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TEILDOKUMENT:
[Seite der Druckausg.: 41]
1. Unter Programmatik sind nicht nur offizielle programmatische Aussagen, sondern das Gesamtverhalten von Parteien und anderen Organisationen zu verstehen. Die Publizistik, Parteitags- und sonstige Reden der Führer, das Verhalten gegenüber Anhängern und politischen Gegnern, die Geschichte der jeweiligen Partei oder Organisation, ihre ideengeschichtliche Herkunft und die politischen Biographien ihrer Funktionäre - dies zusammengenommen bildet die Programmatik rechtsextremer Organisationen. Sie steht heute weniger denn zuvor isoliert als Außenseiter-Meinungsspektrum am Rande der Gesellschaft. Es hat vielmehr den Anschein, als ob die Schnittmengen zwischen den Orientierungsmustern der Mehrheitsgesellschaft, insbesondere dem konservativen Meinungsspektrum, und dem organisierten Rechtsextremismus gewachsen seien. Diese Entwicklung betrifft nicht nur die Bundesrepublik, sondern mehr noch die rechtspopulistischen Strömungen in Westeuropa [Armin Pfahl-Traughber: Volkes Stimme? Rechtspopulismus in Europa, Bonn 1994.] und die Schirinowski-Bewegung in Rußland. [Wolfgang Eichwede (Hrsg.): Der Schirinowski-Effekt, Reinbek 1994.] Die Programme der extremen Rechten, ihre Publizistik, die Reden der Führer werden häufig als bloße Neuauflage nationalsozialistischer Propaganda betrachtet und eher abschätzig ignoriert. Doch nicht nur die Entwicklung einer "Neuen Rechten" legt es nahe, diese Hintergründe genauer und differenzierter zu beobachten. Die Themen der extremen Rechten, vordergründig "Ausländer", Kriminalität, nationale Identität, sind, hintergründiger betrachtet, Versuche einer Antwort auf schwerwiegende Strukturprobleme. Hinter der Frem- [Seite der Druckausg.: 42] denfeindlichkeit verbirgt sich die Unsicherheit über das Zusammenleben in einer Gesellschaft, die sich offiziell als ethnisch homogene Gemeinschaft der Deutschen versteht, faktisch aber in den Ballungsräumen der alten Bundesländer längst zu einer multikulturellen Gesellschaft geworden ist. Fremdenfeindlichkeit deckt die legitimen Fragen nach der Aneignung des gesellschaftlichen Reichtums und der Verteilung sozialer Lasten zu, sie stellt verkehrt herum Fragen nach Gemeinschaft und gesellschaftlicher Verantwortung. Der übersteigerte Nationalismus und die geschichtsrevisionistischen Bemühungen um eine "Entkriminalisierung" der deutschen Geschichte in diesem Jahrhundert provozieren unbeantwortete Fragen nach der Rolle und dem Selbstverständnis des vereinten Deutschlands in Europa, nach dem Fall des eisernen Vorhangs, und in der Welt. Solche "Verkehrungen" werden freilich zugedeckt durch eingängige Perspektiven staatlicher Repression, die Parole "Nazis raus" und eine symbolische Politik, die das Verschwinden von Symptomen (Wahlerfolge, Gewaltspiralen) mit der erfolgreichen Bekämpfung von Ursachen verwechselt. Im Anschluß an diese Ausgangsüberlegungen wäre auf die drei Kernströmungen des organisierten Rechtsextremismus hinzuweisen: Der teils jahrzehntealte "Mainstream" bewegt sich zwischen rassistischer, geschichtsrevisionistischer, deutschnationaler und rechtspopulistischen Strömungen und kristallisiert sich um die NPD, DVU, "Deutsche Liga" und "Republikaner". Nicht aus eigener Kraft, sondern aufgrund von schweren Versäumnissen der Politik im Hinblick auf die Realexistenz der multikulturellen Gesellschaft und ihrer innergesellschaftlichen Konflikthaftigkeit, die wachsende soziale Ungleichheit und nicht zuletzt schwindender Glaubwürdigkeit der politischen Klasse ist diese Kernströmung des organisierten Rechtsextremismus zeitweilig (1989 und 1992) wieder in einige Kommunal- und Landesparlamente gespült worden. Eine zweite, zahlenmäßig weit kleinere Strömung greift Ideen der "Konservativen Revolution" auf, versteht sich als Brückenspektrum zwischen Konservatismus und Rechtsextremismus und könnte als eine von jüngeren Studenten und Akademikern getragene "Neue Rechte" bezeichnet werden. Ihre Ziel ist nichts weniger als die kulturkämpferische Agitation der demokra- [Seite der Druckausg.: 43] tischen Ideen von 1789, die für die Dekadenz des gegenwärtigen Zeitalters verantwortlich gemacht werden. Die dritte, von den ersten beiden durch ihren antibürgerlichen und teilweise militanten Habitus deutlich unterschiedene Richtung versammelt gewaltbereite Jugendliche und rechte Skins und hat Spuren hinterlassen bei gewalttätigen Aktionen und in der neuen rechtsextremistischen Jugendkultur, wo sich Ansätze dafür finden, daß die Bewegungsmomente dieses Protests deutlich hervortreten. [Werner Bergmann: Ein Versuch, die extreme Rechte als soziale Bewegung zu beschreiben, in: Werner Bergmann, Rainer Erb (Hrsg.): Neonazismus und rechte Subkultur, Berlin 1994, S. 183-203.] Trotz aller Rivalitäten und Fraktionierungen gibt es einen Basiskonsens der drei Strömungen: Sie leben für die Vorstellung einer ethnisch homogenen deutschen Volksgemeinschaft und einen starken, auf nationalistischen Prinzipien gegründeten Staat. Diese Vision trifft auf rudimentäre, "ungleichzeitige" (Bloch) und anachronistische kollektive Restbestände des Bewußtseins, die in der ersten Hälfte des Jahrhunderts weit verbreitet waren und nach dem Zweiten Weltkrieg tabuisiert wurden. 2. Rechtsextremismus und Rechtspopulismus haben auf westeuropäischer Ebene einen bemerkenswerten Aufschwung seit Mitte der achtziger Jahre. Dem Front National, dem Vlaams Block, Haiders FPÖ, dem italienischen Rechtsbündnis und zeitweilig auch den deutschen "Republikanern" ist ein breiter Einbruch in die kleinbürgerlichen und Arbeiter-Wählerschichten gelungen. Aktuelle Umfragen zeigen darüber hinaus ein stabiles Potential fremdenfeindlicher Einstellungen in Westeuropa. Erhebungen des Eurobarometer über Akzeptanz und Ablehnung von Fremden aus dem Jahr 1992 zufolge sind in den Ländern der Europäischen Gemeinschaft insgesamt die Ablehner in der Mehrheit. Nur in Spanien, Portugal, Italien und Irland, in der geopolitischen und industriellen Peripherie, sind sie in der Minderheit. In Belgien, Frankreich und Westdeutschland ist die Ablehnung der Fremden am weitesten vorangeschritten (Wiegand, 1993). Nach einer Repräsentativbefragung der französischen Kommission für Menschenrechte kann jeder fünfte Franzose als [Seite der Druckausg.: 44] "überzeugter Rassist" angesehen werden.
[Vgl. den Bericht "Rassismus in Frankreich wächst", in: Frankfurter Rundschau, 26.2.1993, S. 2.]
Das herausragende Merkmal dieser Entwicklungen ist die populistische Strategie der Eurorechten. Nicht nur werden wichtige Themen der Tagespolitik unter Rücksichtnahme auf den Stammtischdiskurs und das "gesunde Volksempfinden" aufgegriffen, um die Anschlußfähigkeit des Rechtsextremismus an die Mehrheitsmeinungen sicherzustellen und die Symboltradition der europäischen Faschismen in der ersten Hälfte des Jahrhunderts zu kaschieren. Effektvoller und wahlpolitisch erfolgreicher ist das Ansetzen an den Delegitimationserscheinungen der etablierten Parteien. Die europäische Rechte spielt sich heute auf als die Vertretung der kleinen Leute gegen die Mächtigen, Korrupten, dem Volk Entrückten. Sie macht sich zum Sprachrohr von tradierten Vorurteilen und antidemokratischen Strömungen in der Mitte der Gesellschaft. Der politische Bankrott und die Selbstauflösungen der Sozialisten wie auch der Christdemokraten in Italien haben den in Allianza Nazionale umbenannten italienischen Neofaschisten und der Lega Nord den Weg in die Koalition mit Berlusconis Forza Italia geebnet. Die Themen des Rechtspopulismus in Europa sind je nach der nationalspezifischen Situation verschieden, und doch gibt es wiederkehrende Deutungsmuster. So sind auf den ersten Blick die Forderung Schirinowskis nach einem großrussischen Reich inklusive territorialer Ausdehnung bis an den Indischen Ozean und das Mittelmeer und der [Seite der Druckausg.: 45] Radikalföderalismus der Lega Nord, der Italien in drei oder mehr Republiken aufteilen und die Autonomie der Lombardei will, unvereinbar. Bei genauerer Betrachtung schält sich jedoch ein gemeinsamer Kern heraus. Beide Male geht es um die Verteidigung und Rückeroberung von Lebens- und Wohlstandsniveaus gegen die vorgeblichen Bedrohungen durch Migranten aus dem Süden und die Bewahrung der völkischen und territorialen Identität. So unterschiedlich auch die Feindbilder der Republikaner und des Front National sind - hier "Asylanten" und ausländische Kriminelle, dort maghrebinische und afrikanische Franzosen -, so identisch ist doch die Zielrichtung politischer Mobilisierung. Beide propagieren die Vision einer ethnisch homogenen Volksgemeinschaft gegen die Realexistenz einer multikulturellen Gesellschaft. Unsere Beispiele zeigen den Rekurs auf einen traditionalistischen Wertekanon, dessen historische Herkunft eindeutig aus dem historischen Rechtsextremismus der zwanziger- und dreißiger Jahre stammt. Gegen die Modernisierung der Gesellschaft, die erhöhten sozialen Umlaufgeschwindigkeiten und veränderte Zeit- und Mobilitätsstrukturen setzen sie auf antimodernistische Werte, die sie in populärer Form verkünden. Die rechtspopulistischen Parteien wehren sich gegen Entfremdungsprozesse moderner Industriegesellschaften, die sie als ethnisch dominierte Überfremdung ausgeben. Sie sehen sich nicht nur als Anwälte der Einheimischen gegen die Migranten, sondern sie betonen die Vorrechte der Einheimischen und negieren das demokratische Gleichheitsgebot und die soziale Partizipationschance der Migranten. Darin besteht ihr antidemokratischer Charakter. Ihre Dynamik resultiert nicht zuletzt aus dem Versagen oligarchischer Eliten und dem von diesen konservierten System der Zirkulation eben dieser Eliten. Sie gehören zu den Profiteuren jener politischen Entfremdung zwischen der Bevölkerung und den politischen Parteien und Institutionen, die in den neunziger Jahren zu einem bedrohlichen Krisenfaktor in der europäischen Politik geworden ist. Der moderne europäische Rechtspopulismus ist letztlich ein Beziehungsbegriff, der das Miteinander von Parteien und Wählern zum Ausdruck [Seite der Druckausg.: 46] bringt. Als Klammer zwischen beiden hat sich ein defensiver Wohlfahrtsstaat-Chauvinismus herausgeschält. 3. Die Programmatik der extremen Rechten und des Rechtspopulismus folgt dem Imperativ einer ethnisch homogenen Gesellschaft bzw. Volksgemeinschaft. Ethnische und kulturelle "Überfremdung", Ausländerpolitik und innere Sicherheit sind Themenkreise, von denen praktisch alle anderen programmatischen Gesichtspunkte abgeleitet sind. Zusammengenommen zielen sie auf soziale Ängste in Teilen der Gesellschaft, Ängste vor dem Verlust von Wohnung und Arbeit, Angst vor allem aber davor, im entfesselten Konkurrenzkampf der sich permanent modernisierenden "Leistungsgesellschaft" nicht oder nicht mithalten zu können. Der relative Erfolg einer solchen Programmatik, zumal in Italien, Österreich und Frankreich, verweist auf erhebliche Defizite der etablierten Politik: Solidarität und Gemeinschaft sind den Ideologien des Konkurrenzkampfes in der Leistungsgesellschaft hoffnungslos unterlegen. Eine Ausländerpolitik, die den Gaststatus der Zuwanderer betont, die Festungsmentalität durch Ausschluß und demonstrative Wagenburgmentalität durch Negation der multikulturellen Gesellschaft hervorhebt und auf diese Weise die ohnehin vorhandenen ethnischen Spaltungen in der Gesellschaft noch vertieft, produziert und legitimiert fremdenfeindliche Strömungen. Neben den "harten" Themen Ausländer/innere Sicherheit entwickelt der neuere Rechtsextremismus in Deutschland kulturkämpferische Programmatiken, die etwa am Stichwort "Geschichtsrevisionismus" entlang versuchen, geistig-politische essentials der politischen Kultur zu unterminieren. Relativierungen des Holocaust, mittlerweile Bestandteil konservativer Geschichtswissenschaft und ihr verbundener Publizistik (Nolte, Fleissner-Buchimperium u.a.), zielen nicht nur auf die Rechtsaußen-Klientel, sondern auch auf das rechtskonservative Bildungsbürgertum und die konservativen Intellektuellen. Ziel des Geschichtsrevisionismus aller Schattierungen ist freilich nicht allein ein verändertes Geschichtsbild. Es erscheint nur als Mittel zum Zweck einer Rehabilitation der Nation und des Nationalstaates. [Seite der Druckausg.: 47] 4. Auch unter der Voraussetzung einer nicht unerheblichen Schnittmenge zwischen der rechtsextremen Programmatik und den Auffassungen der demokratischen politischen Strömungen bleibt eine fundamentale Differenz, die allerdings Schnittmengen ganz anderer Art mit der Mehrheit bildet. Rechtsextremismus ist im Kern nach wie vor antidemokratische politische Religion. Er lebt nicht von konkreten Programmen, sondern von Prinzipien wie Volk, Nation, Gemeinschaft, Kampf, Kameradschaft, eingebunden in Vorstellungen von organisch gewachsenen gesellschaftlichen und politischen Eliten. Solche Vorstellungen sind Naturbildern entlehnt und gelten als ewiggültig, insofern sind sie auch der Reflexion entzogen und als überzeitliche Werte aller Programmatik übergeordnet. Rechtsextremisten "glauben" an diese vorgeblich natürliche Ordnung der Dinge, ihre politische Praxis außerhalb der Parlamente besteht im wesentlichen im Zelebrieren dieser Weltanschauung. Ein Blick auf Versammlungen, Parteiveranstaltungen und noch die Konzerte von Skinbands belehrt über den politisch-religiösen Charakter des Rechtsextremismus und die "Faszination" seiner politischen Ästhetik. Die rechtsextreme Weltanschauung ist demgegenüber ein politischer Fundamentalismus, der von unverrückbaren, nicht diskursfähigen, absoluten Prinzipien lebt. Sie gelten als ewiggültige oder als von Natur aus wahr und bedürfen deshalb gar keiner rationalen Begründung. Der quasi-religiöse Glaube an Volk, Nation, Vaterland usw. tritt an die Stelle politischer Programmatiken, denen es um die Diskussion und Durchsetzung von rationalen Zielen geht. Diese Weltanschauung ist in ihrer Substanz irrational. Der ewige Überlebenskampf, das Streben nach nationaler Einheit und Größe, die Annahme einer ethnisch homogenen Volksgemeinschaft sind keine diskussionswürdigen Programme, sondern substantielle und unverrückbare Grundfesten einer politischen Überzeugung, die öffentlich nicht diskutiert, sondern zelebriert wird. Weithin übersehen wird dabei, daß es sich eben nicht um eine Argumentationsstruktur handelt, der mit Gegenargumenten zu begegnen wäre, sondern um einen quasi-religiös begründeten Fundamentalismus, an dem rationale Argumente zwangsläufig abprallen müssen. Er findet sich, zumindest in Bruchstücken und ver- [Seite der Druckausg.: 48] schiedenen Nuancierungen, nicht nur im gesamten rechtsextremen Spektrum, sondern auch bei politisch uninformierten Skinheads und in Teilen der Mehrheitsgesellschaft. Es gab und gibt zwar rechte Intellektuelle, etwa im Umkreis der Neuen Rechten. Doch einer Diskussionskultur, wie sie in demokratischen Spektren üblich ist, bedarf es nicht. An deren Stelle tritt eine politische Ästhetik, die die rechtsextreme Weltanschauung öffentlich zum Ausdruck bringt. Militaristische Symbolik in der Kleidung, in Militaria und Devotionalienhandel, in Kriegs- und Soldatenromantik stehen für Kampf- und Opferbereitschaft. Nationale Symbolik wie Wappen, Buttons, Fahnen und Lieder symbolisiert den Fixpunkt jeglicher Gemeinschaftsform, die Unvergänglichkeit und Höherwertigkeit der Idee, der sich der Einzelne unterzuordnen hat. Feierrituale wie Sonnenwendfeiern, Fahrten, Demonstrationen, Kundgebungen und Treffen sorgen für das Gefühl von Gemeinschaft, Geschlossenheit und Kraft. Nicht zuletzt ermöglichen sie das Ausleben und die Festigung gruppeninterner Hierarchien. Gegen die Prinzipien rationalistischer, auf die Befreiung des Individuums zielender Universalnormen seit der Aufklärung, gegen Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit setzt der Rechtsextremismus einen Kanon von nicht-hintergehbaren Werten, die letztlich naturalistischen Übertragungsregeln folgen. [Hans-Gerd Jaschke: Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit. Begriffe, Positionen, Praxisfelder, Opladen 1994, S. 52ff.] Demokratische Parteien, auf interne Willensbildung und Kompromisse angelegt, auf Diskussion und Fortentwicklung ihrer Grundsätze, haben in dieser Hinsicht mit Rechtsextremismus nichts gemein. Wohl aber die "ungleichzeitigen" (Bloch) Restbestände des kollektiven Bewußtseins, bei denen Prinzipien wie Volk als Schicksalsgemeinschaft, Nation als der Verfassung übergeordnetes, Identität ermöglichendes historisches Subjekt oder auch Gemeinschaft als Vision einer ethnisch homogenen Volksgemeinschaft sehr wohl noch einen Platz haben. Der Rechtsextremismus zielt auf diese anachronisti- [Seite der Druckausg.: 49] schen, modernitätskritischen Potentiale des noch nicht aufgeklärten Bewußtseins. 5. Offener Antisemitismus findet sich heute nur in den kleinen Randzonen der militanten Neonazis. Die Ächtung des Antisemitismus im öffentlichen Leben der Bundesrepublik hat dazu geführt, daß bei den rechtsextremen Parteien und Organisationen des "main-streams" (NPD, "Republikaner", DVU usw.) der Antisemitismus in einer eher versteckten, bloß angedeuteten, aber dennoch durchaus wirkungsvollen Weise zum Ausdruck kommt. Haiders Angriffe gegen den jüdischen Weltkongreß bei der Präsidentschaftswahl Waldheims im Jahr 1986, vordergründig motiviert vom Postulat der Nicht-Einmischung in österreichische Angelegenheiten, faktisch aber mit Verschwörungstheorien aufgeladen, sind hierfür ebenso ein Beispiel wie etwa Schönhubers Angriffe auf Heinz Galinski, den 1992 verstorbenen Vorsitzenden der Berliner Jüdischen Gemeinde und des Zentralrats der Juden in Deutschland. Galinski wirft er "Geschmacklosigkeit" vor, in der "Prawda" und dem "Neuen Deutschland" "wieder einmal das braune Gespenst an die Wand zu malen" sowie "Kumpanei mit dem stalinistischen Diktator Honecker". "Herr Galinski", fährt er fort, "ich bin alles andere als ein Antisemit, aber hören Sie auf, uns deutsche Patrioten zu verleumden. Sie sind schuld, wenn es den verachtenswerten Antisemitismus wieder geben sollte". Schönhubers Äußerungen sind keineswegs spontan. Sie sind wohl kalkuliert. Einige Wochen zuvor, beim Dinkelsbühler Parteitag am 3. Dezember 1989, hatte er sich wie folgt geäußert: "... Aber, und ich sage das in aller Deutlichkeit. Ich mag diesen Herrn Galinski nicht mögen müssen (Beifall). Ich habe etwas gegen die täglich praktizierte Demütigung unseres Volkes. Ich halte sie für nicht länger hinnehmbar. Ein Herr Galinski ist möglicherweise mitschuldig an einem erneuten Aufkommen des von uns so deutlich abgelehnten Antisemitismus. Gegen einen Herrn Galinski (Beifall) Gegen einen [Seite der Druckausg.: 50] Herrn Galinski ist Simon Wiesenthal beinahe eine Art Nathan der Weise...". [Bundesdelegierten-Parteitag der "Republikaner" in Dinkelsbühl, 3.12.1989, Tonband-Abschrift, S. 2f.] Hat der Vorsitzende des Zentralrats der Juden "Schuld" auf sich geladen? Sind am Ende die Juden am Antisemitismus selber schuld? Unterscheidet man Gesagtes von Gemeintem, so wird hier eine spezifische Form von Antisemitismus deutlich. "Krypto-Antisemitismus" hat Adorno eine Haltung genannt, die das Tabu offener Aggression gegen die Juden kalkuliert und verwandelt in Andeutungen und Anspielungen. Antisemitismus ist, wie Adorno hervorhebt, "das Gerücht über die Juden".
[Theodor W. Adorno: Kritik. Kleine Schriften zur Gesellschaft, Frankfurt/M. 1971, S. 109.]
Schon bei der Waldheim-Affäre 1986, als der österreichische Bundespräsident an seiner Kriegsvergangenheit zu scheitern drohte, hatte Schönhuber die Karte des "Krypto-Antisemitismus" gezogen. [Seite der Druckausg.: 51] "Gegen gutes Geld" hätten, heißt es in einem Artikel im Parteiblatt, [Vgl. "Ich dacht', mich tritt ein Pferd! Waldheim und die Juden", in: Der Republikaner 4 (1986), S. 7.] jüdische Professoren die Kampagne gegen Waldheim geschürt, und: "In der Bundesrepublik zieht man sofort den Kopf ein, wenn jüdische Kreise einen Angriff starten". Das "Gerücht über die Juden", wie Adorno bemerkte - in solch perfiden legalistisch-demagogischen Sprachspielen äußert sich der Antisemitismus der "Republikaner". 6. Der rechtsstaatliche, repressive Umgang mit rechtsextremen und verfassungsfeindlichen Organisationen ist verfassungsrechtlich geregelt durch das politische Strafrecht (Art. 86 und 86 a, 130 und 131) und einige Bestimmungen im Grundgesetz (Vereinsverbot nach Art. 9, Aberkennung der bürgerlichen Ehrenrechte nach Art. 18, Parteienverbot nach Art. 21). Die Bundes- und Länderinnenminister haben von dieser Möglichkeit in der zurückliegenden Jahren reichlich Gebrauch gemacht, zuletzt im November 1994 beim Verbot der Wiking-Jugend. Dadurch wird der Repressions- und Abschreckungseffekt auf die organisierte Rechtsaußen-Szene verstärkt, die staatliche Handlungsfähigkeit demonstriert und nicht zuletzt werden so symbolische Effekte frei, die auf eine Verbesserung des Investitionsstandortes Deutschland abzielen: Bedenken ausländischer Investoren sollen zerstreut werden, indem auf den entschiedenen Verfolgungsdruck hingewiesen wird. Letztlich handelt es sich jedoch um eine fatale Problemverschiebung: Maßnahmen der inneren Sicherheit unterdrücken das offene Auftreten von Rechtsextremisten, tragen zu einer sinkenden Kurve der Gewaltstatistiken bei und erwecken so den Eindruck einer Lösung des Problems. Tatsächlich jedoch scheint das Instrumentarium des auf Polizei, Justiz und Verfassungsschutz setzenden starken Staates wenig geeignet, die Strukturproblematik des Rechtsextremismus und der Fremdenfeindlichkeit zu bearbeiten. Von daher stellt sich die Frage nach dem angemessenen Umgang mit verbreiteten rechtsextremen und fremdenfeindlichen Meinungen, Stimmungen, Orientierungsmustern. Aufklärung und Information in den Bildungsinstitutionen und in den Medien allein werden demokra- [Seite der Druckausg.: 52] tische Orientierungen bestärken, antidemokratische vermutlich aber kaum erreichen. Wichtiger erscheint es hier, an den gesellschaftlichen Ursachen für Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit anzusetzen. Es geht dabei unter einer längerfristigen Perspektive um den Abbau sozialer Ungleichheit und die Demokratisierung der multikulturellen und multiethnischen Beziehungen. Werden diese län-gerfristig anzugehenden politischen Gestaltungsaufgaben vernachlässigt, dann könnte sich das heterogene Potential fremdenfeindlicher und rechtsextremer Protesthaltungen europaweit verbreitern und stabilisieren. Institutionen und demokratischer Gegenöffentlichkeit fehlt es nicht an gutem Willen, sondern an koordinierten Vorstellungen darüber, wie eine Demokratisierung des Einwanderungsprozesses auszusehen hätte und wie er mit dem notwendigen Abbau von sozialer Ungleichheit verknüpft werden könnte. Die vorherrschenden Strategien der Repression, der symbolischen Ausgrenzung des rechtsextremen Potentials, der pädagogischen Selbstvergewisserung über die Grundlagen von Demokratie und Toleranz gehen an diesen Erfordernissen vorbei, weil sie in defensiver Weise auf das Verschwinden von Symptomen drängen und den Status quo vor "Hoyerswerda" und vor den ersten "Republikaner"-Wahlerfolgen 1989 objektiv wieder herstellen wollen. Wenn man einmal annähme, die Rechtsaußenparteien würden auf unter ein Prozent gedrückt, die Gewaltstatistik rechter Täter tendiere gegen Null, die rechte Skinszene löse sich auf und die neurechte Publizistik melde Konkurs an - wären dann die zugrundeliegenden Strukturprobleme gelöst? Vermutlich würden sich die Folgewirkungen von Ungleichheitsentwicklungen und Migration nur anders äußern, etwa in latent verbleibender oder auch offener, politisch diffuser Gewaltbereitschaft, in anomischen Strukturen in Teilen der Jugendszene oder auch im Anwachsen von "Problemgruppen". Natürlich wäre auch ein nach außen sich abschottender, nach innen autoritärer und repressiver Staat eine denkbare Antwort. So gesehen stehen Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit nicht für sich selber. Sie verweisen auf etwas anderes. Sie sind Symptome, Ventile, Anzeichen für soziale Verwerfungen und Identi- [Seite der Druckausg.: 53] tätsprobleme der Gesellschaft, die sich grundsätzlich auch anders Ausdruck verschaffen können. Die biographische Jugendforschung hat vielfache Belege dafür erbracht, daß es keine zwangsläufige, ja noch nicht einmal wahrscheinliche Wege in rechtsextreme Karrieren gibt. Dieser Prozeß ist ebenso offen wie etwa die wankelmütigen Optionen der Figur des "Protestwählers", der diesmal Rechtsaußen wählt, das nächste Mal zu Hause bleibt, bevor er beim dritten Mal dann doch wieder - widerwillig - das Kreuz bei den demokratischen Parteien macht. Wenn daher von einer eher lockeren "Vergesellschaftung" rechter Deutungsmuster auszugehen ist, dann verweisen sie zurück auf den grundlegenden Zusammenhang eines krisenhaften Zusammentreffens von sozialer Ungleichheit und Ethnisierung. Die defensive Struktur der gegenwärtigen Bemühungen "gegen rechts" können in eine Offensive umgewandelt werden, wenn ein Konsens hergestellt wird, wofür solche Bemühungen stehen. Wer gegen rechts ist, muß angeben können, wofür er einsteht. Die traditionellen Antworten, man sei für Freiheit und Demokratie, für Toleranz und gegen Gewalt usw. reichen nicht aus. Positive Anknüpfungspunkte heute müssen vom Zusammenhang von sozialer Ungleichheit und Ethnisierung ausgehen. Fragen nach sozialer Gerechtigkeit und des demokratischen Miteinanders in der sozial polarisierten, multikulturellen Gesellschaft stehen somit im Zentrum aller Bemühungen "gegen rechts". [Seite der Druckausg.: 54 = Leerseite] © Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | März 2003 |