FES HOME MAIL SEARCH HELP NEW
[DIGITALE BIBLIOTHEK DER FES]
TITELINFO / UEBERSICHT



TEILDOKUMENT:


[Seite der Druckausg.: 55]



Vincent von Wroblewsky
Juden und die DDR - eine unheimliche Liebe ...


Vor vielen Jahren - ich war noch Student - nutzte ich mit Freunden einige freie Tage, um im Norden Berlins das Kloster Chorin und seine Umgebung kennenzulernen. Wir fanden Unterkunft bei der Witwe eines Kunstschmiedes, der vor kurzem gestorben war. Unbeholfen artikulierten wir unser Beileid, worauf uns die Witwe zu unserem Erstaunen erzählte, warum der Tod ihres Mannes ihr nicht nur Grund zur Trauer war. Sie hatten jung geheiratet - die große Liebe. Beim ersten gemeinsamen Frühstück gab sie ihm das Gelbe von ihrem weichgekochten Ei. Nicht, weil sie es nicht mochte, im Gegenteil! Einen größeren, selbstloseren Liebesbeweis hätte sie kaum erbringen können. Und so geschah es auch am nächsten Morgen, und am übernächsten, Tag um Tag, Woche um Woche, ein halbes Jahrhundert lang... Nun aß die Witwe wieder ihr morgendliches Ei, nicht nur in seiner faden weißen Unschuld, sondern mit dem schmackhaften cholesterinreichen Eigelb, das vielleicht den Anbruch ihrer neuen Freiheit beschleunigt hatte.

An diese Geschichte habe ich in den folgenden Jahren immer mal wieder denken müssen - und vielleicht hat sie mich auch beeinflußt, als ich zusagte, hier vor Ihnen zu sprechen, und ein derart vieldeutiges und verfängliches Thema wählte. Was mich am Thema "Juden und die DDR" interessiert, die gegenseitige Beziehung, die Wechselseitigkeit, kurz die Problematisierung des Themas, oder auch - philosophisch gesprochen - die Bedingung der Möglichkeit einer derartigen Beziehung.

Zahlen und Daten sind wichtig, sie sind jedoch nur die Hülle, unter der sich komplexere Gebilde verbergen. Vielleicht ist mir deshalb die Liebe in die Überschrift gerutscht. Gibt es denn intensivere, und zugleich problematischere, gefährdetere, mißdeutigere Beziehungen als die der Liebe? Dieses widersprüchliche Ensemble von mehr oder weniger asymmetrischen Erwartungen und Bedürfnissen, von Tag-

[Seite der Druckausg.: 56]

träumen, Phantasien, Projektionen und Obsessionen, von überraschenden Reaktionen, die von verdrängten frühen Prägungen mitgesteuert werden, entzieht sich erschöpfenden rationalen Erklärungen, läßt sich nicht auf Kausalketten reduzieren. Sie taugt deshalb für mein Thema als Metapher wie als Paradigma.

Unheimlich war die Liebe zwischen Juden - wir werden genauer sehen, welche besonders gemeint sind - und der offiziellen DDR nicht primär in der umgangsprachlichen Bedeutung von "besonders groß", so wie man von einem "unheimlichen Glück" spricht. Es geht mir eher um die Bedeutung von "unheimlich" als "unerwartet", "beunruhigend", auch als "undurchschaubar", "nicht zu trauen", so wie man von einem unheimlichen Menschen spricht, oder einer Landschaft, in der man nicht heimisch ist.

Damit die Unheimlichkeit, die Bedrohung, die Fremdheit nicht noch größer werde - wir wissen ja, daß sie zwar nicht die Ursache, jedoch häufig fördernder Begleitumstand von Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus ist -, will ich versuchen, die auf den ersten Blick seltsam anmutende Beziehung von Juden und DDR etwas vertrauter zu machen.

Beziehungen beginnen meistens mit einer ersten Begegnung, jedoch nicht immer voraussetzungslos und ohne Vorgeschichte. So auch in unserem Fall. Wie konnten Juden nach 1945, nach dem fast geglückten Versuch, sie aus Europa zunächst zu vertreiben, dann in Europa (fürs erste in Europa:"... und morgen die ganze Welt...") als Volk umzubringen, überhaupt auf den Gedanken kommen, in Deutschland zu bleiben (insofern sie dort überlebt hatten oder sich aus Lagern befreit auf dessen Territorium befanden) oder gar aus der Emigration zurückzukehren?

Helmut Eschwege beschreibt die damalige Situation: "Vorherrschender Gedanke nach der Befreiung war bei Juden des In- und Auslandes, die letzten Reste des jüdischen Gemeindelebens in Deutschland zu liquidieren und für die Auswanderung der Überlebenden zu sorgen. Zutiefst saß der verständliche Haß bei ihnen gegen ein System von Verbrechern, die das deutsche Volk in seiner Masse hatte ge-

[Seite der Druckausg.: 57]

währen lassen. So wurde die Berliner Gemeinde damals 'Liquidationsgemeinde' genannt. Aber ganz so einfach war die 'Liquidation' nicht. Die Engländer hielten die Grenzen Palästinas verschlossen und die USA ließen nur wenige neue Einwanderer in ihr Land.

Der harte Winter 1945/46 und das Erkennen des tragischen Endes ihrer Familien ließ eine ganze Reihe von Juden den Freitod wählen. Nicht wenige verließen verbittert Deutschland. Groß waren damals auch als Folge der KZ-Leiden die Sterbefälle. Erwähnt werden sollte, daß das 'American Joint Distribution Commitee' und die MRO' großzügig halfen, die bitterste Not zu lindern. Viele Juden besaßen nur die Kleidung, die sie aus dem KZ mitgebracht hatten. Die meisten waren ausgehungert, oft krank, noch ohne Arbeit, ohne Einkommen und nur notdürftig untergebracht." [Helmut Eschwege: Die jüdische Bevölkerung der Jahre nach der Kapitulation Hitlerdeutschlands auf dem Gebiet der DDR bis zum Jahre 1953, in: Siegfried Theodor Arndt, Helmut Eschwege, Peter Honigmann, Lothar Mertens: Juden in der DDR - Geschichte - Probleme - Perspektiven. Arbeitsmaterialien zur Geistesgeschichte, hrsg. von Julius H. Schoeps, Bd. 4, in Kommission bei E.J. Brill, 1988, S. 69.]

Ein geringer Teil dieser Überlebenden blieb in Deutschland, meistens in den Westzonen, auf die Weiterwanderung nach Palästina oder andere Länder hoffend. Einige Hundert jedoch blieben in der SBZ, der sowjetisch besetzten oder auch Ostzone. [Vgl. a.a.O., S. 64 .] Ihre Bindung zum Judentum war meistens schon vor der Nazizeit sehr schwach gewesen. Die Überlebenschancen orthodoxer Juden - sie waren keine Mischehen eingegangen und hatten keine christlichen Freunde - waren minimal.

In den ersten Nachkriegsjahren kehrten jedoch Juden in die Sowjetische Besatzungszone (SBZ) zurück - ihre Zahl wird auf etwa 3.500 geschätzt [A.a.O., S. 65.] -, denen es gelungen war, Deutschland zu verlassen, nicht in erster Linie, weil sie Juden, sondern weil sie als Sozialdemokraten, Kommunisten ... Gegner der Nazis waren. Auf diese Gruppe von Ju-

[Seite der Druckausg.: 58]

den (und deren Nachkommen) - früh politisch engagiert und der Religion, damit auch den Gemeinden entfremdet - will ich mich im folgenden beschränken, der "unheimlichen Liebe" zwischen ihnen und der SBZ bzw. ab 1949 DDR will ich nachgehen, schon deshalb, weil es mich selbst betrifft, aber auch, weil sie innerhalb der zweifachen Minderheit - Minderheit der Juden in Deutschland, Minderheit der Juden in der DDR innerhalb der Juden in Deutschland - eine Mehrheit darstellen, die in der Literatur bisher kaum wahrgenommen wurde.*
* = [Während die Zahl der eingetragenen Mitglieder der Jüdischen Gemeinden in der DDR 1990 keine 500 betrug, waren etwa 4.000 von den Nazis als Juden oder deren Angehörige Verfolgte als "Opfer des Faschismus" anerkannt. Siehe dazu Y. Michal Bodemann, A Reemergence of German Jewry? in: Reemerging Jewish Culture in Germany: Life and Literature Since 1989, ed. by Sander L. Gilman and Karen Remmler, New York University Press, New York and London, 1994, S. 49. Zu den wenigen Ausnahmen gehört auch Robin Ostow mit ihrem Buch "Jüdisches Leben in der DDR", Jüdischer Verlag Athenäum, Frankfurt/Main, 1988 und ihrem Aufsatz "Das Erbe des Holocaust im antifaschistischen Deutschland" in: Werner Bergmann, Rainer Erb (Hrsg.): Antisemitismus in der politischen Kultur nach 1945, Westdeutscher Verlag, Opladen 1990. Auch Julius H. Schoeps macht darauf aufmerksam: "Die Haltung jüdischer Bürger gegenüber der DDR war nicht nur individuell sehr unterschiedlich, zu differenzieren ist darüber hinaus zwischen der Haltung derjenigen, die Mitglied in einer der acht Gemeinden waren, und der wesentlich größeren Anzahl derer, die zwar 'jüdischer Herkunft' sind, sich aber nicht mehr zur jüdischen Religionsgemeinschaft bekannten. Dieser Personenkreis dürfte mindestens zehnmal größer gewesen sein als die Zahl der Gläubigen; in Ost-Berlin standen beispielsweise den rund 180 Gemeindemitgliedern etwa 3.900 Personen gegenüber, die als Verfolgte des Naziregimes staatlich anerkannt waren." Siehe: Jüdisches Leben in Nachkriegsdeutschland - Von den Jahren des Aufbaus bis zum Ende der Teilung, in: Jüdische Lebenswelten - Essays, Hrsg. von A. Nachama, J.H. Schoeps, E. v. Voolen: Berliner Festspiele/Jüdischer Verlag/Suhrkamp Verlag, 1991, S. 374 - Die Bibliographie des genannten Aufsatzes enthält einige weitere Angaben über Autoren, die das Thema berühren.]

Warum wechselte meine Mutter 1950 von Paris nach Berlin, unterbrach meine zehnjährige französische Kindheit, um ihr plötzlich (und für mich unerwartet, unvorbereitet) eine deutsche Fortsetzung zu geben? Zu Beginn des Jahrhunderts in Berlin geboren als Tochter von Berta Wohlgemuth (Wohlgemuth - wie der Lehrer Albrecht Dürers), diese eine geborene Rosenthal, eine in bescheidenen Verhältnissen

[Seite der Druckausg.: 59]

lebende gläubige, noch nicht völlig assimilierte Jüdin mit osteuropäischen Vorfahren, wuchs meine Mutter nach dem frühen Tod ihres Vaters in einem jüdischen Waisenheim auf, den Auerbachschen Anstalten, und erhielt auf dem Sophien-Lyzeum eine gute Ausbildung -deutsche Literatur, englische und französische Sprache absolvierte sie mit besonderem Erfolg, was ihr bald, nach der Entlassung aus dem Hause Ullstein und der Emigration 1933, sehr nützlich sein sollte. Ihre "Identität" war gleichermaßen jüdisch und deutsch - vielleicht dominierte letztere mit den Jahren. Die Glanzstunden ihrer Jugend waren die Aufführungen deutscher Klassiker an Reinhardts Deutschem Theater, und bis in ihr hohes Alter kannte sie des "Faust" ersten Teil auswendig. Mit viel Entbehrungen und auch Glück überlebte sie in Frankreich die Zeit der deutschen Besatzung - anders als ihr Mann, der 1944 vierzigjährig an den Folgen des Widerstandskampfes qualvoll starb.

Überlebt hatte sie zwar - auch dank der Hilfe großartiger Franzosen -, war jedoch in all den Jahren die Fremde geblieben: für die deutschen Besatzer und für das offizielle Vichy-Frankreich die zu jagende bzw. auszuliefernde Jüdin und Kommunistin, für die "normalen" Franzosen die so oder so verdächtige Deutsche. Und letztere war sie durch ihre Sozialisation viel zu sehr, um sich je in Frankreich heimisch, wirklich dazugehörig fühlen zu können.

In den ersten Jahren nach der Befreiung öffneten sich ihr neben der Möglichkeit, weiter in Frankreich zu leben, zwei Wege, für oder gegen die sie sich zu entscheiden hatte. Vom ersten wollte 1946 Golda Meir sie überzeugen, die spätere israelische Ministerpräsidentin, damals Leiterin eines jüdischen Waisenheims in Toulouse, in dem meine Mutter uns provisorisch untergebracht hatte, um vom Dorf Moutier-Rozeille in der Creuse wieder nach Paris zu kommen, und in dem sie selbst als Schneiderin arbeitete. Die Option, die Golda Meir anbot: eine jüdische Identität in einem eigenen Staat Israel (sie war 1946 von dessen bevorstehender Gründung überzeugt und wirkte intensiv in diesem Sinne) war die zionistische, die meine Mutter wie bereits vor 1933 trotz der seitdem gemachten historischen Erfahrungen ablehnte. Die nächste Wegscheide zeigte ihr Ende 1949 ein deut-

[Seite der Druckausg.: 60]

scher Genösse, der im Spanienkrieg zur Verteidigung der Republik einen Arm verloren hatte und den sie nun in Paris traf.

Er erzählte ihr von der Gründung eines deutschen Staates mit antifaschistisch-demokratischem Programm, geführt von Antifaschisten, ein neues, ganz anderes Deutschland, ohne Ausbeutung, weil ohne große Kapitalisten und ohne Junker, ohne Militarismus und natürlich ohne Rassendiskriminierung und Antisemitismus. Sie könnte nicht nur in die Stadt ihrer Kindheit und Jugend zurückkehren, die ihr vertraute Sprache sprechen, sondern vor allem: dort würde sie gebraucht, da könne sie mitwirken an der Verwirklichung der Ideale, für die sie mit vielen anderen gekämpft hatte, für die ihr Mann gestorben war, und, für eine jüdische Mutter wohl noch wichtiger - dort hätten ihre beiden Söhne eine Zukunft. Diese Argumente, die ihre Vergangenheit und die Zukunft ihrer Kinder einschlössen, überzeugten sie wohl, und nach den entsprechenden nicht leichten Vorkehrungen kehrte sie im Mai 1950 nach Berlin, in den sogenannten demokratischen Sektor, zurück. Zwar begannen bald die Desillusionierungen und herben Enttäuschungen, doch die Brücken nach hinten waren abgerissen, und auf die andere deutsche Seite wechseln kam für sie erst recht nicht in Frage: dort saßen für sie (und nicht nur für sie) die alten Nazis; die Globke, Oberländer, Abs, Gehlen und Kompagnie waren wieder und immer noch einflußreich, der kalte Krieg mit der wechselseitigen Legitimierung von Antikommunismus hie, Antikapitalismus und Verkennen der tatsächlichen, wenn auch zähen und widerspenstigen Demokratisierung dort tat ein Übriges, ein derartiger Wechsel wäre Verrat an ihrem bisherigen Leben gewesen.

Warum habe ich diese private Geschichte so ausführlich erzählt? Zum einen ist sie typisch für einen beträchtlichen Teil jener Juden, die aus der Emigration in die DDR kamen und die in der Literatur bisher auch deshalb kaum wahrgenommen wurden, weil die Jüdischen Gemeinden und die DDR-Regierung, wenn auch aus verschiedenen Motiven, sich darin einig waren, Juden religiös zu definieren. [Auch in "westlicher" Literatur war die Einschränkung auf die Gemeinden lange üblich - vgl. z.B. noch das Vorwort von Julius Schoeps zu dem bereits zitierten Band von Siegfried Theodor Arndt u.a. In welchem Maß meine Geschichte für die vieler anderer typisch ist, mag dagegen ein wenig der Band mit acht Interviews erhellen, den ich unter dem Titel Zwischen Thora und Trabant - Juden in der DDR, Reihe Texte zur Zeit, Aufbau Taschenbuch Verlag, Berlin 1993 veröffentlicht habe.]
Zum anderen aber erlaubt sie Verallgemeinerungen, die

[Seite der Druckausg.: 61]

mit dem Oberthema unserer Tagung enger verbunden sind, als es bisher scheinen konnte.

Wie viele Juden ihrer Generation war meine Mutter in ihrem Leben mit den vier bis fünf "Lösungen" auf die sogenannte "Judenfrage"**konfrontiert, die unser Jahrhundert bereit hielt.

    **= [Diesen nicht zuletzt durch diese "Lösungen", vor allem die "Endlösung" belasteten Begriff möchten einige aus guten und verständlichen Gründen ersetzen, z.B. durch "jüdische Frage" (andere Sprachen haben das Glück, nur diese Adjektivform zu kennen). Ich folge ihnen aus mehreren Gründen nicht, darunter folgenden: anders als z.B. die "deutsche Frage" (die keine Deutschenfrage ist) war und ist die uns interessierende keine primär jüdische, ja nicht einmal eine Frage der Juden, sondern eine, bei der sie vor allem Gegenstand sind, wo vor allem die Nichtjuden sich die "Frage" stellen - analog der Arbeiter- oder Frauenfrage (das ließe sich heute durch Ausländerfrage etc. verlängern). Arbeiter und Frauen und Ausländer verstehen sich nicht als Objekt einer Frage, sondern wissen die Antwort, auch wenn sie viele, sogar konträre und unvereinbare Formen annehmen kann: sie fordern ihre Emanzipation, das heißt sie wollen als Gleichberechtigte und Geachtete in der Kollektivität leben, deren Gesetze sie wie jedes andere ihrer Mitglieder zu achten bereit sind, ohne Diskriminierung des Geschlechts, der Rasse, der Religion, der Weltanschauung, und sie wollen in einer gerechten Weise entsprechend der Leistung für diese Kollektivität an ihrem Reichtum teilhaben. Das besondere der "Judenfrage" ist mit ihrer Entstehung zur Zeit der bürgerlichen Revolutionen und der Herausbildung von Nationalstaaten verbunden, als die verschiedenen Gruppen von Bürgern nicht mehr wie in der feudalen Gesellschaft durch ihre Standeszugehörigkeit und ihre Religion einen festen (ungleichen, mit vielen Diskriminierungen verbundenen) Platz in der Gesellschaft zugewiesen bekamen, sondern sich als Staatsbürger (citoyen), vor dem Gesetz gleich, nur noch durch Besitz und Verdienst unterschieden und sachliche - vor allem über Geld vermittelte - Abhängigkeiten an die Stelle der feudalen persönlichen Abhängigkeit trat. Für die Juden lag hierin einerseits eine große Emanzipationsmöglichkeit, die Voraussetzung war, zur Entwicklung der Gesellschaften, in denen sie lebten, beizutragen, andererseits fanden sie sich, sofern sie nicht darauf verzichteten, sich als ein Volk mit eigener Religion, Kultur, Sprache, Geschichte zu verstehen, als "Gast" ohne eigenen Nationalstaat in fremden Nationalstaaten wieder. Besonders in Krisenzeiten und in Gesellschaften, die den Übergang zur Moderne nicht oder nur halbherzig vollzogen hatten (z.B. in Osteuropa) waren sie dann der unwillkommene Gast, der als Fremdkörper willkommene Sündenbock, das vormoderne Skandalon innerhalb der Moderne. Mit diesem "modernen" Konflikt entstand die "Judenfrage" und der "moderne", nicht religiös motivierte Antisemitismus, der den vormodernen nicht ausschließt und mit ihm vielfältige Verbindung eingehen kann]

[Seite der Druckausg.: 62]

In ihrer Kindheit und Jugend hatte sie die oft im Rückblick verklärte deutsch-jüdische Symbiose erlebt, [Vgl. dazu Enzo Traverso: Les juifs et l’Allemagne - de la "symbiose judéo-allemande" á la mémoire d'Auschwitz, Editions la Dicouverte, Paris 1992.] die gegenseitige Anerkennung und Befruchtung, Bereicherung verschiedener Kulturen. Auch als sie sich von der Religion ihrer Vorfahren entfernt hatte, lebte sie in Deutschland mit dem stolzen Selbstbewußtsein, einem Volk anzugehören, ohne dessen Beitrag ihr Heimatland in jeder Hinsicht ärmer wäre, und empfand es als Glück, in diesem Land zu leben - die Antisemiten, die sie auch wahrnahm, waren für sie ein Teil der universellen menschlichen Dummheit und Gemeinheit, die man auch in der besten Gesellschaft als Randerscheinung ertragen muß.

Die zionistische Antwort - Bürger eines eigenen Nationalstaates zu werden, um nicht in einem fremden Nationalstaat den alltäglichen Beleidigungen und Erniedrigungen und gelegentlich, vor allem in Krisenzeiten, den Launen der Geschichte, das heißt den Brutalitäten der Rechtgeborenen und Rechtgläubigen ausgeliefert zu sein - kam für sie nicht in Betracht. Lieber trennte sie sich von dem Zahnarzt, mit dem sie verlobt war - einem überzeugten Zionist - als dieser tatsächlich nach Palästina ging.

Nach tiefen ökonomischen und politischen Krisen des Landes gelang es dieser unvermeidlichen Randerscheinung in Deutschland eine Mehrheit der Bevölkerung zu gewinnen und - zunächst erfolgreich -blutige Lösungen anzubieten: angefangen bei der "Reinheit" des eigenen Blutes (das Beispiel des ehemaligen Jugoslawien zeigt einmal mehr, wie schnell die Reinheit des eigenen Blutes zum Vergießen des fremden Blutes führt). Die unreine Minderheit begann ebenso wie die mit dieser "nationalen" Lösung nicht einverstandenen politischen Minderheiten sich in Deutschland ihres Lebens nicht mehr sicher zu sein. Für die politische jüdische Minderheit war das schneller offen-

[Seite der Druckausg.: 63]

sichtlich, unpolitische Juden hielten sich, noch von der Illusion deutsch-jüdischer Symbiose zehrend, fest an den Glauben an einen schnell vorübergehenden, in einem zivilisierten, kulturvollen Land wie Deutschland nicht haltbaren Spuk. Im Unterschied zu den anderen Mitgliedern ihrer Familie - zum Beispiel ihrem Bruder, der wähnte, das ihm im Ersten Weltkrieg verliehene Eiserne Kreuz weise ihn hinreichend als guten Deutschen aus - war meine Mutter zuerst Angehörige der politischen Minderheit. Deshalb folgte sie 1933 meinem Vater in die französische Emigration und kämpfte nach der Besetzung Frankreichs durch Nazi-Deutschland an seiner Seite in der französischen Résistance.

Dieser Kampf hat auf den ersten Blick nichts mit der "Judenfrage" zu tun. Betrachtet man jedoch die Motive näher, die wahrscheinlich viele Juden zur kommunistischen Bewegung führten, wird der Zusammenhang zwischen ihrem kommunistischen Engagement und der marxistischen Lösung der "Judenfrage" erkennbar. [Auch wenn viele den jüdischen Teil ihrer Persönlichkeit verdrängten, schon deshalb, weil sie die versprochene historische Perspektive für sich mit ihrem Eintritt in die kommunistische Bewegung innerhalb dieser für verwirklicht hielten - in den erwähnten Biographien im Band "Zwischen Thora und Trabant" wird beides deutlich, dieser Zusammenhang und seine Verdrängung.]
Marx sah bekanntlich in der Nachfolge linkshegelianischer Religionskritik Religion als verkehrten Schein realer irdischer Verhältnisse, als falsches Bewußtsein, das entfremdeten menschlichen Verhältnissen entspringt. Die Ursache der vielfältigen Formen der Entfremdung des Menschen - Entfremdung von der Natur, von seinen eigenen Produkten und von den Mitmenschen - entdeckte er "in letzter Instanz" in den ökonomischen Verhältnissen, das heißt in der Spaltung der Gesellschaft in verschiedene Klassen, in Besitzende und Nichtbesitzende (von Produktionsmitteln) und damit in Ausbeuter und Ausgebeutete. Und diese Spaltung war für Marx nichts Statisches, sich immer gleich bleibend. Im Gegenteil, in ihr sah er die Kraft, die die Geschichte vorantrieb, bis zu seiner Zeit vorangetrieben hatte und die Widersprüche auf den Gegensatz von Kapital und Arbeit vereinfacht hatte. Damit eröffnete sich für ihn eine Perspektive, die vorangegangenen Geschichtsperioden versagt geblieben war: zum ersten Mal in der

[Seite der Druckausg.: 64]

Geschichte war mit dem Industrieproletariat eine Klasse entstanden, die - anders als zuvor das Bürgertum in seinen Revolutionen - mit ihrer Befreiung keine neue Form von Herrschaft und Ausbeutung etablieren würde, sondern eine klassenlose Gesellschaft, frei von Ausbeutung, in der jeder seine Fähigkeiten voll entfalten und nach seinen Bedürfnissen leben könnte. Erst dann würden die Ideale der französischen Revolution, die den Juden zwar die Emanzipation als Staatsbürger gebracht, sie jedoch in das Dilemma der nationslosen nationalen Minderheit gestürzt hatte - Wirklichkeit werden können. Dann verschwänden auch Entfremdung und trügerischer Schein, Ausbeutung und falsches Bewußtsein.

Jetzt zeichnet sich ab, was dieser längere, wenn auch arg verkürzte Exkurs mit unserem Thema zu tun hat, obwohl ich hier nicht die überaus fragwürdigen Aspekte von Marx' "Zur Judenfrage" diskutieren kann, in der er Juden und Geld und Geld und Bourgeoisie gleichsetzt, was ihm ermöglicht, durch die wahre Emanzipation die bürgerliche Gesellschaft in der klassenlosen und den Juden im Menschen aufgehoben zu denken - die "Frage" ist gelöst, in dem ihr "Gegenstand" verschwunden ist. [Vgl. dazu u.a. Robert Misrahi: Marx et la question juive, Gallimard, Paris 1972 und Edmund Silberner: Kommunisten zur Judenfrage. Zur Geschichte von Theorie und Praxis des Kommunismus, Westdeutscher Verlag, Opladen 1983.] Für eine Bemerkung zu dieser Jugendschrift von Marx - 1843 verfaßt, 1844 veröffentlicht - sollte jedoch noch Raum sein: Als Kritik an Bruno Bauers "Die Judenfrage" (1843) intendiert, übernimmt Marx von diesem einige Auffassungen, die sich - gewiß nicht in bewußter Nachfolge - in der DDR-Ideologie wiederfinden. Wie Bruno Bauer sieht auch Marx in den Juden kein Volk, sondern "eine Sammlung von Atomen", "eine Summe von atomistischen Individuen", eine "schimärische Nationalität" und schließlich eine "Kaste", die lediglich durch ihre Religion definiert ist. [Vgl. E. Silberner: a.a.O., S. 30.] Auch in der DDR wurde offiziell nur von "Bürgern jüdischen Glaubens" gesprochen - wenn es um die Opfer ging, galt allerdings die Ergänzung "jüdischer Abstammung", denn der Rassismus der Nazis fragte nicht nach der Religion. Letzteres ist wahrscheinlich auch ein entscheiden-

[Seite der Druckausg.: 65]

der Grund für die Abweichung von dem sonst mit musterschülerhaftem Eifer kopierten Vorbild der Sowjetunion, wo die Juden als eigene Nationalität galten. Die Übereinstimmung zwischen Marx und Bauer macht eindringlich auf eine andere, unerwartete Verwandtschaft aufmerksam. Bei Marx rettete die Aufhebung der bürgerlichen Gesellschaft und des Juden diesen als Menschen und ließ ihn als Juden verschwinden. Er war nichts als eine zeitweilige, vorübergehende, zum Untergang verurteilte Partikularität, eine Form der Entfremdung, der es historisch bestimmt war, in die Universalität der befreiten Menschheit überzugehen. Sehen wir, wie Jean-Paul Sartre in seinen "Überlegungen zur Judenfrage", nachdem er sehr eindringlich das "Porträt des Antisemiten" gezeichnet hat, von einem zwar gutwilligen, jedoch nicht sehr hilfreichem Freund der Juden spricht: "Die Juden haben jedoch einen Freund: den Demokraten. Aber das ist ein erbärmlicher Verteidiger. [...] Seine Verteidigung besteht darin, die Individuen davon zu überzeugen, daß sie in isoliertem Zustand existieren. 'Es gibt keine Juden', sagt er, 'es gibt keine Judenfrage.' Das bedeutet, er möchte den Juden von seiner Religion, seiner Familie, seiner ethnischen Gemeinschaft trennen, um ihn in den demokratischen Schmelztiegel zu stecken, aus dem er allein und nackt wieder herauskommen wird als ein individuelles und einsames Partikel, das allen anderen Partikeln gleicht (...) für einen selbstbewußten und stolzen Juden, der auf seiner Zugehörigkeit zur jüdischen Gemeinschaft besteht, ohne deshalb die Bande zu verkennen, die ihn an eine nationale Kollektivität binden, besteht zwischen dem Antisemiten und dem Demokraten kein so großer Unterschied. Jener will ihn als Menschen vernichten, um nur den Juden, den Paria, den Unberührbaren in ihm bestehen zu lassen; dieser will ihn als Juden vernichten, um in ihm nur den Menschen zu bewahren, das abstrakte und allgemeine Subjekt der Menschen- und Bürgerrechte. Noch beim liberalsten Demokraten kann man eine Spur von Antisemitismus entdecken: er steht dem Juden feindselig gegenüber, sobald es dem Juden einfällt, sich als Jude zu denken." [Jean-Paul Sartre: Überlegungen zur Judenfrage, herausgegeben und aus dem Französischen übersetzt von Vincent von Wroblewsky: Gesammelte Werke in Einzelausgaben - Politische Schriften, Bd. 2, Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek 1994, S. 36/37.]

[Seite der Druckausg.: 66]

Diese strukturelle Verwandtschaft zwischen marxistischer und demokratisch-universalistischer Haltung findet sich in der Haltung der DDR gegenüber den Juden wieder. Die Mitglieder der jüdischen Gemeinden wurden als religiöse Minderheit wie alle Religionsgemeinschaften in dem Maße offiziell anerkannt und toleriert, wie sie nicht in Gegensatz zu essentials des sozialistischen Staates gerieten, zu sogenannten Grundlagen der sozialistischen Gesellschaft. Dagegen wäre prinzipiell nichts einzuwenden, soweit es konsequenter Ausdruck der Trennung von Kirche und Staat war und die DDR - mit der französischen Republik vergleichbar - in dieser Hinsicht eine modernere Gesellschaft als die alte und neue Bundesrepublik Deutschland war. Es hatte jedoch besondere Folgen: Beispielsweise gerieten die evangelischen Kirchen in Konflikt zur herrschenden Militärpraxis, die eine Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen ausschloß, oder zur staatlichen atheistischen Erziehung, und die Jüdischen Gemeinden unterließen es, sich zur israelfeindlichen Politik zu äußern. Ja, die jüdischen Gemeinden erfuhren sogar proportional eine wesentlich stärkere Förderung als andere Religionsgemeinschaften -ohne erhebliche materielle Zuschüsse hätte beispielsweise die Synagoge in Berlin nicht restauriert und funktionsfähig gemacht werden können, hätte die koschere Fleischerei in der Eberswalder Straße, für die der Schacher wöchentlich aus Budapest eingeflogen wurde (und zu deren Stammkundschaft die Köche der arabischen Botschaften gehörten) nicht arbeiten können. Das war allerdings nicht in allen Phasen der DDR-Entwicklung so. Julius H. Schoeps faßt verschiedene Berichte und Untersuchungen darüber zusammen: "Bis zur Zeit des mit Todesurteilen und Hinrichtungen endenden Slánskyprozesses 1952 in der CSSR herrschte in der DDR eine durchaus freundschaftliche Atmosphäre zwischen den Jüdischen Gemeinden und den führenden Repräsentanten von Partei und Staat. Durch den Slánskyprozeß und die antisemitischen Vorfälle in der Sowjetunion im Zusammenhang mit einem angeblichen Mordkomplott jüdischer Ärzte gegen Josef Stalin wuchs jedoch 1952/53

[Seite der Druckausg.: 67]

auch in der DDR das Mißtrauen gegenüber Juden." An diese Zeit habe ich einige Erinnerungen. Wir - meine Mutter, mein Bruder und ich - lebten damals in einer gemeinsamen Wohnung mit Trautl Feigl, die in den dreißiger Jahren jenen Feigl geheiratet hatte, der im Außenministerium als Staatssekretär arbeitete und im Slánsky-Prozeß zu lebenslanger Haft verurteilt wurde. Sie war über Prag nach Paris und London (Feigl dagegen nach Palästina) emigriert. Bei ihr trafen sich regelmäßig Reemigranten und sprachen natürlich - auch in meiner Gegenwart, vielleicht nahmen sie an, der Dreizehnjährige würde nicht verstehen, worüber gesprochen wurde, vielleicht wollten sie auch, daß die nächste Generation mehr erfährt als die begrenzte Schulweisheit vorsah - über den Prozeß und die dabei dominierenden Vorwürfe gegen die "zionistischen Agenten des Imperialismus". Später schenkte sie mir aus ihrer Bibliothek sowohl das in Prag deutsch erschiene Protokoll des Slánsky-prozesses als auch, quasi als Beigabe, die Broschüre von Hermann Matern, Mitglied des Politbüros der SED, über "Die Lehren aus dem Slánsky-Prozeß". Später erfuhr ich mehr über die Hintergründe aus dem Buch Arthur Londons "Das Geständnis", das mir französische Freunde in der französischen Fassung in die DDR einschmuggelten. Schoeps fährt fort:"... der Staatssicherheitsdienst durchsuchte zahlreiche Gemeindebüros und die Privatwohnungen von Menschen, die allein auf Grund ihres jüdischen Glaubens als "verdächtig" galten. Jüdische Parteimitglieder wurden von ihren Aufgaben relegiert, aber auch Personen, die den Gemeinden nicht nahestanden und schon vor 1933 Mitglied der KPD gewesen waren, wurden aufgrund ihrer jüdischen Herkunft von hohen Positionen in Partei und Staat ausgeschlossen, wie beispielsweise der Gesellschaftswissenschaftler Jürgen Kuczynski, den man seines Amtes als Präsident der Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft enthob. Diese Repressalien führten zur Flucht vieler führender Gemeindemitglieder und ganzer Jüdischer Gemeinden aus der DDR in den Westen. Der Schock für die damals in der DDR lebenden Juden war beträchtlich, schien es doch nun, als hätte sich grundsätzlich nichts geändert, als sei die über Jahre beschworene Freundschaft zwischen dem Staat DDR und seinen jüdischen Bürgern nichts

[Seite der Druckausg.: 68]

als eine vorgeschobene taktische Behauptung und der überwunden geglaubte Antisemitismus in der DDR nach wie vor existent." [Julius H. Schoeps: Jüdisches Leben in Nachkriegsdeutschland..., S. 373/374.]

Nach Stalins Tod 1953 und dem XX. Parteitag der KPdSU 1956 "normalisierte" sich jedoch das Verhältnis zwischen der DDR und den verbliebenen Juden zunehmend. Die Gemeinden waren wieder willkommenes Aushängeschild für die demokratische und humanistische Grundhaltung der DDR, und mehr noch für ihren antifaschistischen Charakter, der während der gesamten DDR-Geschichte den Legitimationsboden für diesen zweiten deutschen Staat bot. Und innerhalb der DDR-Ideologie nahmen die Jüdischen Gemeinden ansonsten den Platz ein, den alle anerkannten Religionsgemeinschaften einnahmen: Sie hatten ihren Platz als Übergangserscheinung, solange sich auch die sozialistische Gesellschaft transitorisch, als Übergang zur klassenlosen, kommunistische Gesellschaft verstand - dann würden sie mit dem Verschwinden der Religion sich selbst auflösen.

Und die nichtreligiösen Juden? Obwohl viele von ihnen 1952/53 und gelegentlich auch später vom herrschenden Mißtrauen betroffen waren [Bei meinen acht Interview in "Zwischen Thora und Trabant" war ich überrascht zu entdecken, daß mindestens die Hälfte der Interviewten bzw. ihre Eltern entsprechende Erfahrungen gemacht hatten - bei der Auswahl der Interviewpartner hatte dieser Aspekt keine Rolle gespielt .] - der auch mit den Herrschaftsinteressen der mit Ulbricht aus der Sowjetunion zurückkehrten Emigranten zu tun hatte, die potentielle Konkurrenten aus der "Westemigration" auszuschalten bestrebt waren - spielten sie in wesentlichen Bereichen der Gesellschaft eine erhebliche Rolle. Doch das ist das Paradoxe, das vielleicht durch die vorangegangenen Exkurse in die Ideologie, in die Zukunftserwartungen und damit auch in die Motivationen etwas verständlicher geworden ist: Obwohl bei vielen ohne Zweifel die jüdische Identität, wenn auch in der Form des Bruchs, am Anfang des kommunistischen Weges stand, obwohl sie als Kommunisten und als Juden verfolgt worden waren und gekämpft hatten, war diese jüdische Identität von ihnen selbst so gründlich verdrängt oder verleugnet worden, daß sie sich mit dem gesellschaftlichen Blick identifizierten, für den es Jüdi-

[Seite der Druckausg.: 69]

sches außerhalb des Religiösen nicht gab. Dabei spielten sie in der DDR, im Unterschied zum westlichen Teil Deutschlands, im Verhältnis zu ihrem Anteil in der Bevölkerung eine ungleiche größere Rolle. [Vgl. dazu Julius H. Schoeps im o.g. Artikel, S. 352: "Die meisten der politischen Remigranten nach 1945 waren Kommunisten, die sich deshalb auch dafür entschieden, in die Sowjetische Besatzungszone beziehungsweise in die Deutsche Demokratische Republik zu gehen. Zu ihnen gehörten der Schriftsteller Stefan Heym und der Literaturhistoriker Hans Mayer 1945, der spätere Kulturminister der DDR Alexander Abusch, die späteren Mitglieder des Zentralkomitees der SED Gerhard Eisler und Albert Norden sowie der Literaturhistoriker Alfred Kantorowicz 1945, die Schriftstellerin Anna Seghers 1947, der Komponist Hanns Eisler und der Schriftsteller Arnold Zweig 1948, der Philosoph Ernst Bloch 1949 und der Karikaturist John Heartfield 1950. Viele von ihnen haben beim Aufbau der DDR eine wichtige Rolle gespielt." Schoeps verweist in diesem Zusammenhang auf den Aufsatz von Monika Richarz: "Juden in der Bundesrepublik Deutschland und in der Deutschen Demokratischen Republik", in: Jüdisches Leben in Deutschland nach 1945, Hg. von Micha Brumlik et al.: Frankfurt am Main 1986. Siehe ferner Schoeps: S. 365 und S. 370, wo es heißt: "Im Nachkriegsdeutschland haben Juden beim Aufbau der demokratischen Ordnung nur vereinzelt eine Rolle gespielt. In der Politik waren Frauen und Männer jüdischer Herkunft wie Jeannette Wolff, Herbert Weichmann, Josef Neuberger, Jakob Altmaier, Peter Blachstein oder Paul Hertz Ausnahmen." (Muß man darauf aufmerksam machen, daß in der im Westen üblichen Weise hier Westdeutschland mit Deutschland schlechthin identifiziert wird?)]
In einer Broschüre vom Ende der sechziger Jahre, die die antifaschistische Basis der DDR in Form von 95 Kurzbiographien belegen sollte, erkenne ich 17 "jüdische Herkünfte", ohne daß auch nur bei einem darauf hingewiesen wird. [Antifaschisten in führenden Positionen der DDR, Verlag Zeit im Bild, Dresden.]
Ja, im Gegenteil, gerade im Nichterwähnen sah die offizielle Lehrmeinung einen Beweis für den nichtvorhandenen Antisemitismus. Gegen Ende der DDR erzählte der Schriftsteller Stefan Hermlin in einem Artikel in der Zeitung der Jugendorganisation FDJ, "Junge Welt", die damals eine millionenstarke Auflage hatte, wie ihm ein Schriftstellerkollege in einem Streitgespräch als Beweis für den in der DDR angeblich nicht vorhandenen Antisemitismus sagte: "Sieh' mal, mein Sohn weiß nicht einmal, was ein Jude ist." Auch im fünften Jahr nach dem Ende der DDR ist das Problematische dieser Tabuisierung (und ihrer Folgen) noch Streitgegenstand. So schreibt der Karikaturist Harald

[Seite der Druckausg.: 70]

Kretzschmar: "Jude. Das Wort war suspekt geworden durch Nazigebrauch. Und ist es noch. Beschmutzt. Spreche ich heute, ja heute noch, mit einem x-beliebigen Menschen in Ost oder West und erwähne das Wort, so zuckt mein Gegenüber kaum merklich zusammen. Jeder. Deutschland nach Auschwitz." [Harald Kretzschmar: Ach ja: Unser jüdisches Erbe, in Neues Deutschland, 7./8. Januar 1995, S. 16.]
Wollte ich polemisieren, würde ich sagen, durch Nazigebrauch ist das Wort Deutscher mehr beschmutzt worden, gewiß in anderer Weise, und viele in der Welt, selbst einige in Deutschland zucken ebenfalls bei seiner Erwähnung vielleicht kaum merklich zusammen. Doch ich will nicht polemisieren, ich zweifle nicht an der guten Absicht von Harald Kretzschmar, noch an der weitgehenden Richtigkeit seiner Beschreibung. Doch liegt diese bleibende "Beschmutzung", die unvermeidlich vom Wort, vom sprachlichen Zeichen, auf die so bezeichnete Person übergeht, nicht auch an der langanhaltenden Tabuisierung, Verdrängung, nur verklemmten, fast heimlichen, schamhaften Wahrnehmung des anderen in seinem Anderssein? Obwohl es nicht in seiner Absicht liegt, beschreibt der Karikaturist auch diese Aspekte sehr treffend und er hat dabei das Verdienst, besonders auf die nichtreligiösen Juden aufmerksam zu machen: "Juden in der DDR waren in ihrer Aktivität un-überhörbar, unübersehbar, unüberlesbar. Sie wurden als Genosse oder Kollege angeredet wie du und ich. Als Deutsche unter Deutschen, selbstverständlich. Sie waren geachtet, die Älteren geehrt."

Juden waren also sehr gegenwärtig - nur nicht als Juden. Vielleicht unterschieden sie sich nicht von anderen Genossen, Kollegen, Deutschen? Waren - siehe Sartres Demokrat - nur Menschen? Nein, auch das nicht. H. Kretzschmar fährt fort: "Ich habe sie mit besonderer Aufmerksamkeit wahrgenommen. Für mich als Porträtzeichner waren sie auffällig. Weniger der Nase, nebbich, nein, des Wesens wegen. Oder des Geweses, wie der Berliner zu sagen pflegt. Meist waren sie agil, verrieten eine komplexere Sicht auf die Dinge des Lebens. Genossen unter ihnen legten weniger teutonische Vasallentreue an den Tag, als den kritischen Geist der Skepsis." Auch hier hat der Zeichner

[Seite der Druckausg.: 71]

gut beobachtet, denke ich. Das kommunistische Engagement der Juden hatte eben - sicher auch seines Ursprungs wegen - für sie häufiger eine existentielle Dimension, es war meistens auch in einem weiteren Erfahrungshorizont begründet, Gründe für Opportunismus, Anpassung, Karrieredenken, Zynismus waren bei ihnen seltener bestimmend (das konnte man vor 1989 oft nur vermuten: ein großer Vorteil der "Wende" war es, daß die wendigen Anpasser, denen es unter jedem Regime nur um das private Eigeninteresse geht, als "Wendehälse" plötzlich sichtbar wurden - nicht zu verwechseln mit wirklichem Umdenken, das gemeinhin mehr Mühe kostet und häufig auch vor November 1989 einsetzte). Die größere Konsequenz des Engagements heißt nicht, sie hätten nur gute Rollen gespielt. H. Kretzschmar nennt viele Namen aus Wissenschaft, Kunst, Politik, Medien, er spricht über Dissidenten ("Abweichler" in der DDR-Sprache) und besonders Linientreue. Meiner Ansicht nach hat beides auch gleiche Ursprünge und es war die durch Biographie und Charakter, Temperament etc. jeweils verschiedene Weise, die "Sache", die man als Alternative zu einer Welt verschiedenster Diskriminierungen, sozialer und eben auch der der Rasse gewählt hatte, ernst zu nehmen.

Ich gehe auf den Artikel von H. Kretzschmar, der "unser jüdisches Erbe" betrachtet - das Possessivpronom bezeichnet dabei als Subjekt DDR-Bürger, denen ihr Land auch heute nicht einfach nur und vor allem ein totalitärer Unrechtsstaat gewesen ist - und die DDR gegen den Vorwurf verteidigt, sie sei antisemitisch gewesen, "die SED-Diktatur" hätte "Juden unterdrückt", so ausführlich ein, weil dieser wohlwollende Blick von außen so relevant ist für ein anderes Erbe, für das des (scheinbaren) völligen Aufgehens der kommunistischen nichtreligiösen Juden in die DDR-Gesellschaft und für dessen ausschließlich positive Bewertung. Er schreibt zum Beispiel: "Die von außen und nun nachträglich geübte Schelte am DDR-Umgang mit dem Thema reduziert sich leider auf den Aspekt des rein religiösen Lebens. Das geschieht in seltsamer, beinahe heuchlerisch zu nennender Verkennung der Emanzipierung von Menschen zu aufgeklärten Humanisten und Sozialisten. Ich habe die Integration jüdischer Elemente in die deutsche Kultur immer als imponierende geistige Steigerung

[Seite der Druckausg.: 72]

empfunden. Und genau dies wurde bei allen Tiefschlägen durch eine übermächtige Administration in dem verblichenen Land weitergeübt. So wie die sozialistische Arbeiterbewegung die Befreiungsbestrebungen dieser Menschengruppe aufnahm und ihre Geschicke einer großen Reihe von Gründer- und Führerpersönlichkeiten dieser Herkunft anvertraute, so entwickelt sich Geschichte auf anderer Ebene weiter. Heute und hier." Zuvor hatte H.K. bemerkt: "Intellektuelle, längst von ihren religiösen Bindungen losgelöste jüdische Bürger, trugen auch in der DDR ihr Judentum nicht auf einem Tablett vor sich her. Sie waren mit dem guten Vorsatz nach Deutschland Ost gekommen, als Deutsche unter Deutschen, als Sozialisten unter Sozialisten zu leben. Fanden sie ihr Glück? Das können sie nur selbst beantworten. Warum fragt sie keiner? [Das stimmt inzwischen nicht mehr ganz: Neben den erwähnten Interviews von Robin Ostow und von mir veröffentlichte auch Wolfgang Herzberg Anfang der neunziger Jahre einen dicken Band Interviews mit DDR-Juden beim Aufbau-Verlag Berlin.]
Viele haben in aufopferungsvoller Arbeit ihren Idealen gelebt. Aber es gab genauso Enttäuschung, Anpassung, Rebellion und Repression. Aber rassische Verfolgung? Undenkbar." Es ist (fast) wahr - rassische Verfolgung gab es in der DDR in offener, gar offizieller Form, wie es sie in Polen, der Tschechoslowakei oder der Sowjetunion gab, keine. Allerdings gab es Friedhofsschändungen und selbst Verwüstungen (der Friedhof der Gemeinde Adass Isroel in Berlin zum Beispiel war nach dem Krieg noch intakt, in den achtziger Jahren jedoch, vor seiner Wiederherstellung, nur noch eine Mischung von Trümmerfeld und Müllplatz), und wie in der Bundeswehr gab es auch in der "Nationalen Volksarmee" - solche betont männlichen Einrichtungen sind offensichtlich ein besonders fruchtbares Milieu - antisemitische "Vorkommnisse", die jedoch sorgfältig vor der Öffentlichkeit geheimgehalten wurden. [Ein eindringliches Beispiel berichtet Peter Fischer in dem Band "Zwischen Thora und Trabant".]
Und selbst innerhalb der SED gab es vor allem in den fünfziger Jahren Beispiele. Harald Kretzschmar erwähnt selbst eins - allerdings in der Absicht, das Gegenteil zu beweisen: "Der Parteiausschluß der Genossen Wieland Herzfelde und John Heartfield 1951

[Seite der Druckausg.: 73]

bis 1956 war nicht rassistisch, vielmehr politisch motiviert: Sie leisteten der Idiotenthese vom kosmopolitischen Formalismus Widerstand." War denn das Schimpfwort vom Kosmopolitismus nicht vor allem eine verschämte - oder sollte man nicht besser sagen unverschämte - Form von Antisemitismus? Wer waren denn die "Kosmopoliten"? Und natürlich gab es auch für H. Kretzschmar keine "Judenfrage": "Nelken hatte eine geschliffen klare Haltung zur 'Jüdischen Frage'. Ich war Zeuge, als er dem einflußreichen Dichter Sergej Michalkow aus Moskau vorhielt, daß es im sowjetischen Paß die Bezeichnung 'Nationalität: Jude' gäbe. In Deutschland gebe es nur Deutsche, und das sei gut so." Das Problem für die sowjetischen Juden war meines Erachtens jedoch nicht die Registrierung ihrer Nationalität in einem Vielvölkerstaat, wo jeder Bürger eine Nationalität hatte (übrigens unterschied auch die DDR zwischen der Staatsbürgerschaft "DDR" und der Nationalität: war letztere jedoch nicht selbstverständlich "deutsch", war man also nicht von deutschen Eltern in Deutschland geboren, und gehörte man nicht zur anerkannten Vorzeigeminderheit der Sorben, fragte man vergeblich nach Kriterien, die der "Nationalität" zugrunde lagen), sondern das Fehlen eines eigenen Territoriums und Diskriminierungen wie der Numerus clausus für Juden bei der Zulassung zum Studium.

Für wen war es gut, daß es "in Deutschland nur Deutsche gebe"? H. Kretzschmar unterstellt selbstverständlich, daß die "Lösung vom Judentum" für die betroffenen Juden eine Emanzipierung und nichts als das gewesen sei, obwohl er sich auch hier widerspricht, wenn er die erschütternde Begebenheit erwähnt, daß Anna Seghers, u.a. durch ihren Roman "Das siebte Kreuz" jedem DDR-Schulkind bekannt, Präsidentin des Schriftstellerverbandes der DDR und hochgeehrt, ihre Tochter bat, den Chanukka-Leuchter vom Schreibtisch zu entfernen, wenn Leute ihr Arbeitszimmer besichtigen kamen. [In einer schönen Erwiderung im "Monatsblatt des Jüdischen Kulturverein Berlin", "Jüdische Korrespondenz Nr. 2, Februar 1995, S. 1 hat Irene Runge auf die besondere Tragik hingewiesen, die in dieser "Loslösung vom Judentum" und in den entsprechenden Verdrängungen lag, und betont: "Ein säkular-kulturelles Judentum hatte keine Chance. Das Jüdische wurde auch zur Folklore, an der die Juden kaum mehr beteiligt waren." Letzteres konstatiert auch Y. Michal Bodemann in "A Reemergence of German Jewry", a.a.O.]

[Seite der Druckausg.: 74]

Wie war es denn letztendlich mit der Liebe zwischen der DDR und den Juden, den Juden und der DDR? Läßt sich in wenigen Worten so etwas wie eine Bilanz ziehen? Bei aller anfänglichen, kurzen Euphorie: die DDR bzw. ihr Vorläufer SBZ hatte sie nicht als Juden gerufen, sondern als Kommunisten, und hat sie zu keiner Zeit als Juden geschätzt oder gar geliebt. Im Gegenteil, sie brachte es fertig, die anfängliche Kategorie "Opfer des Faschismus" in "Opfer des Faschismus" und "Kämpfer gegen den Faschismus" zu differenzieren und letzteren (höhere) "Ehrenpensionen" zuzubilligen, wobei bei einigen anderen "Privilegien", die die "Antifaschistischen Komitees" verteilten - leichterer Zugang zu Wohnungen, Autos, Kuren, Erholungsmöglichkeiten - auch innerhalb der Kämpfer selbst unterschieden wurde: im allgemeinen waren die Funktionäre der Partei, des Staatsapparates, die Nationalpreisträger und ähnliche wichtige "Persönlichkeiten" "gleicher" als die einfachen "Kämpfer" der Basis. Und selbst in der "Zentralen Leitung des Komitees der antifaschistischen Widerstandskämpfer in der DDR" gab es niemanden, der für die besondere Geschichte, die besonderen Interessen, die besonderen Probleme ehemaliger sozialdemokratischer, bürgerlicher, konservativer, christlicher oder jüdischer Widerstandskämpfer zuständig gewesen wäre, oder gar für ehemalige Deserteure, Euthanasieopfer, Sinti und Roma, Homosexuelle... Die Einheitspartei mit ihrer Einheit und Geschlossenheit reproduzierte sich auf allen Ebenen, in allen Bereichen der Gesellschaft, und usurpierte auch die Vergangenheit. Die späte Liebe zu den Jüdischen Gemeinden - besonders 1988 - wurde nicht nur von "üblen Verleumdern und Feinden der DDR" mit dem Wunsch Erich Honeckers in Verbindung gebracht, als Krönung seiner außenpolitischen Anerkennung - nach seinem würdigen Empfang in Bonn 1987 - in den USA empfangen zu werden.

Und die Liebe auf Seiten der areligiösen, kommunistischen Juden? Sie hatten meistens vor der Gründung der DDR die "Loslösung" vom

[Seite der Druckausg.: 75]

Judentum, seine mehr oder weniger schmerzhafte Verdrängung als Mitgift in den Ehebund mit der kommunistischen Bewegung eingebracht, je nach Charakter und Biographie (was sicher nicht ganz getrennt werden kann) stellten sie hohe Ansprüche an den daraus hervorgegangenen Partner DDR, sahen ihn deshalb besonders kritisch, oder waren besonders nachsichtig, verständnisvoll für seine Schwächen und Gebrechen, litten unter diesen, fühlten sich schuldig, schämten sich oder waren trotz seiner unübersehbaren Makel, die sie als vorübergehende banalisierten, stolz auf ihn. In der Generation ihrer Kinder, die nicht so viele Opfer, und auch entsprechend weniger hohe Erwartungen investiert hatten, kam häufig die Ernüchterung und Enttäuschung schneller und gründlicher, und mitunter galt die Treue oder Loyalität zur DDR mehr den Eltern als diesem Staat. So ist es nicht erstaunlich, daß besonders seit der Mitte der achtziger Jahre bei der zweiten Generation der Remigranten eine Hinwendung zum Judentum, seltener zur Religion, häufiger zur Tradition, zur Geschichte, zur Kultur stattfand, die von der Frage nach der eigenen Identität dominiert wurde. Sie erkannten, daß ihre Eltern sich gezwungen gesehen hatten, zu unauthentischen Juden zu werden - um Sartres Bestimmung aufzugreifen -, um authentische Kommunisten werden zu können, und daß sie ihnen dadurch in diesem Punkt eine negative Erbschaft, eine Leere, einen Mangel - gewissermaßen ein Ei ohne sein Gelbes - hinterlassen hatten.

Hatte dieses Opfer einen Sinn? Gern würde ich glauben, es sei nicht zuletzt auch ihnen zu verdanken, daß eine in osteuropäischen Staaten und in beiden deutschen Staaten 1990, noch vor der Vereinigung, vom Jüdischen Weltkongreß initiierte soziologische Untersuchung zu Ergebnissen führte, die den Auftraggeber - und nicht nur ihn - überraschte: die Prozentsätze antisemitischer und auch israelfeindlicher Einstellungen lagen im Osten Deutschlands deutlich unter denen Westdeutschlands, und zwar stärker bei den jungen als bei den älteren Generationen. Und das am Ende einer totalitären Diktatur, die eine gegen Israel geführte Außenpolitik betrieb! Ich erinnere mich gut daran, wie meine fellows am Woodrow Wilson International Center for Scholars in Washington D.C. im Herbst 1990 versuchten,

[Seite der Druckausg.: 76]

sich diese für sie äußerst verblüffenden Ergebnisse zu erklären. Einige wollten darin ein Ergebnis der oppositionellen Haltung der Bevölkerung gegenüber der offiziellen Politik sehen, andere stellten die Methode der Befragung in Frage. Allen fiel es schwer, sich vorzustellen, daß die intensive, wenn auch oft formale, schematische, zu allgemeine, ideologisierte und instrumentalisierte Erziehung zur Völkerfreundschaft, zum Internationalismus, zur Solidarität, wie Schlüsselwerte des DDR-Selbstverständnisses lauteten, auch eine positive Wirkung gehabt haben konnte. Und daß bei allem "verordneten" Antifaschismus Literatur, Filme, Schule und auch die persönliche Wirkung ehemaliger Widerstandskämpfer einen Einfluß gehabt hatten, der sich in diesen Umfrageergebnissen niederschlägt.

Und was wird aus dem Erbe, nachdem dieser schwierige Partner DDR dahingeschieden ist? Es ist so widersprüchlich, wie dieser es selbst war. Die tatsächliche Vereinigung von Ost und West kennt viele Hemmnisse, dauert länger, als viele erwarteten. Doch scheint sie dort besonders gut zu verlaufen, wo man es am wenigsten wünschen möchte: in den Kriminalitätsraten zum Beispiel hat der Osten in fünf Jahren den Westen aufgeholt, und auch in der Fremdenfeindlichkeit klappt der Anschluß gut, ja die Angriffe gegen Schwarze, gegen Vietnamesen zeichnen sich im Osten oft durch besondere Brutalität aus (wobei, soweit noch möglich, die passive oder gar Beifall bekundende Menge "normaler, anständiger Bürger" noch erschütternder ist). Wie nicht anders zu erwarten, geht diese dumpfe, fast immer stark alkoholisierte Gewalt mit antisemitischen Äußerungen einher. Zur Erklärung mag man zurecht die radikale Umbruchsituation, die sozialen und familiären Probleme, den Werte- und Perspektivverlust und vieles mehr nennen, doch auch die Tiefen- und Langzeitwirkung der DDR-Erziehung zur internationalen Solidarität ist durch diese Entwicklung in Frage gestellt. Es erweist sich im Rückblick, daß die für die DDR nicht untypische Ausländereuphorie - zu beobachten bei "Weltfestspielen der Jugend und Studenten", bei "Internationalen Festivals des politischen Liedes", bei auch spontaner, nicht "von oben" organisierter Solidarität zum Beispiel mit Chilenen nach dem Putsch gegen Allende im Herbst 1973 wohl teilweise aus dem gleichen Mangel gespeist wurde, der heute bei manchen zur Gewalt führt: Es gab

[Seite der Druckausg.: 77]

kein normales, alltägliches Zusammenleben mit Ausländern, nur sehr begrenzte Erfahrungen im Ausland, und natürlich auch keine Relativierung der eigenen Wertvorstellungen durch anderer kulturelle Erfahrungen, sodaß die punktuellen Begegnungsmöglichkeiten exotisch aufgewertet, ja kompensatorisch überbewertet waren. Heute, da Konkurrenzkampf, drohender oder tatsächlicher Verlust des Arbeitsplatzes, Verarmung, die sicher oft - angesichts des jetzt allgegenwärtigen, jedoch unerreichbaren Reichtums - mehr empfunden als real ist, schlägt die mangelnde Erfahrung in ihr Gegenteil um: was vor zehn Jahren vor dem Hintergrund sozialer Sicherheit als exotischer Reiz wahrgenommen wurde, wird heute als Bedrohung erlebt und erzeugt Angst, die sich in der Gewalt gegen das Angsterzeugende, das mit der Ursache der Angst verwechselt wird, ihren Ausweg sucht. Ich nehme an, die Kenntnis der konkreten Vorgeschichte zu Zeiten der DDR vermag dabei zu helfen, solche Widersprüche und Umkehrungen besser zu verstehen und entsprechend mit ihnen umzugehen. Und die globale Verteufelung der DDR-Geschichte unter dem Motto "SED-Diktatur", die Nivellierung der Gegensätze, die in der DDR am Werke waren und mit zu ihrem Ende führten, könnten sich gegen die Absichten der vorschnellen Interpreten kehren. Aus der unheimlichen Liebe zwischen Juden und DDR gewänne der Antisemitismus neue Nahrung - es genügt, die tatsächliche, im Verhältnis zu ihrer verschwindend geringen Zahl starke Repräsentanz von Juden in verantwortlichen Stellungen der DDR zu verallgemeinern, einseitig zu interpretieren und zu bewerten, indem man das positive Vorzeichen, das die Beschreibung bei Harald Kretzschmar noch hatte, umkehrt, und schon war die "SED-Diktatur" eine jüdische Erfindung und die Nichtjuden ihr Opfer. Wie wenig eine derartige Tendenz aus der Luft gegriffen ist (und mit dem alten antisemitischen Topos vom Judeo-Bolschewismus zusammenfließen kann), zeigen neuere Veröffentlichungen und ihr möglicher Gebrauch. [Vgl. dazu als bisheriger Höhepunkt das Buch von John Sack: An Eye For an Eye. The Untold Story of Jewish Revenge Against Germans in 1945. Basic Books, New York 1993, 252 S., das jetzt deutsch unter dem Titel "Auge um Auge. Opfer des Holocaust als Täter. Eine Parabel über die Gewalt" bei Piper in München erscheint. Siehe dazu die Besprechung von Eike Geisel: Die neuen "Opfer der Opfer" in: Konkret, Heft 2, Februar 1995, S. 18-21, in der er u.a. die Gemeinsamkeit mit der These Ernst Noltes zeigt, der gesagt hatte: "Der rationale Kern des NS-Antisemitismus liegt in der inneren Affinität des 'Judentums' zu den bolschewistischen Ideen." Zum Verständnis der tatsächlichen heutigen Dimension von Gewalt und ihre Ursachen trägt dagegen meiner Ansicht nach in bemerkenswerter Weise Gunnar Heinsohn mit "Warum Auschwitz? Hitlers Plan und die Ratlosigkeit der Nachwelt, rororo Aktuell 13626, Reinbek bei Hamburg 1995, 217 S. bei. Vgl. die Besprechung von Sylke Tempel "Auf der Suche nach Erklärungen für das Ungeheuerliche" in Der Tagesspiegel vom 23.1.1995, in der sie hervorhebt, daß Heinsohn Theorie lautet, mit den Juden wollte Hitler die Ethik des Judentums beseitigen, deren Kerngedanke der Schutz des Thebens ist, denn mit der Beseitigung der Juden, der "Erfinder des Gewissens", wollte Hitler das Recht auf Völkermord wiederherstellen. Sie kommt zu dem Schluß, dieses Buch könnte und sollte eine Debatte provozieren, die sich weit über das Niveau des Historikerstreits - in dem Nolte einer der Hauptprotagonisten ist - heraushebt. Diese Debatte sollte die Frage einschließen, ob Hitlers weitgehender Teilerfolg nicht mit der heutigen Gewalt etwas zu tun hat.]
Möge

[Seite der Druckausg.: 78]

eine gerechte, differenzierte Bewertung der Geschichte auch im Hinblick auf die "unheimliche Liebe" zwischen Juden und der DDR einen derartigen Mißbrauch verhindern helfen.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | März 2003

Previous Page TOC Next Page