zu übersehen, daß Teile der Industrie mit ihren finanziellen Leistungen die NSDAP nach der Niederlage vom November 1932 zumindest vor dem weiteren Abstieg bewahrt haben. Und daß nicht wenige Großindustrielle offen mit Hitler sympathisierten. Auch die Mitwirkung einzelner führender Persönlichkeiten der Reichswehr hat eine Rolle gespielt. Schließlich muß man unter den Mitverantwortlichen auch Hugenberg mit seinem Medienimperium nennen, das nicht nur viele Zeitungen, sondern auch wichtige Teile der Filmproduktion beherrschte. Sie alle, nicht Hitler allein, zerstörten die Demokratie in Deutschland. Und die Zerstörung begann schon mit der Zügellosigkeit des politischen Kampfes, mit der Verwilderung der Politik. Damit beispielsweise, daß die Beschimpfung Friedrich Eberts und der Sozialdemokraten als "Novemberverbrecher" in den übrigen Lagern mehr oder weniger achselzuckend, wenn nicht gar mit Zustimmung, hingenommen wurde. Ja, daß Friedrich Ebert mit dem Landesverratsvorwurf förmlich zu Tode gehetzt wurde. Von den bürgerkriegsähnlichen Auseinandersetzungen der letzten Jahre von Weimar ganz zu schweigen.

In diesem Zusammenhang darf allerdings auch die Situation der Deutschen Arbeiterbewegung nicht unerwähnt bleiben. Insbesondere ihre Spaltung und die verantwortungslose Politik der kommunistischen Führung. Die Kommunisten gehörten 1933 zu den ersten Opfern des Nationalsozialismus. Das ist die Wahrheit, die niemand unterdrücken sollte. Wahr ist aber auch, daß sie unter dem direkten Einfluß Stalins Wesentliches zum Ende der Demokratie von Weimar beigetragen haben. Ich erinnere nur daran, daß sie 1932 gemeinsam mit den Nationalsozialisten ein Volksbegehren zur Auflösung des Preußischen Landtages betrieben, daß sie im November 1932 gemeinsam mit den Nationalsozialisten den BVG-Streik in Berlin organisierten und daß sie damals in den Sozialdemokraten als den angeblichen "Sozialfaschisten" ihren Hauptfeind sahen.

Auch all dies muß vor dem Vergessen bewahrt werden. Und gesagt werden muß immer wieder: Die Republik von Weimar ist nicht von ihrer Verfassung oder am Mangel von Paragraphen zugrundegegan-

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gen. Sie ist zugrundegegangen, weil es am Ende nicht mehr genug Demokraten gab, die zur Verteidigung der Demokratie bereit waren; weil die Feinde der Demokratie zusammen mit den Gleichgültigen die Mehrheit bildeten.

Wachgehalten werden muß schließlich die Erinnerung an den Widerstand. Dabei halte ich es für notwendig, in diesen Bereich auch diejenigen miteinzubeziehen, die Verfolgten geholfen und ihnen nicht selten das Leben gerettet haben. Ihre Zahl ist größer als bisher vermutet wurde. Der Film "Schindlers Liste" hat hier für weitere Forschungen, die auch unser Projekt fördern will, einen neuerlichen Anstoß gegeben.

Zum anderen spreche ich mich dafür aus, niemanden, der tatsächlich Widerstand geleistet hat, von vorne herein auszusondern und unerwähnt zu lassen. Natürlich gab es für Widerstandshandlungen ganz unterschiedliche Beweggründe. Und diese Beweggründe müssen auch künftig der kritischen Würdigung zugänglich bleiben, so wie sie es bisher gewesen sind. Aber der Begriff des Widerstandes kann nicht vom Motiv her definiert und eingegrenzt werden. Ebensowenig wäre es meines Erachtens im übrigen zulässig, den spezifischen Charakter einer Handlung als Widerstand deshalb in Abrede zu stellen, weil der Betreffende zunächst den Nationalsozialismus aktiv unterstützt oder sich in seinem späteren Leben für die Ziele einer extremistischen Partei eingesetzt hat.

4.

Diesem Erinnern dient das Projekt "Gegen Vergessen - Für Demokratie".

Es war zunächst als eine Vorkehrung gedacht, die dem Abreißen des Gedächtnisses an die jüngere Vergangenheit infolge des allmählichen Dahingehens der Zeitzeugen entgegenwirken sollte. Entstanden ist es aber im Frühjahr 1993 auch als spontane Antwort von Männern und Frauen auf die Welle der rechtsextremistischen Gewalttaten, die damals über unser Land hinwegging. Als spontane Antwort auf den

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Ausbruch von Ausländerhaß und Chauvinismus, auf die erneute Verteufelung von Minderheiten und die erneute Propagierung von Gewalt als Mittel der Politik, aber auch auf die Wiederbelebung eines Freund-Feind-Denkens, das im Konkurrenten nicht den demokratischen Wettbewerber um die bessere Lösung sieht, sondern den Gegner, den es zu vernichten gilt.

Das Ausmaß der Gewalt, von der ich gerade sprach, steht uns nicht immer ausreichend vor Augen. Manchmal macht sich da auch eine gewisse Abstumpfung bemerkbar. Deshalb wiederhole ich die Zahlen auch an dieser Stelle noch einmal. Seit dem 1. Januar 1991 bis zum 31. August 1994 wurden insgesamt 8.110 Straftaten mit erwiesener oder vermuteter rechtsextremistischer Motivation registriert, dabei 1.101 Brand- bzw. Sprengstoffanschläge auf Unterkünfte von Asylbewerbern und Wohnungen ausländischer Mitbürger sowie mindestens 341 Anschläge gegen jüdische Einrichtungen, von denen allein 195 gegen jüdische Friedhöfe und mindestens 21 gegen KZ-Gedenkstätten gerichtet waren. 2.128 Menschen wurden verletzt, 28 getötet, davon 16 Ausländer.

Die Männer und Frauen, die sich damals zusammenfanden und diejenigen, die seitdem hinzugekommen sind - insgesamt bis heute 590 (Stand: 18.10.1994) - wollten und wollen sich nicht darauf beschränken, andere zum Handeln aufzufordern. Sie wollen selber etwas tun, um den Gefahren, die da heraufgezogen sind, selber zu begegnen. Natürlich verlangen wir, daß der Staat seine Pflicht tut und seine rechtsstaatlichen Mittel ebenso besonnen wie entschlossen einsetzt, um Rechtsbrecher zur Raison zu bringen. Aber wir wissen auch: Das Entscheidende müssen wir selber tun.

Ein Kernprinzip war dabei von Anfang an, daß für unsere Arbeit Parteigrenzen ebenso wenig eine Rolle spielen dürfen wie andere Unterschiede oder Gegensätze, die Menschen sonst trennen mögen. Uns geht es nicht um Einzelinteressen oder Gruppeninteressen. Uns geht es um die Bewahrung und Verteidigung dessen, worauf unser Gemeinwesen insgesamt beruht. Und auch um den Beweis, daß die Menschen in dieser Zeit lautstarker Konfrontation zu einer solchen

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Gemeinsamkeit fähig sind. Niemand ist hier als Repräsentant einer Partei oder einer Gruppe. Wenn wir über richtig oder falsch diskutieren, ja auch streiten, dann tun wir das immer im Bewußtsein unserer individuellen Verantwortung, aber auch des Grundkonsenses, der uns eint. Daß es dieses Miteinander und diese Grundübereinstimmung bei allem Dissens im einzelnen nicht gab, war auch einer der Gründe für das Scheitern von Weimar.

In seiner Satzung hat sich der Verein die Aufgabe gestellt:

  • das Vermächtnis des Widerstandes gegen die NS-Diktatur zu bewahren und aufzuarbeiten, indem der Ursprung des Nationalsozialismus und des Faschismus aufgeklärt und deren Strukturen sowie die Opposition, der Widerstand und die Verfolgung und das Exil der Gegner der NS-Diktatur dargestellt werden,

  • die Opposition, den Widerstand und die Verfolgung im kommunistischen Systems darzustellen, und dies mit der Aufklärung über die Entwicklung des Kommunismus zu verbinden und

  • die Auseinandersetzung mit Feindbildern, Rassismus und Fremden- und Ausländerfeindlichkeit, Antisemitismus und anderen Formen des politischen Extremismus zu führen.

Schwerpunkte der bisherigen Tätigkeit waren die Zeitzeugen- und Gedenkstättenarbeit, die Herstellung von Kontakten zu Organisationen und Initiativen vergleichbarer Zielsetzung und die Unterstützung einzelner Projekte dieser Gruppen, das Bemühen, den Verein öffentlich bekanntzumachen, sowie eigene Seminare und Tagungsveranstaltungen des Vereins.

Im Mittelpunkt der Zeitzeugenarbeit stehen zwei konkrete Vorhaben: Einmal das Projekt, das zusammen mit dem Institut für Sozialgeschichte e.V. und dort von Dr. Friedhelm Boll erarbeitet worden ist und in dessen Verlauf ca. 180 Zeitzeugenerfahrungen dokumentiert werden sollen, die die NS-Zeit, die Zeit der SBZ/DDR oder die Verfolgung unter beiden Regimen zum Gegenstand haben. Dieses Projekt ist soweit gediehen, daß vor kurzem ein entsprechender Förderungsantrag an die Volkswagen-Stiftung gestellt werden konnte. Zum

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anderen ein Vorhaben, das auf die Auswertung bisher nicht erschlossener Aktenbestände solcher Personen abzielt, die während der NS-Gewaltherrschaft Verfolgten geholfen und sie in nicht wenigen Fällen vor dem Tod bewahrt haben. Hierfür sind Vorgespräche mit den in Betracht kommenden Wissenschaftlern und wissenschaftlichen Instituten noch im Gange. Die Gedenk- und Dokumentationsstätte des Holocaust Yad Vashem in Jerusalem, mit der ein unmittelbarer Kontakt hergestellt worden ist, hat ihr Interesse an diesem Vorhaben bekundet und sich zur Mitarbeit bereit erklärt. Mit ihrer Hilfe wird auch erwogen, Persönlichkeiten, die von dort als "Gerechte unter den Völkern" ausgezeichnet worden sind, zu einer Begegnung einzuladen. Auch sie und ihr Engagement sollten vor dem Vergessen bewahrt werden. Begonnen wurde schließlich mit der Anlage einer Zeitzeugenkartei, die entsprechende Vermittlungen - vor allem für Schulen und Jugendorganisationen - ermöglichen soll.

Bei der Gedenkstättenarbeit stand bislang die Aufnahme direkter Kontakte mit in- und ausländischen Gedenkstätten sowie die Unterstützung von Gedenktagen, Absicherungen der Arbeit und Veröffentlichungen im Vordergrund. Hilfreich waren hierfür zwei Studienfahrten nach Israel und zu polnischen Gedenkstätten sowie Besuche in Sachsenhausen, in Dachau, in Buchenwald, in Dora-Mittelbau und auf dem Gelände des ehemaligen Janowka-Lagers bei Lemberg, in dem zwischen 1941 und 1944 200.000 Juden ihr Leben verloren. Ermutigt werden auch örtliche Initiativen, die das Gedenken an Außenlager und die Opfer der sogenannten Todesmärsche aufrechterhalten wollen. Sowohl die Zeitzeugen- als auch die Gedenkstättenarbeit berühren Veröffentlichungen von Berichten über das, was die Gefangenen in den Lagern erlitten haben. Ein solcher Sammelband über das Geschehen im Konzentrationslager Majdanek ist bereits erschienen, weitere Publikationen werden vorbereitet.

An parlamentarischen Initiativen hat der Verein mit Eingaben und Stellungnahmen - zumeist gegenüber der Bundestagspräsidentin und den Bundestagsfraktionen - die nachfolgenden angeregt und unterstützt:

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  • die Strafbarkeit der "Auschwitz-Leugnung" (1)

  • die Rechtsunwirksamkeit von Todesurteilen der Kriegsgerichte wegen Desertion, Wehrkraftzersetzung und Wehrdienstverweigerung (2),

  • die Beteiligung des Bundes an der Gestaltung und Erhaltung von Gedenkstätten (3) und

  • die Verbesserung der Situation der Zwangssterilisierten (4).

Außerdem haben wir uns in Eingaben an andere Verfassungsorgane für die angemessene Entschädigung Überlebender des Holocaust in Lettland (5), eine außerordentliche Hilfe für 27 noch lebende polnische Frauen, an denen im KZ Ravensbrück medizinische Versuche vorgenommen worden sind (6) und für eine angemessene Inschrift an der Zentralen Gedenkstätte der Bundesrepublik Deutschland für die Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft, der Neuen Wache in Berlin eingesetzt (7). Von diesen Vorstößen waren die zu (1) und (5) zur Gänze, die zu (3) und (7) teilweise erfolgreich. Der Vorstoß zu (4) blieb vergeblich. Zu (2) und (6) liegen noch keine endgültigen Entscheidungen vor. Das ist hinsichtlich der Rechtsunwirksamkeit von Todesurteilen der Kriegsgerichte besonders zu bedauern, weil die Betroffenen oder ihre Angehörigen schon seit 50 Jahren auf ihre Rehabilitierung warten und eine Entscheidung zu (6) ist - wegen des hohen Alters der noch 27 Überlebenden - dringlich. Geäußert hat sich der Verein schließlich zur Entscheidung des BGH in der Frage der Weiterverbreitung der "Auschwitz-Leugnung" (8).

Für die nähere Zukunft ist neben der Fortsetzung der schon begonnen Maßnahmen folgendes beabsichtigt:

  • die Einrichtung regionaler und fachspezifischer Gruppen, die eigene Initiativen entfalten. In Würzburg und in Berlin sind dazu Anfänge bereits gemacht,

  • die Teilnahme an Veranstaltungen anläßlich der bevorstehenden 50. Jahrestage, insbesondere des 50. Jahrestages der Befreiung des KZ Auschwitz Ende Januar 1995 in Berlin,

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  • eine Studienreise zum Besuch des Holocaust-Museums in Washington und zur Kontaktaufnahme mit jüdischen Organisationen in den Vereinigten Staaten,

  • die Veröffentlichung einer Sammlung von Reden, Dokumenten und Kommentaren unter dem Titel "Frühe Warnungen vor dem Nationalsozialismus",

  • eine Tagung mit Repräsentanten der Stiftungen "Versöhnung und Verständigung" in Moskau, Minsk und Kiew,

  • eine Fachtagung für Experten der Lehrerfortbildung auf dem Gebiet der Zeitgeschichte,

  • ein Seminar anläßlich des 20. Todestages von Probst Grüber am 29. November 1995.

5.

Martin Niemöller hat 1945 nach der Befreiung aus dem Konzentrationslager selbstkritisch gesagt:

"Als die Nazis die Kommunisten holten, habe ich geschwiegen" ich war ja kein Kommunist. Als sie die Sozialdemokraten einsperrten, habe ich geschwiegen; ich war ja kein Sozialdemokrat. Als sie die Katholiken holten, habe ich nicht protestiert; ich war ja kein Katholik. Als sie mich holten, gab es keinen mehr, der protestieren konnte."

Heute könnte der Satz beginnen: Als sie die Ausländer, die Asylbewerber, die Sinti und Roma jagten und schlugen, habe ich weggeschaut. Ich bin ja kein Ausländer, kein Asylbewerber, kein Sinto. Als sie jüdische Einrichtungen zerstörten, habe ich geschwiegen. Ich bin ja kein Jude. Als sie die KZ-Gedenkstätten schändeten, schwieg ich auch. Ich bin ja kein politisch Verfolgter. Das ist schlimm genug. Wir alle wollen, daß es sich nicht verlängert und wieder endet wie damals. Darum haben wir uns in unserem Projekt "Gegen Vergessen - Für Demokratie" zusammengeschlossen, und darum hoffen wir, daß uns viele unterstützen.

[Seite der Druckausg.: 90 = Leerseite]


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | März 2003

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