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Werner Bergmann
Antisemitische und fremdenfeindliche Einstellungen im vereinten Deutschland


Wenn man die Verbreitung und das gesellschaftliche Gewicht von Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeit zu erfassen sucht, kann man verschiedene Phänomene analysieren: die Bevölkerungsmeinung, die Haltung der Eliten, die Medienberichterstattung, gewalttätige Übergriffe und Propaganda, den staatlichen Umgang mit Juden und Ausländern bzw. mit Antisemiten/Rassisten in Politik, Justiz und Erziehungswesen, die Ideologie und die Aktivitäten rechtsextremer Organisationen und anderes mehr. Je nachdem, was man zum Gegenstand der Analyse macht, wird auch der Befund anders ausfallen. Ich werde mich im folgenden auf die Einstellung der Bevölkerung zu Juden und Ausländern und nur am Rande auf die offenen, z.T. gewalttätigen Aktionen beziehen. Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeit werden je für sich behandelt, da beide zwar hoch korrelieren, sich jedoch m.E. in ihrer Motivstruktur, ihrem Verbreitungsgrad und in ihrer öffentlichen Akzeptanz sehr voneinander unterscheiden:

1) Motive - Die Ablehnung von Juden steht in Deutschland heute ganz im Kontext der Einstellung zum Nationalsozialismus und zur deutschen Geschichte, es geht dabei um Probleme von Schuld, Verantwortung und Wiedergutmachung und nicht, wie im Fall der Arbeitsmigranten, um Fragen der Teilhabe an staatsbürgerlichen Rechten und sozialstaatlicher Versorgung oder um kulturelle Fremdheitsgefühle. Ein neuer deutscher Nationalismus würde die Ablehnung beider Gruppen verstärken, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen. Im Rechtsextremismus treten Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeit stets gekoppelt auf, sie haben dort aber unterschiedliche Funktionen: die Juden werden als politisch einflußreiche Gruppe bekämpft, die auch hinter dem Kampf des Staates und der Presse gegen die Rechten steht, während "die Ausländer" als Konkurrenten das ak-

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tuelle, konkrete Feindbild liefern. Gegen die bürgerliche, sozial integrierte Gruppe der Juden bestehen eher Vorurteile in Richtung zuviel Einfluß und Finanzkraft, während gegenüber den Arbeitsmigranten und Asylbewerbern, die den Arbeitsmarkt eher "Unterschichten", eine Vorurteilsstruktur erkennbar ist, die dem negativen Bild des Proletariers entspricht (faul, laut, viele Kinder).

2) Verbreitung - Antisemitismus und Ausländerfeindlichkeit sind unterschiedlich weit verbreitet. Dabei gilt, daß Antisemiten durchgängig auch ausländerfeindlich sind, sozusagen einen harten ideologischen rechten Kern bilden, während die Ablehnung von bestimmten Einwanderergruppen und von Zuwanderung generell häufig keine Ablehnung von Juden einschließt und ideologisch weniger klar abgrenzbar ist (zu den Zahlen s.u.).

3) Akzeptanz - Die Akzeptanz antisemitischer und ausländerfeindlicher Meinungen und Vorfälle ist in Politik, Öffentlichkeit und Bevölkerung sehr unterschiedlich. Während antisemitische Äußerungen tabuisiert sind und sehr leicht skandalisiert werden können, gilt dies für Fremdenfeindlichkeit nicht in gleichem Maße.

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1. Antisemitische Einstellungen bei Ost- und Westdeutschen

Seit Mitte der fünfziger Jahre ist ein langsamer Rückgang antijüdischer Einstellungen in der westdeutschen Bevölkerung festzustellen. Dieser geht allerdings nur zum kleineren Teil auf ein Umlernen in der älteren Generation zurück, den größeren Anteil daran haben die nachwachsenden, bereits in der Bundesrepublik sozialisierten Generationen, die nur zu einem Teil diese Vorurteile erworben haben. Hier wird ein Trend erkennbar, der sich bis heute fortsetzt. Generations- und Bildungseffekte wirken heute im Unterschied zur NS-Zeit in Richtung einer Ablehnung antijüdischer und fremdenfeindlicher

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Vorurteile: je jünger und besser ausgebildet jemand ist, desto häufiger lehnt er diese ab. [Vgl. zu einer Gesamtdarstellung der westdeutschen Entwicklung bis 1989: Werner Bergmann und Rainer Erb: Antisemitismus in der Bundesrepublik Deutschland. Ergebnisse der empirischen Forschung von 1946 bis 1989, Opladen 1991.]

Bei allen methodischen Unterschieden ermittelten mehrere Antisemitismus-Studien seit den späten achtziger Jahren einen Anteil von etwa 12-16% Antisemiten in der westdeutschen Bevölkerung, der sich sehr ungleich über die Altersgruppen verteilte. Lag der Anteil in den jüngeren Generation der 18-44jährigen bei 6%, so stieg er treppenartig bei den 45-54jährigen auf 10%, bei den über 65jährigen auf 26% an. Innerhalb dieser 15% ließ sich ein harter Kern vehementer Antisemiten von ca. 6% ausmachen. Neben dem Alter spielte die Bildung eine zentrale Rolle: während 20% mit Hauptschulabschluß antisemitische Einstellungen zeigten, waren es nur 5% mit Abitur. Als dritter Erklärungsfaktor ist die politische Orientierung zu nennen, die allerdings erst sehr weit rechts einen sehr engen Zusammenhang mit Antisemitismus aufweist. SPD- und CDU-Wähler unterscheiden sich in diesem Punkt noch nicht sehr stark. Alle anderen Faktoren - Einkommen, Berufsgruppe, Geschlecht, Wohnortgröße, Konfession - besitzen kaum Erklärungskraft. Dies bedeutet, daß antisemitische Einstellungen anders als vor 1945 keine spezifischen sozialen Trägerschichten mehr in der Bundesrepublik besitzen, wenn man einmal von den marginalisierten rechtsextremen Organisationen absieht.

In dem Maße, wie die noch in den Nationalsozialismus aktiv verstrickte Generation stetig abnimmt, gleichen sich die nachfolgenden Generationen in ihrem Einstellungsprofil an, so daß der Kohorteneffekt seinen dominierenden Einfluß zu verlieren beginnt. Vor allem sind die Differenzen zwischen den Altersgruppen bis 50 Jahre heute nur noch gering. Für die Westdeutschen ergibt sich für die 18-50jährigen das Bild eines Einstellungssockels, der offenbar nicht weiter abschmilzt.

Für die DDR gab es vor 1990 keine Antisemitismus-Studien, so daß wir nicht wissen, in welchen Phasen und durch welche Faktoren sich

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ein Rückgang antisemitischer Vorurteile ergeben hat. Es gab jedoch bereits vor der Wende empirische Befunde für die Existenz eines genuinen DDR-Rechtsextremismus unter Jugendlichen. 1988 fand das Zentralinstitut für Jugendforschung in Leipzig heraus, daß ungefähr 10-15% der Jugendlichen mit der Ideologie des Nationalsozialismus sympathisierten.

Bereits Ende 1990 belegten zwei repräsentative Umfragen, daß die Ostdeutschen sich in allen Vorurteilsdimensionen als weniger antisemitisch erwiesen als die Westdeutschen. [Eine Umfrage des American Jewish Committee vom 1.-15.10.1990, vgl. David A. Jodice: United Germany and Jewish Concerns. Attitudes Toward Jews, Israel, and the Holocaust, American Jewish Committee 1991; und eine Umfrage des Instituts für Soziologie an der Universität Erlangen-Nürnberg von Oktober bis Dezember 1990, Reinhard Wittenberg, Bernhard Frosch und Martin Abraham: Antisemitismus in der ehemaligen DDR, in: Tribüne 30, Heft 118,1991, S. 102-120.]
Eine vergleichende Studie kam Ende 1991 auf ein West/Ost-Verhältnis von 16% zu 4% Antisemiten, ein m.E. etwas zu positives Bild für die Ostdeutschen, von denen immerhin in dieser Studie 11% "Juden" als unsympathisch bezeichneten (West: 16%). [Emnid-Institut: Antisemitismus in Deutschland, Repräsentative Umfrage im Auftrag des "Spiegel", Bielefeld 1992.] Neueste Umfragen haben diese Ergebnisse tendenziell bestätigt und auch gezeigt, daß diese Einstellungsunterschiede generell für die Haltung zum Zweiten Weltkrieg und zum Nationalsozialismus gelten (Forsa 1994), die seit 1945 in beiden Teilen Deutschlands eng mit der Haltung gegenüber Juden verknüpft sind. [Emnid-Institut: Die gegenwärtige Einstellung der Deutschen gegenüber Juden und anderen Minderheiten, durchgeführt im Auftrag des American Jewish Committee, Bielefeld 1994 (MS); Forsa-Umfrage im Auftrag "Die Woche": Die Deutschen und der Nationalsozialismus, Mai 1994 .]
Bei den Ostdeutschen ist durchgängig eine entschiedenere Ablehnung des Nationalsozialismus, ein genaueres Wissen über ihn und eine geringere Neigung zur Exkulpation zu finden. Die einzige Einstellungsdimension, in der die Ostdeutschen sich nicht positiv von den Westdeutschen abheben, ist ihre Haltung zu Israelis und zum

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Zionismus, wo sich die jahrzehntelange antiisraelische Politik und Propaganda der DDR-Führung negativ ausgewirkt hat.

Wie in Westdeutschland erweisen sich Generationszugehörigkeit, Bildung (bei den Jugendlichen auch Bildung der Eltern) und politische Orientierung als die entscheidenden Einflußfaktoren für die unterschiedliche Ausprägung des Antisemitismus. Die Altersverteilung der Antisemiten glich 1990 der in Westdeutschland, wenn auch die Differenzen zwischen den Generationen kleiner waren. Wie im Westen haben bei den über 65jährigen antisemitische Einstellungen stärker überlebt als bei den Jüngeren, allerdings mit einer charakteristischen Abweichung: in der Altersgruppe der 18-29jährigen, deren Sozialisation wesentlich in die achtziger Jahre fiel, in der die offiziellen Mythen und Propagandaformeln der DDR bei den Jugendlichen zunehmend auf Skepsis und Ablehnung stießen, war 1990 ein leichter Anstieg zu erkennen. Hier deutete sich bereits eine Entwicklung in der ostdeutschen Jugend an, die ab 1991 klarer hervortreten sollte.

Weshalb haben nun in der DDR antisemitische Einstellungen deutlicher abgenommen als in Westdeutschland. Drei mögliche Antworten drängen sich auf:

1) Das Angebot einer dogmatischen Ideologie, zu deren festem Bestandteil der Antifaschismus gehörte, kann ihr entgegenstehende Vorurteile und Weltanschauungsreste wirksamer zum Verschwinden bringen als das breite und offene Ideologieangebot einer pluralistischen Gesellschaft, auch wenn diese Nationalsozialismus und Rechtsextremismus ablehnt. Zumindest für die Aufbaugeneration der DDR dürfte gelten, daß sie einen humanistisch geprägten Antifaschismus mit Überzeugung vertritt und deshalb Antisemitismus und Rechtsextremismus grundsätzlich ablehnt. Wahlanalysen liefern Belege für meine These.

2) Die Staatsdoktrin der DDR behandelte Antisemitismus und Neofaschismus als Problem kapitalistischer Länder und sprach die eigene Bevölkerung von der historischen Verantwortung für den Faschismus frei, was diese selbst glaubte. Nach den Worten des Schriftstellers Stephan Hermlin lebten manche in der Annahme, "die Hälfte

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der deutschen Bevölkerung sei in den Jahren der Naziherrschaft antifaschistisch gewesen". Diese Entlastung scheint zu erklären, weshalb die Ostdeutschen weniger antisemitisch sind und einer Erinnerung an den Holocaust weniger ablehnend gegenüberstehen, da sie sich Fragen der Mitschuld und Verantwortung nicht zu stellen brauchten, die m.E. bei den Westdeutschen heute ein wesentliches Motiv für Antisemitismus darstellen.

3) Mit dem deklarierten Antifaschismus war eine ständige Beschäftigung mit dem Antisemitismus überflüssig geworden. Damit war auch eine Tradierung antijüdischer Stereotypen kommunikativ blockiert, während in Westdeutschland durch die recht intensive Beschäftigung mit dem Nationalsozialismus natürlich auch nolens volens Vorurteile über "die Juden" transportiert wurden. Sehr gut läßt sich dies am religiösen Antisemitismus erkennen, der in der DDR zusammen mit der Entkirchlichung der Gesellschaft so gut wie verschwunden ist. In pluralistischen Gesellschaften läßt sich eine derartige "Themenpolitik" natürlich nicht durchsetzen, so daß selbst eine kritische Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus immer auch Abwehr und Gegenmeinungen erzeugt - eben den "Revisionismus".

4) Als vierten Aspekt könnte man noch hinzunehmen, daß Ost- und Westdeutsche von einem je spezifischen historischen Hintergrund aus urteilen: die größere Zustimmung zur Wiedergutmachung mag in Ostdeutschland darauf beruhen, daß sich die DDR-Regierung Jahrzehnte gegen derartige Zahlungen gewehrt hat, während die Westdeutschen die Wiedergutmachungsverpflichtungen als erfüllt ansehen und weiteren Verpflichtungen eher ablehnend gegenüberstehen. Während die Ostdeutschen den Forderungen nach der weiteren Verfolgung von NS-Verbrechern aufgeschlossen gegenüberstehen, befürworten sie die Verbote von antisemitischen Gruppen aus ihrer Erfahrung staatlicher Repression weniger häufig, obwohl sie Antisemitismus als ernstes Problem wahrnehmen. Diese Tolerierung könnte ein Hinweis darauf sein, daß bei Ostdeutschen der Antisemitismus primär als Bestandteil des "Nazi-Faschismus" abgelehnt wird, daß aber moderne Formen des Vorurteils und der Diskriminierung weni-

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ger kritisch gesehen und deshalb auch nicht aktiv bekämpft werden. Die Verbreitung fremdenfeindlicher Einstellungen und alltägliche Zurücksetzungen von "Ausländern" deuten auf die zwanglose Koexistenz eines historisch fundierten Anti-Antisemitismus mit gegenwärtiger Xenophobie hin.

Während die Umfragen der Gesamtbevölkerung belegen, daß zwar deren Besorgnis über ein Anwachsen von Antisemitismus seit 1990 zugenommen hat, daß die Einstellungen aber stabil geblieben sind, so zeigen Jugendstudien in den neuen Ländern, die auch die Altersgruppen ab 14 Jahren einbeziehen, zwischen 1990 und 1993 eine negative Einstellungsentwicklung. [Peter Förster, Walter Friedrich, Harry Müller und Wilfried Schubarth: Jugend Ost: Zwischen Hoffnung und Gewalt, Opladen 1993; Dietmar Sturzbecher, Peter Dietrich und Michael Kohlstruck: Jugend in Brandenburg '93, Brandenburgische Landeszentrale für politische Bildung, Potsdam 1994 .]
Antisemitische Vorgaben finden bei den ostdeutschen Jugendlichen mit 10-20% eine unerwartet hohe Zustimmung, die noch übertroffen wird von fremdenfeindlichen Aussagen (40%). Auf eine negative Entwicklung weist hin, daß es die jüngsten, nämlich die 14-18jährigen sind, die ein beachtliches antisemitisches Potential zeigen: 14% stimmen dem Statement "Die Juden sind Deutschlands Unglück" zu, dies taten nur 5% der 18-20jährigen und nur 1% der 25-26jährigen (zum Vergleich: im Dezember 1992 stimmten in der Altersgruppe der 14-18jährigen in Schleswig-Holstein 5,1% einer ähnlichen Vorgabe zu. Parallel läßt sich seit 1988 auch eine positivere Bewertung des Nationalsozialismus in dieser Kohorte erkennen (Schüler: 1988: 12%, 1990: 13%, 1992: 25%, Lehrlinge: 15%, 20%, 37%). Das antisemitische Potential läßt sich über die deutliche Bildungs- und Geschlechterdifferenz sowie nach der politischen Orientierung und Ortsgröße noch genauer eingrenzen: es sind die männlichen Lehrlinge in kleineren Städten und Gemeinden, die sich ausgeprägt antisemitisch äußern (33% lehnen Juden ab, weibliche Lehrlinge: 10%), bei den Schülern der 11./12. Klassen waren es 16% - Mädchen 4%). Bei der politischen Selbsteinstufung sind es die nach rechts tendierenden Jugendlichen, die am häufigsten diesem Statement zustimmen. Der für antisemitische Einstel-

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lungen belegte Trend zeigt sich auch bei rechtsextremen Orientierungen, Fremdenfeindlichkeit und Gewaltbereitschaft unter ostdeutschen Jugendlichen, wobei dort die Ablehnung von Ausländern mit ca. 40% weit höher ist als die von Juden. Faßt man die Ergebnisse dieser Jugendstudien und der oben zitierten Bevölkerungsumfragen zusammen, so kann man sagen, daß der Antisemitismus in der Bevölkerung als ganzer nicht an Bedeutung gewonnen hat, daß er aber in einer Subpopulation, nämlich der Jugend, insbesondere bei wenig gebildeten, handarbeitenden und rechtsorientierten Männern, eine größere Verbreitung und Radikalisierung erfahren hat.

Die Ursachen für die besondere Anfälligkeit der ostdeutschen Jugend sind vor allem in den tiefgreifenden und krisenhaften Transformationsprozessen in den neuen Ländern zu suchen, die zu einer radikalen Neuorientierung zwingen. Hinzu kam, daß dieser Transformationsprozeß zeitlich mit einer hitzigen öffentlichen Debatte über Fragen von Asyl und Einwanderung einherging, die den Jugendlichen im Osten ein Ziel für ihre Gewaltaktionen anbot, mit denen sie den vermeintlichen Willen der gesamten Bevölkerung zu erfüllen meinten.

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2. Fremdenfeindlichkeit

Ende der siebziger Jahre kam es in der Bundesrepublik sowohl zu einem tiefgreifenden Einstellungswandel in der Bevölkerung (von 1978 bis 1982 stieg der Anteil, der sich gegen den Aufenthalt von Gastarbeitern, aussprach von 39% auf 68%) [Aus Daten der Institute Infas und Emnid stellte "Der Spiegel" (1982, Heft 37) für das Statement Gastarbeiter sollten "wieder in ihr Land zurückkehren" eine Zeitreihe zusammen, die einen kontinuierlichen Anstieg für diesen Zeitraum belegt: 1978: 39% Ja-Antworten; 1980: 48%; 1981: 66% und 1982: 68%.] als auch zu einem Umschalten der Politik von einem "Wettlauf der Integrationskonzepte" zu einem "Wettlauf um eine Begrenzungspolitik". Man kann mit Klaus J. Bade von einem dramatischen Stimmungsumbruch und einem "Wandel von einer Aufnahme- zu einer Art Abwehrgesellschaft" sprechen. In den Jahren 1980/81 gab es auch erste Fälle

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rechtsextremer Gewalt gegen Asylbewerber, Türken und Juden, die allerdings nicht Seriencharakter annahmen.

Wie ist diese "Wende in der Ausländerpolitik" und in der öffentlichen Stimmung zu erklären? Ich kann hier nur einige Stichworte geben:

1) Eine neue Phase der Modernisierung verbunden mit hoher und anhaltender Arbeitslosigkeit hat die Bevölkerung seit Beginn der achtziger Jahre verunsichert und Teile "abgehängt" (Stichwort: Zweidrittel-Gesellschaft, neue Armut). In dieser Verschärfung der sozialen Ungleichheit liegt eine Ursache von Unzufriedenheit und Bedrohungsgefühlen, die sich typischerweise bei älteren, bei weniger gut ausgebildeten und wirtschaftlich besorgten Bürgern finden. Es ist deshalb wohl eher ein rapider sozialer Strukturwandel als ein ideologischer Rassismus als Nährboden für Ausländerfeindlichkeit und Rechtsextremismus anzusehen.

2) Es wird nun allen deutlich, daß das bisher präferierte Saisonarbeiter-Modell gescheitert ist, daß sich in Deutschland große Einwandererminoritäten gebildet haben, ohne daß entsprechende politische und institutionelle Vorkehrungen getroffen worden wären. Bade macht die lange "anhaltende politische Perspektivlosigkeit im Gesamtbereich von Migration, Integration und Minderheiten" mitverantwortlich für die "Eskalation der Fremdenfeindlichkeit". [Klaus J. Bade: Ausländer, Aussiedler, Asyl in der Bundesrepublik Deutschland, Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 1992, S. 22.] Die Bevölkerung sieht hier einen Kontrollverlust der Politik, was günstige Voraussetzungen für Protestverhalten (Wahl, rechte Bewegungen) schafft.

3) Seit der 1980/81 durch Horrorzahlen verzerrten Asyldiskussion wurde die ganz anders gelagerte Asylthematik in der öffentlichen Diskussion mit der Frage der in Deutschland lebenden Arbeitsmigranten zu einer allgemeinen "Ausländerfrage" konfundiert und zugleich zum bevorzugten Gegenstand des politischen Streitens. Der Zuwanderer wird zum "unerwünschten Ausländer" erklärt und einer verunsicherten Öffentlichkeit als die eigentliche Ursache für die be-

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stehenden sozialen Probleme präsentiert. Die Politiker selbst lieferten die Stichworte ("das Boot ist voll", "Scheinasylanten") für ein resonanzbereites Publikum. D.h. die Ausländerfeindlichkeit ist in ihren Ausschlägen nach oben partiell wahltaktisch provoziert und über die Medien multipliziert worden.

4) Seit Ende der siebziger Jahre haben rechtsextreme und populistische Parteien und Wählergemeinschaften das "Ausländerthema" besetzt. Dies führt typischerweise dazu, daß sich vor allem die CDU/CSU, aber partiell auch die FDP und SPD, um die Themen und Wähler der Rechtsparteien bemühen und sich dabei ein Stück weit selbst nach rechts bewegen.

5) Man muß zur Beurteilung von Politik und Stimmungslage aber auch den internationalen Kontext einbeziehen. Seit Mitte der achtziger Jahre konnten in vielen europäischen Ländern rechtspopulistische Parteien vor allem mit dem Thema "Ausländer" Wahlerfolge erringen, indem sie sich als "Anwälte" der unteren sozialen Schichten gegenüber denen "oben" präsentierten.

Die Situation nach der Vereinigung der beiden deutschen Staaten

Die wirtschaftlichen und mentalen Probleme der deutschen Einigung haben zwischen 1991 und 1993 nicht zu der befürchteten nationalen Euphorie, sondern in eine Depression geführt, in der die Grenzen politischer Handlungsfähigkeit, aber auch der westdeutschen Wirtschaftskraft sichtbar geworden sind. Nachdem das 1989 in Westdeutschland virulente "Asylthema", verknüpft mit einem aufkommenden Rechtsextremismus, im Einigungsprozeß zunächst ganz in den Hintergrund geriet und die rechtsradikalen Parteien 1990 blamable Ergebnisse - vor allem im Osten - erzielten, änderte sich 1991 die Situation, als die politischen Parteien das "Asylthema" in ihrem Dauerstreit über die Änderung des Grundgesetzartikels 16 wieder auf die politische Agenda setzten. Das "Asylthema" und der Rechtsextremismus" rangierten schließlich in der Bevölkerung im Oktober 1992 auf den Plätzen eins und zwei ihrer Besorgnisse (Institut für Demoskopie

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1992: 50% und 44%). Die Politiker haben aber zugleich den Wählern, die ihrerseits mehrheitlich für eine restriktivere Gesetzgebung waren, [Bereits 1990 gibt es in West- und Ostdeutschland eine Mehrheit für ein restriktiveres Asylgesetz (60% bzw. 53%), die über 69% bzw. 64% im Jahre 1991 schließlich Ende 1992 im Westen und Osten fast gleichgroß wird: 72% bzw. 70% (Umfragen des Instituts für Demoskopie).] bei ihren Querelen den Eindruck vermittelt, zur Lösung des Problems unfähig zu sein. Fast 2/3 der Bevölkerung hatten 1991/92 den Eindruck, "die Politiker würden nicht ernsthaft versuchen, das Problem zu lösen". Sicherlich lag in dieser Kombination von wahrgenommenem Problemdruck und vermuteter Lösungsunfähigkeit eine Ursache für die brisante Stimmung im Sommer und Herbst 1992 (vgl. Bundeskanzler Kohls Wort vom "Staatsnotstand").

Die rechtsradikalen Organisationen, die sich seit Öffnung der Mauer mit dem Aufbau lokaler Gruppen in Ostdeutschland beschäftigten, konnten mit den Asylbewerbern den politisch definierten "Sündenbock" angreifen und in ein Handlungsvakuum stoßen. Sie blieben oft in ihren Aktionen unbehelligt oder gewannen sogar Zuspruch beim lokalen Publikum. Es existierte für diese Gruppen eine günstige politische Gelegenheitsstruktur, die sie konsequent nutzten. Es folgte eine Welle von Nachahmungstaten, deren Akteure häufig nicht zum Kreis des organisierten Rechtsextremismus gehörten. Politik und Polizei ließen es an deutlicher Gegenwehr fehlen. Erst als die Ereignisse von Rostock, von Sachsenhausen und schließlich die Morde von Mölln den innen- und außenpolitischen Schaden unübersehbar werden ließen, kam es zu einer härteren Politik gegen die Gewalttäter und zugleich zu einer Protestbewegung in der Bevölkerung in den letzten drei Monaten des Jahres 1992, die die weitere Gewalteskalation bremsten, wenn auch das Niveau rechtsextremer Straftaten weiterhin hoch blieb.

Wie paßt nun diese Eskalation der Fremdenfeindlichkeit zu dem Befund, daß sich die Einstellung zu Ausländern in den achtziger Jahren stetig verbessert hatte? Hat seit 1990 hier ein radikaler Einstellungswandel stattgefunden? Dafür spricht auf der Ebene der Gesamtbe-

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völkerung nichts, [Das Institut für Demoskopie fragte im September 1991 und Nov./Dez. 1992 nach der sozialen Distanz zu bestimmten Gruppen: die Ablehnung von "Ausländern" als Nachbarn ging in diesem Zeitraum in Westdeutschland von 19% auf 12%, und in Ostdeutschland von 30% auf 17% zurück. Am schärfsten und mit steigender Tendenz abgelehnt wurden Rechtsextremisten mit 77% bzw. 79%.] die Umfragedaten zeigen allerdings, daß die Gewaltwelle und die hitzige öffentliche Diskussion in Westdeutschland zu einer Polarisierung der Meinungslager geführt hat. [Diese These vertritt Erich Wiegand: Zunahme der Ausländerfeindlichkeit?, in: ZUMA-Nachrichten 31, Jg. 16, Nov. 1992.] Dies erhöht -auf beiden Seiten - die Bereitschaft zur Meinungsäußerung und zum Eintreten für die eigene Position, ist also ein Mobilisierungseffekt und kein Meinungswandel. In Ostdeutschland, wo zu Beginn der neunziger Jahre das Alter der Befragten kaum einen Zusammenhang mit der Ausländerfeindlichkeit aufwies, ist seitdem eine dramatische Einstellungsentwicklung zu erkennen: es sind nun die jüngeren Kohorten der 14-34jährigen, die sich am häufigsten ausländerfeindlich äußern und ja auch das Gros der Gewalttäter stellen.

Längerfristige Meinungstrends und Strukturen der achtziger bis neunziger Jahre

Die Einstellungen zu Ausländern verfestigen sich nicht zu nationalen Stereotypen, sondern zeigen sowohl eine gewisse situative Labilität als auch ein widersprüchliches Bild. So stimmen die Befragten z.T. einander widersprechenden Statements zu: der sehr weit verbreiteten Einsicht, daß Deutschland ausländische Arbeitskräfte braucht, steht die Ansicht gegenüber, es gäbe in Deutschland "zu viele Ausländer". Labilität und Widersprüchlichkeit deuten darauf hin, daß bei den Befragungen nicht so sehr tiefsitzende Einstellungen ermittelt werden, sondern daß sich in den Antworten die Zustimmung zu gesellschaftlich angebotenen Vorstellungen und die Reaktion auf aktuelle Problemlagen ausdrückt. D.h. die Meinungsäußerungen haben den Cha-

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rakter von politischen Forderungen, die der Befragte damit zwischen den Wahlen artikuliert.

Zunächst ist grundsätzlich festzuhalten, daß trotz des "catch-all"-Begriffs "Ausländer" in der Bevölkerung sowohl zwischen den verschiedenen Nationalitäten der "Gastarbeiter"bevölkerung wie auch zwischen den bereits länger hier lebenden Ausländern und Asylbewerbern unterschieden wird. So stuften im Dezember 1991 30% der Deutschen die hier lebenden Türken als unsympathisch ein, die Asylbewerber je nach Herkunftsregion hingegen zu 43-49% (Emnid 1992). Auf die Frage, welche Gruppe sich in einer Weise benimmt, die Feindseligkeit hervorruft, nannten Anfang 1994 40% die "Zigeuner", 22% die Türken, 18% Araber, 11% Afrikaner und 8% die Juden (Ost- und Westdeutsche nannten sich gegenseitig jeweils zu 8 bzw. 9%). Geiger hat in diesem Zusammenhang von einer hierarchischen, "kulturrassistischen" Stufung gesprochen. [Klaus F. Geiger: Einstellungen zur multikulturellen Gesellschaft - Ergebnisse von Repräsentativbefragungen in der Bundesrepublik, in: Migration 9/1991, S. 11-48.]
Dies trifft sicher einen Aspekt. Andererseits werden vor allem die größten Einwandergruppen negativ bewertet: so in Deutschland die Türken (in Ostdeutschland auch die Polen), in Frankreich die Nordafrikaner usw. Dahinter dürfte sich eher ein Konkurrenzaspekt als Kulturrassismus verbergen. [In ihrer Jugendstudie für Brandenburg 1992 kommen Dietmar Sturzbecher und Peter Dietrich (Jugendliche in Brandenburg - Signale einer unverstandenen Generation, in: Aus Politik und Zeitgeschichte B 2-3/93, S. 33-43) ebenfalls zu dieser Schlußfolgerung: die Fremdenangst liegt im Konkurrenzverhältnis begründet. Der rassistische Rekurs auf die Andersartigkeit und Unvereinbarkeit dient zur Begründung des Ausschlusses der Ausländer von dieser Konkurrenz um knappe Ressourcen (Wohnung, Arbeitsplatz), ist aber nicht die Ursache der Ablehnung.]

Man muß zwischen Einstellungen gegenüber den bereits im Lande lebenden Ausländern und gegenüber weiterer Zuwanderung unterscheiden. Die Westdeutschen lehnten nach den ALLBUS-Daten von

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1992 Asylbewerber häufiger ab als die Ostdeutschen, [Dabei gibt es in den Altersgruppen eine interessante Ost-West-Differenz: während es in Westdeutschland die ältere Generation ist, die Asylbewerbern gegenüber feindlich eingestellt ist, so ist es im Osten die jüngere (ebd.).] die andererseits eine höhere Ablehnung der in Deutschland lebenden ethnischen Minderheiten zeigen (vor allem die Jugendlichen). Die große Mehrheit der Deutschen reagiert auf die heutige Einwanderungssituation mit Abwehr. 1989 waren 3/4 der westdeutschen Bevölkerung der Ansicht, es gäbe zu viele Ausländer in Deutschland, Ende 1992 sahen 67% der Westdeutschen und 77% der Ostdeutschen zu viele Ausländer in Deutschland. [Es kommt hier allerdings sehr auf die Fragestellung an: Macht man die Vorgabe "es gibt zu viele Ausländer", dann ist die Zustimmung zu diesem Item sehr hoch (72%, Emnid-Institut, Zeitgeschichte, Bielefeld 1989, Tab. 39), macht man, wie das Institut für Demoskopie, zunächst die Vorgabe, daß mehr als vier Millionen Ausländer in der Bundesrepublik leben und fragt dann nach der Zustimmung oder Ablehnung, so ist die Ablehnung des Status quo sehr viel niedriger: 1989 betrug sie 45%, fast 1/3 der Befragten äußerten sich unentschieden, während dies bei der Emnid-Frage nur 1% waren.]
Diese Abwehrhaltung wird einerseits mit einer teils biologisch-rassischen, teils mit einer kulturell bedingten Unvereinbarkeit von fremden Menschengruppen begründet, teils mit der Furcht, die Anwesenheit von Ausländern übe negative Wirkungen auf den Arbeitsmarkt (1991: 57%) und das System der sozialen Sicherung (1991: 66%) aus. Interessant ist dabei, daß die negativen Auswirkungen fast völlig auf gesamtgesellschaftlicher Ebene lokalisiert werden, während die Befragten seltener Auswirkungen für sich persönlich fürchten (Nur 18% der Befragten glaubten, ohne Ausländer ginge es ihnen persönlich besser.) Doch teilweise widersprechen die Befragten sich selbst und halten die Anwesenheit von Ausländern für einen ökonomischen Vorteil für die Bundesrepublik. [1990 hielt fast die Hälfte der Befragten die Anwesenheit von Ausländern für einen Vorteil, nur 19% eher oder eindeutig für einen Nachteil. Nach einer Ipos-Umfrage waren 1992 gar zwei Drittel der Westdeutschen der Meinung, die Wirtschaft brauche ausländische Arbeitskräfte, ein Drittel war nicht dieser Meinung. In Ostdeutschland war die Verteilung genau umgekehrt.]

Diese grundlegende Abwehrhaltung führt zu zwei sich - anscheinend - widersprechenden Forderungen: Abschottung bzw. Nichtgleich-

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stellung von Ausländern in Deutschland einerseits, Erleichterung, ja Forcierung von Integration andererseits.

In Umfragen finden sich Ende der achtziger Jahre große Mehrheiten für die Einschränkung des Asylrechts (1989: 83%) und gegen die Erweiterung von politischen Mitspracherechten für Ausländer (Ablehnung des kommunalen Wahlrechts: 1989: 72%), wobei hier die ablehnende Haltung der CDU eine wichtige Rolle gespielt hat. Anders sieht es in Fragen der Integration und des Umgangs mit den Ausländern im Lande aus. Hier plädiert eine deutliche Mehrheit für eine Erleichterung der Einbürgerung, ja möchte sie sogar erzwingen: 1989 waren 53% dagegen, daß Ausländer ihre Staatsangehörigkeit behalten können, 1993 stimmten 60% für die Möglichkeit der doppelten Staatsbürgerschaft für in Deutschland geborene Kinder von Ausländern (Die Woche, 4.3.1993). Emnid ermittelte im November 1994, daß nur 14% der Deutschen die Staatsbürgerschaft nach dem Abstammungsprinzip geregelt wissen will, hingegen 38% nach dem Geburtsort, und 44% nach der Aufenthaltsdauer (Spiegel 21.11.1994). Man gewinnt hier den Eindruck, die Bevölkerung sei bewußtseinsmäßig bereits viel weiter als die Politik.

Geiger hat diese integrative Einstellungskomponente (vielleicht etwas zu negativ) "Ablehnung der kulturellen Differenzen" genannt, d.h. eine Mehrheit der Deutschen erhebt sehr weitgehende Assimilationsforderungen: die Ausländer sollten sich "besser anpassen" und "wie Deutsche benehmen". Auch die Forderung, die Ausländer sollten unter sich heiraten, die ja eigentlich dem Konzept der Nichtvermischung von Völkern entspräche, findet starken Widerspruch (1990: über 60%.). D.h. man muß sich fragen, wieweit die biologisch-kulturell rassistischen Anschauungen nicht eher herbeigesuchte Begründungen für eine Ablehnung sind, die sich primär gegen eine Teilhabe von Zuwanderern am deutschen Wohlfahrtsstaat richtet. Ostdeutsche Jugendliche führten 1992 als Gründe, warum sie gegen Ausländer sind, primär die Befürchtung an, diese könnten auf Kosten der Deutschen gut leben und verschärften die Wohnungsnot und Arbeitslosigkeit (55-74%), nur 12% nannten eine rassistische Begründungen (minderwertig: 12%) oder konkrete Belästigungen (18%).

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Der Integrationsforderung entspricht, daß nicht nur grob diskriminierende Verhaltensweisen von einer sehr großen Mehrheit verurteilt werden, [Im ALLBUS 1990 sollten die Befragten angeben, wie sie es fänden, wenn ein Gastwirt sich weigert, in seinem Lokal Ausländer zu bedienen. 85% beurteilten es als "sehr oder ziemlich schlimm", 15% als "weniger oder überhaupt nicht schlimm". Für eine Bestrafung der Angriffe auf Asylbewerberunterkünfte votieren im Oktober 1991 84% der Westdeutschen, ein Jahr später sind es 90% (Ostdeutsche: 85% bzw. 86% - Institut für Demoskopie).] sondern daß insgesamt ausgrenzende oder diskriminierende Forderungen an "inländische Ausländer" seit 1980 langsam, aber kontinuierlich weniger Anhänger gefunden haben. Alle vier seit 1980 identisch wiederholten Items des ALLBUS: "Lebensstil besser anpassen", bei "knappen Arbeitsplätzen zurück", "keine politische Betätigung" und "Ehepartner unter sich suchen" verlieren zwischen 1980 und 1990 zwischen 15-21% an Zustimmung. Auch in zentralen Bereichen des Zusammenlebens wie in der Schule oder am Arbeitsplatz werden Koedukation von deutschen und ausländischen Schülern (1989: 72%) bzw. tarifliche Gleichbehandlung von der großen Mehrheit befürwortet.

Auf der Einstellungsebene kann also von einer Zunahme von Ausländerfeindlichkeit nicht gesprochen werden, im Gegenteil scheint das jahrzehntelange Zusammenleben zu einer Zunahme an ("repressiver") Toleranz geführt zu haben.

Die Abwehr von Einwanderung und eine negative Einstellung zu den hier lebenden Ausländern variiert sehr stark mit dem Alter und mit dem Bildungsniveau der Befragten. Unter den älteren Westdeutschen (über 60 Jahre) ist die Abwehr fast total (89% sagten 1989 es gäbe "zu viele Ausländer in Deutschland"), in der Generation unter 30 Jahre ist die Ablehnung deutlich niedriger, wenn sie auch immer noch bei 60% liegt. Noch krasser fällt die Differenz entlang des Bildungsniveaus aus, wobei hier der entscheidende Einschnitt zwischen Realschule und Gymnasium liegt. Zwar sind die Realschüler weniger ausländerfeindlich als diejenigen mit Hauptschulabschluß, doch sind hier die Differenzen relativ gering im Vergleich zum Einschnitt zwischen Realschulabgängern und Abiturienten (Emnid 1989: "Zu viele

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Ausländer?": HS mit Lehre: 83%, Realschule: 73%, Abitur/Uni: 47%). Die Bildungsdifferenzen spielen vor allem in den "Konkurrenzaspekten" eine dominierende Rolle. Nach Meinung der weniger Gebildeten verschärfen die Ausländer Arbeitslosigkeit und Wohnungsnot, mißbrauchen das soziale System der Bundesrepublik und sollten entsprechend nur begrenzt Aufenthalt in Deutschland bekommen. Wird dagegen nach Sympathien/Antipathien gegenüber in Deutschland lebenden Türken gefragt, dann gibt es diesen Bildungsbias nicht bzw. er verläuft dann eher zwischen Volksschulbildung und Mittlerer Reife. Zwei Interpretationen bieten sich an: entweder werden die Ausländer von den weniger Gebildeten eher als Konkurrenten um Arbeitsplätze und soziale Leistungen gefürchtet (Konkurrenzphantasien) oder es handelt sich um eine Differenz in der Aneignung universalistischer Normen, d.h. es könnte sich um eine tiefgreifende Differenz in der politischen Kultur handeln, die entlang von Bildungsniveaus verläuft.

Man kann - wie Klaus F. Geiger - die These vertreten, daß die Zunahme ausländerfeindlicher Einstellungen (etwa die beobachtete Einstellungsänderung 1981) nicht die Folge der ökonomischen Krisen sind, sondern der im öffentlichen Diskurs angebotenen politischen Deutungen dieser Krisen. Waren 1973 "die Scheichs" oder "die Araber" als Verursacher der Ölkrise ausgemacht, so wurde 1981/82 am häufigsten als Erklärung angegeben, es gäbe "zu viele Gastarbeiter". Einstellungsschwankungen wären demnach nur indirekt von ökonomischen Krisen abhängig, dahinter stehen medial vermittelte politische Konjunkturen. Sicher spielen die Deutungen von Krisen eine zentrale Rolle in der Suche nach den Verantwortlichen, doch scheint von 1966/67 an bis heute eine enge Verbindung zwischen der Wahrnehmung einer kritischen sozioökonomischen Lage und der Forderung nach einer Abwanderung ausländischer Arbeitskräfte zu bestehen. Parallele Zeitreihen zeigen, daß sich etwa zwischen 1978 und 1982 die Einstellungen zu Gastarbeitern und die Einschätzung der allgemeinen (nicht der persönlichen!) Wirtschaftslage im Gleichschritt verschlechterten: Hatten 1978 noch 60% gesagt, "die Gastarbeiter sollten für immer hierbleiben können", so waren es 1981 nur noch 46% und 1982 nur noch 42%, die Beurteilung der Wirtschafts-

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läge als "gut" sank von 68% im Jahre 1978, über 23% 1981 schließlich auf 20% im Jahre 1982 ab. [Es sind offenbar vor allem die Erwartungen über die wirtschaftliche Gesamtentwicklung, die die Einstellung zu den ausländischen Arbeitnehmern mitbestimmen: Wer eine Verbesserung erwartete, war 1981 deutlich weniger häufig ausländerfeindlich eingestellt (36%) als diejenigen, die eine Verschlechterung erwarteten (53%). Vgl. Dieter Just und Peter Caspar Mülhens: Ausländerzunahme: objektives Problem oder Einstellungsfrage?, in: Aus Politik und Zeitgeschichte B 25, Juni 1982, S. 35-38, hier S. 37.]
Diese Relation ist im Grunde auch zu erwarten, da die Anwesenheit von ausländischen Arbeitnehmern von den Deutschen von Anfang an unter wirtschaftlichen und arbeits-marktpolitischen Gesichtspunkten betrachtet wurde und bis heute so verstanden wird. D.h. in Krisensituationen ist der Rückgriff auf den Sündenbock "die Ausländer" zumindest eine "naheliegende" populistische Option, die nicht gewählt werden muß, die aber gewählt werden kann und auch gewählt wird.

Wenn man also annimmt, daß sich die soziale Ungleichheit in den kommenden Jahren eher noch verschärfen wird und die ethnischen Konflikte vor Ort ebenfalls zunehmen werden, so wird man für die Zukunft eher mit einer Zu- als einer Abnahme fremdenfeindlicher Einstellungen rechnen müssen.

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3. Antisemitische und fremdenfeindliche Übergriffe

Die relative Stabilität der Einstellungen kontrastiert natürlich mit dem, was wir in den letzten fünf Jahren an Gewalt gegen Ausländer und Juden erlebt haben. Doch zur Erklärung des neuen Phänomens der rechten Jugendgewalt trägt die Einstellungsanalyse nur partiell bei. Das Vorhandensein einer Einstellung läßt nur sehr begrenzt Rückschlüsse auf das Verhalten zu. Fremdenfeindliche, antisemitische und rechtsextreme Einstellungen sind wesentlich weiter verbreitet als diesbezügliche Gewaltbereitschaften, die wiederum verbreiteter sind als faktische gewalttätige Übergriffe.

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Sehr deutlich wird die Diskrepanz zwischen Einstellung und Verhalten sichtbar, wenn man die Altersverteilung rechtsextremer Einstellungen mit der Teilnahme an ausländerfeindlichen oder antisemitischen Aktivitäten in Beziehung setzt. Während rechtsextreme und antijüdische Einstellungen vor allem unter älteren Deutschen beiderlei Geschlechts verbreitet sind, treffen wir unter den Aktivisten fast ausschließlich junge Männer an. Die Analyse von 758 Urteilen gegen Personen, die seit 1991 an rechtsextremen Gewalttaten beteiligt waren, ergab, daß 78% der Täter zur Altersgruppe der 14-20jährigen gehörte, lediglich 3% waren älter als 30 Jahre, und nur 1% der Täter war weiblich. Von diesen Straftätern waren 9% entweder Mitglied oder hatten Kontakte zu rechtsextremen Parteien oder Organisationen, 30% gehörten zur Skinhead-Szene (Bundesamt für Verfassungsschutz 1994). Die Auswertung der Schul- und Berufsbildung ergab, daß wir es bei der Tätergruppe im wesentlichen mit unteren Bildungsschichten zu tun haben: 78% der Täter waren Hauptschüler, 10% Realschüler, von denen die Hälfte sich noch in der schulischen oder beruflichen Ausbildung befand, rund 29% besaßen keine abgeschlossene Berufsausbildung bzw. hatten sie mindestens einmal abgebrochen. D.h. wir haben es mit einem spezifischen Problem wenig gebildeter junger Männer, also letztlich mit einer randständigen, von Marginalisierung bedrohten Gruppe zu tun.

Die Untersuchungen zur Beteiligung an unterschiedlichen Formen politischen Protests haben mit dem Übergang zu den neunziger Jahren eine deutliche Zunahme von Gewalttoleranz und Bereitschaft zur Beteiligung an Gewalt in Deutschland offenbart, wobei die Gewalttoleranz bei Jugendlichen in den neuen Bundesländern höher liegt und in stärkerem Maße als im Westen bei Personen mit einer rechten politischen Orientierung auftritt. Während im Westen die Gewaltaffinität 1992 noch stärker auf der Linken zu finden ist (70% zu 52% auf der Rechten), ist im Osten die Beteiligungsbereitschaft an illegalen Aktionen bei den Rechten größer (84% gegenüber 71%). [Helmut Willems u.a.: Fremdenfeindliche Gewalt. Einstellungen, Täter, Konflikteskalation, Opladen 1993.]
Anfang der neunziger Jahre hat sich im Kontext der Einwanderung und

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Fremdenfeindlichkeit ein neues Gewaltpotential gebildet, das vor allem junge Männer mit niedrigem Bildungsniveau umfaßt und sich gegen schwächere Gruppen der Gesellschaft, vor allem gegen Zuwanderer richtet. D.h. wir haben es nicht nur mit einer Zunahme von Gewaltakzeptanz zur Durchsetzung politischer Ziele zu tun, sondern auch mit der Herausbildung eines neuen, rechten Gewaltpols von zum Teil sehr jungen Menschen, an dem sich kriminelle Jugendgewalt mit rechter politischer Orientierung verbindet. In dieser gewaltbereiten Jugendszene - vor allem im Osten - versuchen Neonaziorganisationen Mitglieder zu rekrutieren bzw. diese Jugendcliquen in rechte Netzwerke zu integrieren.

Ausländerfeindliche Einstellungen und Gewaltbereitschaft können noch nicht die Umsetzung in gewalttätiges Handeln erklären. Die Tatsache, daß in den neuen Bundesländern 1991-92 spektakuläre, oft tagelang andauernde Aktionen gegen Asylbewerberunterkünfte (Hoyerswerda, Rostock, Quedlinburg) stattfinden konnten und daß Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern relativ die meisten ausländerfeindlichen Aktionen zu verzeichnen hatten, liegt vor allem in der günstigen politischen "opportunity structure", die durch den weitgehenden Ausfall der Polizeiorgane vor allem auf "dem flachen Lande" und dem Umbau der Justiz rechte Gewalttäter begünstigte, da das Risiko gefaßt und bestraft zu werden gering war. Hinzu kam, daß die Unterbringung von Asylbewerbern in überforderten ostdeutschen Gemeinden zu lokalen Konflikten führte, die für gewaltbereite Jugendliche Aktionen gegen die Unterkünfte geradezu legitimierten (Fall Dolgenbrod) - Diese Gelegenheitsstruktur hat sich seit Ende 1992 verändert. Die Bevölkerung lehnt Gewalt gegen Ausländer oder ihre Häuser seitdem deutlicher ab, [Eine Bestrafung antisemitischer Täter wird heute von 90% (6% lehnen sie ab) gefordert. Die Ablehnung von Gewalt gegen Ausländer ist dagegen weit geringer: hier zeigten im Dezember 1991 27% der Westdeutschen und 13% der Ostdeutschen Verständnis für rechtsextreme Aktionen, allerdings sank diese Zustimmung im Angesicht des Rostocker Pogroms auf 16% bei Ost- und Westdeutschen ab (vgl. Emnid-Institut 1992, Institut für Demoskopie 1992). Die Bevölkerung ist im übrigen mit großer Mehrheit dafür, antisemitische Gruppen zu verbieten (80% im Jahre 1990), nur eine Minderheit von 12% sprach sich dagegen aus, unter den 18-29jährigen sogar nur 7% (vgl. Jodice 1991).] Organisationsverbote, koordi-

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nierte Ermittlungen, Durchsuchungsaktionen, zahllose Strafverfahren und hohe Strafen für ausländerfeindliche Straftaten haben in der rechten Szene Wirkung gezeigt. Entsprechend hat sich die Zahl der riskanten Gewalttaten 1993-94 verringert, während Propagandadelikte von 1993 auf 1994 nur leicht zurückgegangen sind und Volksverhetzungsdelikte sogar leicht zugenommen haben (1993:819,1994: 890 jeweils bis 15. Okt.).

Die Zahl der Gesetzesverletzungen mit rechtsextremem Hintergrund schwankte in den Jahren 1980 bis 1990 zwischen 1.300 und 1.900, wobei die sog. Propagandadelikte überwogen. Ein Anstieg läßt sich über diesen Zeitraum nicht erkennen, nur bei Gewalttaten steigen die Zahlen ab 1989 etwas an (1988: 191, 1989: 254, 1990: 308), doch explodierten die Zahlen seit 1991 (1.489) und erreichten 1992 mit 2.637 Gewalttaten einen Höhepunkt, von dem sie seitdem wieder abfallen (1993: 2.232, 1994: 1.102), aber immer noch weit über den Zahlen der achtziger Jahre liegen. Anteilsmäßig entfielen ca 1/3 der Taten auf Ostdeutschland, 2/3 auf den Westen, d.h. in Relation zur Bevölkerungszahl wurden im Osten überdurchschnittlich viele Gewalttaten begangen, vor allem in Mecklenburg-Vorpommern Brandenburg. Wurden "die Ausländer" seit 1991 zum Gegner Nr. l, so ist in jüngster Zeit hier ein Wandel hin zu diffusen Angriffszielen zu beobachten. Im Vergleichszeitraum 1993-94 nahm die Zahl der Gewalttaten mit fremdenfeindlicher Motivation um 50% ab (1.203 auf 611), während die "sonstigen" rechtsextremen Gewalttaten etwas anstiegen (320 auf 377). Typische Deliktformen der Jahre 1991-93, wie Tötungsdelikte, Brandanschläge und Landfriedensbruch sind 1994 sehr stark zurückgegangen, während der Rückgang bei Körperverletzungen und Sachbeschädigung geringer ausfällt. Sieht man sich neben den Gewalttaten noch die Gesetzesverletzungen insgesamt an, die vor allem im Bereich der Volksverhetzungen und Propagandadelikte weniger stark abgenommen haben als die Gewalttaten, dann zeigen sich hier die Wirkungen der polizeilichen und justiziellen Verfolgung, vor der man

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auf leichtere Deliktformen ausweicht. Diese Entwicklung deutet aber auch darauf hin, daß kollektive Gewaltexzesse, wie Angriffe auf Asylbewerberunterkünfte usw., wie sie für die Gewaltwelle 1991-92 typisch waren, seltener geworden sind und eher einer diffusen Alltagsgewalt in kleinen Gruppen Platz gemacht haben.

Angriffe auf jüdische Einrichtungen und antisemitische Propaganda haben stark zugenommen (1991: 367, 1992: 627, 1993: 656 1994: 1.366), sie lagen allerdings bereits 1985 so hoch wie 1991! Zeitversetzt gegenüber den fremdenfeindlichen Übergriffen erlebten sie 1992 einen starken Anstieg. Der Antisemitismus folgte also hier der xenophobischen Welle auf dem Fuße. Bei der genannten Fallzahl dominieren die Propagandadelikte (Schmier- und Plakataktionen), gefolgt von Beleidigungen und Gewaltandrohungen. [Die Zahl der gegen Juden gerichteten Gewalttaten nahm 1993 noch einmal leicht zu: 72 Fälle gegenüber 65 Fällen 1992. Die Zahl für 1994 ist 41. Der Anstieg der Gesamtzahl der Straftaten mit antisemitischer Ausrichtung 1994 ist u.a. auf eine geänderte Zählweise des BKA zurückzuführen. Auch ein geändertes Anzeigeverhalten und eine größere Aufmerksamkeit für diese Delikte dürften eine Rolle spielen .]
Tätliche Angriffe auf Juden sind - wie ja auch die Juden in Deutschland - selten: in den berichteten Fällen von Körperverletzung (7 Fälle) waren es zumeist nicht-jüdische Deutsche, die als Juden bezeichnet oder nach ihrer Einstellung zu Juden befragt, bei positiver Auskunft angegriffen wurden. Die Brand- oder Sprengstoffanschläge sowie andere Formen der Sachbeschädigung richten sich fast ausschließlich auf Mahnmale, Gedenkstätten oder jüdische Friedhöfe, d.h. zielen letztlich auf eine bilderstürmerische Umdefinition dieser Kunstwerke oder Einrichtungen und richten sich nicht so sehr - wie im Fall der Asylbewerberunterkünfte - gegen die zeitgenössischen jüdischen Gemeinden. Diese sehen sich allerdings telefonischen Drohungen und Schmähbriefen ausgesetzt. Eine 1990 von Alphons Silbermann unter deutschen Juden durchgeführte, allerdings nicht repräsentative Untersuchung weist jedoch eher auf den Ausnahmecharakter solcher Vorfälle hin. Von den befragten Juden hielt zwar ein nicht geringer Teil viele Deutsche für antisemitisch, doch hatte kaum einer persönlich

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Diskriminierungen am Arbeitsplatz oder in der Nachbarschaft erfahren. [Alphons Silbermann und Herbert A. Sallen: Juden in Westdeutschland. Selbstbild und Fremdbild einer Minorität, Köln 1992, S. 47.]

Bei der Beurteilung dieser Entwicklung sind einerseits der Wellencharakter des Auftretens, andererseits längerfristige Trends zu berücksichtigen. Die Monatsstatistik der Schändungen jüdischer Baulichkeiten und Friedhöfe für die Zeit von Januar 1992 bis Februar 1993 spiegelt sehr deutlich wider, wie die antijüdischen Aktionen den Phasen der ausländerfeindlichen Mobilisierung folgen und nach Rostock im Oktober bis Dezember 1992 die höchsten Zahlen aufweisen. Solche kurzfristigen Ausschläge sagen m.E. jedoch wenig über das allgemeine Niveau antisemitischer Gewaltbereitschaft aus. Aussagekräftiger ist der Befund, daß wir seit 1986 im Jahresdurchschnitt knapp über 30 Schändungen in der Bundesrepublik haben im Vergleich zu 15-20 in den Jahren davor. D.h. die Eskalation auf 40 in den Jahren 1990/91 sowie 62 im Jahre 1992 und 67 im Jahre 1993 darf den wenig beachteten stabilen Sockel seit Mitte der achtziger Jahre nicht verdecken. Für jeweils die Hälfte der Friedhofsschändungen etwa ist ein rechtsextremer Hintergrund der Täter erwiesen, für den größten Teil der anderen Hälfte dürfte dies auch gelten.

Dies deutet daraufhin, daß diese Übergriffe nicht die Folge einer weiteren Verbreitung antisemitischer Einstellungen sind, sondern daß umgekehrt auch Juden bzw. ihre Einrichtungen wie auch andere Gruppen im Verlauf der geschilderten, primär fremdenfeindlichen Gewaltwelle zu Objekten werden. Zur Begründung dieser Angriffe wird dann die antisemitische Ideologie herangezogen und gelernt: attitude follows action. Bei einer Minderheit von Jugendlichen haben sich Xenophobie und Antisemitismus zu einem Haßkomplex auf alles scheinbar "Fremde" verbunden. D.h. die Mobilisierung des Rechtsextremismus, die ja auch in anderen Ländern Europas seit Mitte der achtziger Jahre zu verzeichnen ist, führt zu einem wellenartigen Anstieg des manifesten Antisemitismus in Form von Anschlägen auf Denkmäler, Synagogen, jüdische Friedhöfe, Beleidigungen usw. seit

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1991. Ähnliche Wellen von Antisemitismus hat es in der Bundesrepublik und in anderen Ländern schon häufiger gegeben, ohne daß sie den langfristigen Trend eines Rückgangs des Antisemitismus hätten unterbrechen oder gar umkehren können.

Fremdenfeindliche und antisemitische Vorfälle werden in der gegenwärtigen Diskussion häufig in einem Atemzug genannt. Dennoch sind Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeit, sofern sie nicht wie im Rechtsextremismus beide zum ideologischen Programm gehören, in Deutschland zwei zu trennende Phänomene. Es hat in der Geschichte der Bundesrepublik mehrere antisemitische Wellen gegeben, deren Auslöser fast immer einzelne antisemitische Übergriffe und selten andere, übergreifende politische Ereignisse waren. Politik und Medien wirkten durch öffentliche Sanktionierung jeweils dämpfend auf diese Wellen ein. Anders im Falle der Fremdenfeindlichkeit. Hier lassen sich deutliche Beziehungen zur Konjunkturentwicklung bzw. ihrer subjektiven Wahrnehmung, zur Zahl der Einwanderer, vor allem aber zum politischen und medialen Diskurs erkennen. Anders als der Antisemitismus ist das "Ausländerthema" Gegenstand des politischen und gesellschaftlichen Streits, in dem auch negative Aussagen über "die Ausländer" in einem Maße toleriert werden, wie es gegenüber Juden nicht mehr möglich wäre, ohne mit öffentlichem Achtungsentzug bestraft zu werden.


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