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TEILDOKUMENT:
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Klaus Pöhle
Zur Lage der Rußlanddeutschen: Bleiben oder Aussiedeln?
Die Welt blickt in diesen Tagen verstärkt auf Rußland. Das Wahlergebnis in Rußland macht erneut deutlich, daß der Wandel der früheren kommunistischen Weltmacht Sowjetunion hin zu Demokratie, Rechtsstaat und sozialer Marktwirtschaft voller Risiken und Gefahren ist. Es wirft eine Reihe von Fragen auf, die auch die Situation der Rußlanddeutschen betreffen: Gibt es einen "Schirinowski-Effekt" auch hinsichtlich der Behandlung von Minderheiten in Rußland? Fördert die Angst vor neuem Nationalismus und altem Kommunismus die Ausreisebereitschaft der Rußlanddeutschen?
Es ist sicher zu früh, diese Fragen abschließend zu beantworten. Aber erste Trends zeigen, daß eine dramatische Verschlechterung für die Rußlanddeutschen anscheinend nicht zu befürchten ist. Prof. Sergej Schachrai ist als Minister für Nationalitätenfragen und Regionalpolitik im Amt bestätigt worden. Ein rußlanddeutscher Abgeordneter, Waldemar Bauer aus Tomsk, ist Vorsitzender des wichtigen "Ausschusses für die Organisation der Arbeit der Staatsduma" geworden. Ein Abgeordneter der gemäßigten Fraktion "Neue Regionalpolitik" leitet den Nationalitätenausschuß der Duma.
Auch die Rußlanddeutschen selbst scheinen trotz aller Schwierigkeiten von einer einigermaßen stabilen Lage in der Russischen Föderation auszugehen, wie der unverändert starke Zuzug aus den mittelasiatischen Ländern nach Rußland zeigt.
I. Aufgabe
In der Tat haben sich seit der von Gorbatschow eingeleiteten politischen Wende für die über zwei Millionen Deutschen, die derzeit in den Nachfolgestaaten der Sowjetunion leben, völlig neue Perspektiven ergeben.
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Erstmals seit Jahrzehnten können sie sich wieder frei versammeln, Organisationen bilden, ungehindert deutsch sprechen, ihre sprachliche und kulturelle Identität dadurch wiedergewinnen und sie können natürlich auch ausreisen, wenn sie es wünschen.
Wir in Deutschland sind diesen Menschen besonders verpflichtet. Sie haben - gleichsam stellvertretend für uns - am längsten und schwersten unter den Folgen des Zweiten Weltkrieges und der sich anschließenden, gegen Deutsche gerichteten Maßnahmen gelitten.
Die Politik der Bundesregierung ist darauf angelegt, diese Rußlanddeutschen zu ermutigen, ihr Schicksal jetzt tatkräftig in die eigenen Hände zu nehmen. Sie bedürfen dabei zunächst umfassender Hilfe zur Selbsthilfe.
Wenn sie es schaffen, für sich und ihre Kinder dort, wo sie jetzt leben, eine gute Zukunft aufzubauen, dann werden sie zugleich eine wichtige Brückenfunktion wahrnehmen können zwischen ihrem jetzigen Heimatland und Deutschland.
Wir respektieren es aber auch, wenn sich diese Deutschen anders entscheiden und nach Deutschland ausreisen wollen. Das Tor für sie bleibt offen. Sie können dann ein gesetzlich geregeltes Aufnahmeverfahren betreiben, das ihnen nach positivem Abschluß Hilfe bei der Aufnahme und Eingliederung in Deutschland garantiert. Das seit 1993 geltende Kriegsfolgenbereinigungsgesetz hat die Rechtssicherheit für die Betroffenen erhöht und ist sicher auch ein wichtiger Grund dafür, daß die Zahl der Ausreiseanträge 1993 gegenüber 1992 deutlich zurückgegangen ist.
Wir wissen allerdings, daß es niemandem leicht fällt, Haus und Hof, Verwandte und Freunde in einem Land zurückzulassen, in dem er und seine Vorfahren geboren wurden. Es ist ein schweres Schicksal, die angestammte Heimat verlassen zu müssen. Dies kann immer nur die zweitbeste Lösung sein. Dieses Schicksal sollte jedem möglichst erspart bleiben.
Letztlich bleibt es der individuellen Entscheidung des Einzelnen überlassen, wie er sich in der existentiellen Frage von Bleiben oder Gehen entscheidet.
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Die Rußlanddeutschen treffen diese Entscheidung über ihre Zukunft allerdings nicht nur aus ihrer Alltagssituation heraus, sondern sie sind auch durch die lange und zum Teil leidvolle Geschichte der deutschen Minderheit geprägt.
Erlauben Sie mir deshalb bitte einen kurzen Exkurs in die Vergangenheit, bevor ich zur aktuellen Situation der Rußlanddeutschen zurückkehre:
- Rund 27.000 vorwiegend protestantische Deutsche aus Hessen und dem mittleren Rheingebiet folgten 1763 dem Ruf Katharinas II. und siedelten sich zunächst im Wolgagebiet, später auch in Tochterkolonien in anderen Regionen Rußlands an. Kostenloser Grund und Boden, Wehr- und Steuerfreiheit sowie andere Privilegien waren der Anreiz für diese meist durch den siebenjährigen Krieg verarmten Deutschen.
- Bereits zuvor waren einige Deutsche als Handwerker nach Sibirien, z.B. nach Barnaul in Sibirien und nach St. Petersburg gegangen.
- Später siedelten sich Deutsche in der Südukraine am Schwarzen Meer, auf der Krim, im Kaukasus und in Wolhynien an, von wo aus ab ca. 1850 weitere Wanderungsbewegungen erfolgten.
- An der Wolga war die Zahl der Deutschen trotz vieler Rückschläge Anfang dieses Jahrhunderts auf rund 400.000 gewachsen. Ihre Siedlungen im Bereich Saratow wurden 1918 zur Arbeitskommune, 1922 zum autonomen Gebiet umgestaltet und 1924 als Autonome Sozialistische Sowjet-Republik der Wolgadeutschen anerkannt. In dieser Republik, die mit rund 28.000 qkm größer als Hessen war, lebten neben den 400.000 Deutschen auch rund 200.000 Russen und Ukrainer. Ihre deutschen Bewohner genossen mit der deutschen Amtsund Unterrichtssprache auch zahlreiche andere Autonomierechte. Das machte die Wolgarepublik mit ihren deutschen Schulen, Fortbildungseinrichtungen, Verlagen und Kunstinstitutionen insbesondere zum kulturellen Zentrum der Deutschen in der Sowjetunion.
Die stalinistische "Revolution von oben" erfaßte dann aber die Rußlanddeutschen als selbständige Bauern und Handwerker besonders hart. Die Kollektivierung mit ihrem Hungerterror forderte insbesondere in der
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Ukraine und an der Wolga viele Opfer. Die Rußlanddeutschen waren im Verhältnis zu den anderen Völkern der Sowjetunion überproportional Opfer stalinistischer Todeslisten und Gulag-Strafen. Dazu kam die Gefährdung ihrer kulturellen Existenz durch die Liquidierung Nationaler Deutscher Rayons außerhalb der Wolgarepublik, die Abschaffung der deutschen Amtssprache an der Wolga und der deutschen Unterrichtssprache in allen deutschen Siedlungen, was sich jedoch nur teilweise durchsetzen ließ. So unterlagen die Rußlanddeutschen Ende der dreißiger Jahre der stalinistischen Repression; ihre ländlichen Siedlungen waren kollektiviert, der Mittelstand war enteignet oder aus dem Land geflohen. Die Siedlungen konnten aber weiter existieren und ihre Muttersprache weitgehend gegen behördliche Erlasse und Assimilierungspolitik verteidigen.
Um so härter traf sie der Zweite Weltkrieg. Nach dem Einfall der deutschen Truppen in die Sowjetunion wurde, wie Ihnen ja bekannt ist, im August 1941 auf Stalins Befehl die deutsche Bevölkerung aus der Wolgarepublik unter dem Vorwand der Kollaboration mit Deutschland nach Sibirien und Kasachstan zwangsumgesiedelt. Auch die Rußlanddeutschen aus den meisten anderen Siedlungsgebieten wurden nach Sibirien und in die mittelasiatischen Republiken geschafft, wo sie unvorbereitet aus den Transporten ausgeladen wurden und Arbeit zugewiesen bekamen. Hier vegetierten sie unzureichend untergebracht und ernährt dahin, bis sie sich in diesen Sondersiedlungen eingerichtet hatten. Die arbeitsfähigen Männer mußten kurz darauf zur Zwangsarbeit in die "Trudarmee"; die Frauen - soweit sie keine Säuglinge zu versorgen hatten - folgten bald. So verblieben in den Sondersiedlungen des Verbannungsgebietes alte Leute und Kinder in einer fremden Umgebung, oft unter Menschen vieler fremder Völker, deren Sprache sie nicht verstanden.
Deutscher Schulunterricht war nicht mehr möglich. Der Gebrauch der deutschen Sprache in der Öffentlichkeit gefährlich, oft sogar lebensgefährlich. Aus dieser Zeit rührt der Beginn des Verlustes der deutschen Sprache bzw. der verschiedenen deutschen Dialekte in den auseinandergerissenen Familien. Die Lebensumstände in den stalinistischen Lagern bei Schwerstarbeit unter harten klimatischen Bedingungen und mit
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Hungerrationen sind bekannt. Viele Rußlanddeutsche starben, viele Kinder verloren ihre Eltern.
Wer das Kriegsende erlebte, konnte zunächst die Sondersiedlungen nicht verlassen. Die Rehabilitierung ließ auch nach Stalins Tod noch lang auf sich warten. Später war der Umzug in klimatisch günstigere Gebiete der UDSSR möglich, der Weg zurück in die alte Heimat aber weiter versperrt. So ist die große regionale Zerstreuung der Rußlanddeutschen zu erklären, die es ihnen auch heute schwer macht, zur deutschen Sprache zurückzufinden und ein eigenständiges deutsches Kulturleben aufzubauen.
Zur Zeit leben in den Staaten der früheren UDSSR - wie bereits erwähnt - über zwei Mio. Deutsche, wobei man berücksichtigen muß, daß exakte Angaben kaum möglich sind, weil es an genauen und aktuellen statistischen Erhebungen fehlt.
Auch haben sich viele Menschen bei Umfragen noch nicht getraut, ein offenes Bekenntnis zu ihrer Nationalität abzulegen. Sie befürchten erneut, Benachteiligungen oder Diskriminierungen hinnehmen zu müssen. Das Vertrauen in die Beständigkeit der neuen Verhältnisse ist bei diesen Menschen nach all den schlimmen, jahrzehntelangen Benachteiligungen und Verfolgungen noch nicht sehr belastbar.
Die inzwischen größte Gruppe mit etwa 850.000 Rußlanddeutschen lebt in der Russischen Föderation. In Kasachstan sind es aufgrund der überproportionalen Aussiedlung heute nur noch rund 800.000. Die Zahl der Deutschen in Kirgistan liegt bei etwa 70.000 bis 80.000. Mehrere zehntausend Deutsche leben zur Zeit in der Ukraine sowie in den anderen mittelasiatischen Republiken. In geringerer Zahl gibt es Rußlanddeutsche auch in Armenien, Georgien, Moldawien und Weißrußland sowie in den baltischen Staaten.
II. Hilfen
- Nachdem sich jahrzehntelang die Hilfe aus Deutschland für die Rußlanddeutschen auf Päckchen und Pakete und auf die Unterstützung von Aussiedlungswünschen für vergleichsweise wenige beschränken
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mußte, änderte sich dies mit der Öffnung der Grenzen und dem politischen Wandel in Osteuropa.
Die Regierung der Deutschland hat seitdem jede Gelegenheit genutzt, die Lage der Deutschen in den GUS-Staaten zu verbessern.
Grundlage dieser Politik sind die europäischen Vereinbarungen zum Schutz nationaler Minderheiten sowie bilaterale Verträge und Abkommen.
Darüber hinaus versucht die Bundesregierung, mit einem Bündel gezielter Hilfsmaßnahmen zur Festigung der kulturellen, sozialen und wirtschaftlichen Situation der deutschen Minderheiten beizutragen.
Alle Maßnahmen werden mit den jeweiligen Regierungen in gemeinsamen Kommissionen abgesprochen.
Auch die Vertreter der deutschen Minderheiten sind Mitglieder dieser Kommissionen. Soweit es irgend geht, sollen die Maßnahmen ja auch mit ihrer Unterstützung vor Ort durchgeführt werden, als Hilfe zur Selbsthilfe.
Das Auswärtige Amt und das Bundesinnenministerium haben sich schon frühzeitig über eine Arbeitsteilung verständigt, die sich gut bewährt hat:
- Maßnahmen der traditionellen Kulturpolitik und im Bildungsbereich führt das Auswärtige Amt auch für die deutschen Minderheiten durch.
- Maßnahmen im gemeinschaftsfördernden, sozialen, landwirtschafts- und wirtschaftsbezogenen Bereich betreut das Bundesinnenministerium.
- Daneben leisten andere Ressorts Hilfen für den Aufbau in den GUS-Staaten, die zwar nicht speziell auf die Deutschen gerichtet sind, ihnen aber indirekt dennoch zugute kommen.
Denn sie tragen zur allgemeinen Stabilisierung der Lage bei. Und natürlich ist diese allgemeine Verbesserung der Situation ebenso wichtig wie die gezielten Hilfen für die Deutschen, wenn ihre Zukunft dort gesichert werden soll.
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- Wir legen im übrigen großen Wert darauf, daß die Hilfsmaßnahmen für die Deutschen auch das jeweilige Umfeld, die nichtdeutschen Nachbarn, einbeziehen, soweit dies möglich ist. Neid und neue Schwierigkeiten sollen vermieden werden. Das friedliche Miteinander soll gefördert und nicht gestört werden.
- Bei den Hilfsmaßnahmen kann man folgende Hauptbereiche unterscheiden.
- Im kulturellen Bereich:
Unterstützung zur Entwicklung muttersprachlichen Deutschunterrichts, insbesondere Hilfen für Kindergärten und Schulen, Entsendung von Lehrern. Förderung deutschsprachiger Medien und Hilfen zur Entwicklung einer eigenständigen Kulturarbeit.
- Im gemeinschaftsfördernden Bereich:
Hilfen bei der Errichtung und Ausstattung von Begegnungsstätten, Unterstützung der Organisationen der Deutschen.
- Im sozialen Bereich:
z.B. medizinische Hilfe, Hilfen bei der Errichtung von Sozialstationen, individuelle Hilfen in Notfällen.
- Im wirtschaftlichen und landwirtschaftlichen Bereich:
z.B. berufsbezogene Aus- und Fortbildungsmaßnahmen, Förderung der Gründung selbständiger Existenzen im mittelständischen Bereich, Hilfen bei der Lebensmittelverarbeitung, Einrichtung von Bauhöfen und Hilfen bei der Ausstattung bäuerlicher Familienbetriebe.
- Es liegt auf der Hand, daß alle diese Maßnahmen nicht von der Bundesregierung selbst durchgeführt werden können. Sie bedient sich bei der Vorbereitung und Durchführung der Hilfsmaßnahmen zahlreicher Mittlerorganisationen, die für diese Arbeit besondere Sachkunde einbringen.
Ich brauche wohl nicht besonders hervorzuheben, daß die Arbeit vor Ort, die diese Organisationen zusammen mit ihren dortigen Partnern zu leisten haben, nicht einfach ist. Sie erfordert eine außerordentlich große Einsatzbereitschaft und sehr viel Einfühlungsvermögen, wenn
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sie Erfolg haben soll. Deshalb ist allen Menschen nur von Herzen zu danken, die sich für diese schwierige Aufgabe zur Verfügung stellen.
- Um Ihnen ein Bild vom Umfang der Maßnahmen zu vermitteln, hier nur eine Zahl:
Dem Bundesministerium des Innern standen im Haushaltsjahr 1993 rund 109 Mio. DM für die von ihm zu betreuenden Hilfsmaßnahmen in der GUS zur Verfügung.
Für 1994 ist die endgültige Festlegung des Fördervolumens noch nicht erfolgt. Es ist aber auf jeden Fall von einer Reduzierung des Ansatzes auszugehen.
Der Rückgang der Mittel darf aber keineswegs als Zeichen eines nachlassenden Interesses am Schicksal unserer Landsleute gedeutet werden. Ursache ist einzig und allein der unbedingte Zwang zum Sparen bei den öffentlichen Ausgaben.
Wir werden deshalb unsere Mittel noch konzentrierter einsetzen und noch mehr von konsumtiven zu investiven Maßnahmen übergehen müssen; es sind möglichst dauerhafte Erfolge anzustreben.
Dem einen mögen die zur Verfügung stehenden Mittel als relativ gering erscheinen, ein anderer wird sie vielleicht als viel zu hoch erachten.
Aufgrund meiner Erfahrungen mit dieser Arbeit wünschte ich mir, daß wir insgesamt mehr Mittel zur Verfügung hätten. Das ist kein Fach- oder Ressortegoismus.
Doch was wir jetzt versäumen, kann später schwerlich nachgeholt werden. Entweder wir festigen das Vertrauen der Menschen in ihre Zukunft jetzt oder sie werden dort, wo sie jetzt leben, über kurz oder lang aufgeben.
Deshalb müssen wir versuchen, die knappen Mittel noch effektiver, noch konzentrierter einzusetzen. Wir können nicht flächendeckend arbeiten, sondern Ziel muß es sein, "Inseln der Hoffnung", "Leuchttürme in die Zukunft" zu schaffen.
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III. Lage und Perspektiven
- "Inseln der Hoffnung" und "Leuchttürme in die Zukunft" brauchen wir insbesondere für die vielen Deutschen in Rußland und Kasachstan. Die Rußlanddeutschen und ihre Repräsentanten, die sich im März 1989 unter widrigen Umständen in der "Wiedergeburts"-Bewegung zusammenfanden, hatten zunächst große Hoffnungen auf die Wiederherstellung ihrer staatlichen Autonomie an der Wolga gesetzt, die ihnen Stalin 1941 geraubt hatte.
Die Russische Föderation hat im April 1991 erste rechtliche Grundlagen auch für die Wiederherstellung der deutschen Wolgarepublik geschaffen. Im November 1991 hat der russische Präsident die Absicht zur Wiederherstellung der staatlichen Autonomie der Rußlanddeutschen in einer gemeinsamen Erklärung mit dem deutschen Bundeskanzler bekräftigt. Im Februar und März 1992 hat Präsident Jelzin weitere Dokumente zur schrittweisen Wiederherstellung der Wolgarepublik unterzeichnet.
Am 10. Juli 1992 gab es ein deutsch-russisches Protokoll mit der gleichen Zielrichtung, das am 23. März 1993 in Kraft getreten ist.
Dieses Protokoll ist auch Grundlage für die Arbeit der deutsch-russischen Regierungskommission, die übrigens im März 1994 zu ihrer fünften Sitzung in Bonn zusammenkommen wird.
Ob die Wolgarepublik tatsächlich eines Tages kommen wird oder nicht, ist schwer vorauszusagen. Mit Sicherheit darf man annehmen, daß diese Frage z.Z. bei den Verantwortlichen Rußlands keine hohe Priorität genießt. Gleichwohl hat die schrittweise Wiederherstellung dieser Republik für die meisten Rußlanddeutschen einen hohen Symbolwert. Dies gilt unabhängig davon, ob sie selbst an die Wolga ziehen wollen oder nicht. Die Wiederherstellung einer eigenen Staatlichkeit würde ihnen nicht nur ein geistiges und kulturelles Zentrum mit Ausstrahlung in alle Siedlungsgebiete zurückgeben, sondern für sie auch sichtbares Zeichen ihrer Rehabilitierung und Gleichberechtigung sein. Deshalb halten die rußlanddeutschen Verbände an ihrer Forderung fest, auch wenn sie die derzeitigen Realisierungschancen ebenso nüchtern einschätzen wie wir.
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Um so wichtiger ist es, jetzt Hilfsmaßnahmen dort zu bündeln, wo Rußlanddeutsche schon in kompakten Siedlungen leben und wo andere bereit sind, zuzuziehen.
Dies sind vor allem die westsibirischen Gebiete mit den beiden deutschen nationalen Rayons Asowo (Gebiete Omsk) und Halbstadt (Gebiet Altai) und natürlich auch die Wolgaregion, wo sich in den Gebieten Saratow und Wolgograd Rußlanddeutsche verstärkt wieder ansiedeln wollen. Allein das Gebiet Omsk will noch 70.000 Rußlanddeutsche aufnehmen. Für die Region um Saratow liegen über 20.000 Zuzugswünsche vor, die zur Zeit wegen fehlenden Wohnraums nicht erfüllt werden können.
Auch in der Region um St. Petersburg wollen sich Rußlanddeutsche wieder ansiedeln. Dies wird von den dortigen Verwaltungen begrüßt. Die deutsch-russische Regierungskommission hat sich im November 1993 damit befaßt und eine erste Siedlungsmaßnahme beschlossen.
Aus eigenem Antrieb haben sich einige tausend Rußlanddeutsche, vor allem aus Kirgisien, Kasachstan und Tadschikistan in das Gebiet Kaliningrad, dem früheren Nordostpreußen, begeben. Sie leben vor allem auf dem Lande und versuchen dort, kleine, selbständige Existenzen aufzubauen.
Im Einvernehmen mit der russischen Regierung und der dortigen Gebietsverwaltung erhalten diese Menschen eine erweiterte humanitäre Hilfe, damit sie über die ersten Schwierigkeiten hinwegkommen.
Es ist zu hoffen, daß die zahlreichen, wenn auch schwerpunktmäßig eingesetzten Hilfsmaßnahmen in den kompakten Siedlungsgebieten der Rußlanddeutschen allmählich in stärkerem Maße auch in anderen Gebieten Eigeninitiativen auslösen.
Die Organisationen der Rußlanddeutschen können hierbei eine wichtige Rolle spielen. Allerdings haben sie in den vergangenen Jahren zunächst viel Kraft im Streit untereinander verbraucht. Ich habe jedoch die Hoffnung, daß diese Periode vorüber ist.
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- In Kasachstan stellt das kasachische Gesetz von 1990, mit dem Kasachisch ab 1993 zur offiziellen Staatssprache erklärt wurde, für die dort lebenden Deutschen ein großes Problem dar.
Zunehmender Nationalismus bereitet in manchen Regionen zusätzliche Schwierigkeiten. Die Ansiedlung aus dem Ausland zurückkehrender Kasachen verstärkt das Problem. Deshalb ist der Abwanderungsdruck bei den Deutschen relativ hoch, obwohl es ihnen im allgemeinen wirtschaftlich nicht schlecht geht. Um dem entgegenzuwirken, hat die Bundesregierung mit der kasachischen Regierung u.a. vereinbart, ein Gleichberechtigungsabkommen zu schließen.
Insbesondere bemüht sich die Bundesregierung um eine Entschärfung der Sprachenproblematik (Ausnahmeregeln für kompakte Siedlungsgebiete der Deutschen).
- Ähnliche Probleme gibt es mit Kirgistan, wo allerdings die deutsche Minderheit wesentlich kleiner als in Kasachstan ist. Der kirgisische Außenminister hat bei einem Besuch in Bonn zugesagt, auf Erleichterungen für die Deutschen in der Sprachenproblematik und bei dem Zugang zu öffentlichen Ämtern hinzuwirken.
- Von Interesse ist sicher auch die Lage der Deutschen in der Ukraine. Präsident Krawtschuk hatte im Februar 1992 die Wiederansiedlung von bis zu 400.000 Deutschen in ihren traditionellen Siedlungsgebieten in Aussicht gestellt und zu diesem Zweck einen ukrainisch-deutschen Fonds gegründet. Für die Ansiedlung sind Teile der im Süden der Ukraine liegenden Verwaltungsgebiete Odessa, Nikolajew, Cherson, Saporoshje und Dnjepopetrowsk vorgesehen. Zur Zeit gibt es etwa 40.000 Deutsche in der Ukraine. Der weitere Zuzug ist allerdings ins Stocken geraten, weil die Ukraine - entgegen ursprünglichen Zusagen - nur noch diejenigen Deutschen aufnehmen will, die nachweisen können, daß sie oder ihre Vorfahren früher in der Ukraine gelebt haben.
Dies bedeutet für viele Rußlanddeutsche Steine statt Brot. Die jetzt von der Ukraine verfolgte Linie würde erneut dazu führen, daß Familien und Gemeinschaften getrennt werden, was eigentlich niemand will.
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Die Bundesregierung leistet z. Z. nur noch humanitäre Hilfe für die bereits Zugezogenen, deren Status seitens der Ukraine nun zu regeln ist. Zu all diesen Fragen stehen wir im Kontakt mit dem ukrainischen Minderheitenministerium in Kiew. Ich hoffe, daß sich trotz der schwierigen allgemeinen Situation in der Ukraine eine Lösung finden wird.
Ich kann aus Zeitgründen nicht auf alle Regionen im einzelnen eingehen, in denen wir Hilfsmaßnahmen durchführen.
Nicht vergessen werden sollte aber an dieser Stelle, daß zu den umfangreichen Hilfen von öffentlicher Hand zahllose private Initiativen hinzutreten, die unsere Maßnahmen in wirkungsvoller Weise unterstützen. Auch Paten- und Partnerschaften von Städten, Gemeinden und Kreisen, von Schulen und Vereinen, im Regelfalle ja nicht nur auf die Deutschen bezogen, vermitteln unseren Landsleuten dennoch das Gefühl, nicht vergessen zu sein.
IV. Bleiben oder Aussiedeln?
Insgesamt zeigen die Hilfsmaßnahmen für die Rußlanddeutschen in der GUS positive Wirkung, insbesondere in der Russischen Föderation.
Wie die Deutsch-Russische Regierungskommission am 1./2.11. 1993 in St. Petersburg festgestellt hat, bewährt sich die Förderung der Siedlungsschwerpunkte in den deutschen Kreisen in Westsibirien und an der Wolga. Über 100.000 Rußlanddeutsche aus Mittelasien wollen zur Zeit in diese Siedlungsschwerpunkte in Rußland zuziehen. In der deutschrussischen Regierungskommission erklärte Landrat Prof. Bruno Reiter vom deutschen Nationalkreis im Omskgebiet, daß er über 40.000 aktuelle Zuzugswünsche von Rußlanddeutschen habe. Gebietschef Belych aus Saratow berichtete in der Sitzung der Regierungskommission, daß jetzt mehr Rußlanddeutsche in das Saratowgebiet zuziehen als aussiedeln.
Die erfolgreichen Maßnahmen für die Rußlanddeutschen haben - ich erwähnte es bereits - zu einer starken Verringerung der aktuellen Ausreisewünsche beigetragen. Im Jahre 1993 liegen über 100.000
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Ausreiseanträge weniger vor als 1992. Dies ist umso bedeutsamer, da zahlreiche Formalitäten im Antragsverfahren vereinfacht wurden. Zum Beispiel kann man heute Ausreiseanträge in Moskau und in Almati (Kasachstan) stellen, früher nur in Moskau. Das Kriegsfolgenbereinigungsgesetz erleichtert gerade für die Rußlanddeutschen manche Nachweispflichten, die früher auf große Schwierigkeiten stießen, wie z.B. im Blick auf Kenntnisse der deutschen Sprache und das Kriegsfolgenschicksal.
Wie viele Rußlanddeutsche letztlich auf Dauer in den Staaten der GUS bleiben werden, vermag z.Z. sicher niemand zu sagen. Dies wird wesentlich auch von der politischen und wirtschaftlichen Entwicklung in diesen Ländern und ihrem Umgang mit der deutschen Minderheit abhängen.
Fest steht, daß ein Teil der Deutschen auf jeden Fall nach Deutschland kommen wird, z.B. weil ihre Familienangehörigen bereits ausgesiedelt sind. Fest steht auch, daß ein anderer Teil unter allen Umständen in ihrer jetzigen Heimat oder einem anderen GUS-Staat verbleiben wird, z.B. weil sie in einer Mischehe mit einem einheimischen Ehepartner leben oder die gewohnte Lebensweise nicht aufgeben wollen.
Wie groß aber beide Gruppen sind, steht ebensowenig fest wie die Größe der dritten Gruppe, der Unentschlossenen, die zunächst die weitere Entwicklung in ihrem Land abwarten wollen. Und diese Entwicklung verläuft, wie ich hier aus Zeitgründen nur andeuten konnte, in den einzelnen GUS-Staaten bereits heute höchst unterschiedlich.
Die Bundesregierung wird weiterhin ihre Verantwortung für alle Rußlanddeutschen wahrnehmen, sowohl bei der Integration in Deutschland wie auch bei den Hilfsmaßnahmen in der GUS.
V. Zusammenfassung
Ich habe in der zur Verfügung stehenden Zeit nur einen allgemeinen Überblick über die Lage der Rußlanddeutschen und unsere Hilfsmaßnahmen geben können.
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Zusammenfassend möchte ich zum Schluß die Ziele und Schwerpunkte unserer Politik thesenartig hervorheben:
- Die Bundesregierung ist verpflichtet, den Rußlanddeutschen wegen ihres besonderen Schicksals zu helfen.
- Diese Deutschen sollen sich frei entscheiden können, ob sie bleiben oder gehen wollen.
- Wir hegen die Hoffnung, daß sich mehr und mehr von ihnen entscheiden zu bleiben, um am demokratischen und marktwirtschaftlichen Aufbau ihrer Länder mitzuwirken.
- Unsere Hilfen sollen immer auch dem Umfeld zugute kommen, weil wir das friedliche Miteinander fördern und nicht stören wollen,
- Alle Maßnahmen dienen zugleich dem weiteren Ausbau unseres gemeinsamen Hauses Europa.
- Das Schicksal Europas entscheidet sich am Schicksal Rußlands. Deshalb sind die kleinen "Inseln der Hoffnung" und die "Leuchttürme in die Zukunft" für die Deutschen in Rußland auch ein kleiner Beitrag und eine Aufbauhilfe zur Stabilisierung Rußlands.
Deshalb gibt es zu dieser Politik der Bundesregierung auch keine vernünftige Alternative. Sie kann sich auf einen breiten Konsens stützen, auch wenn das im politischen Tagesgeschäft nicht immer sichtbar bleibt.
Ich bin davon überzeugt, daß viele Deutsche in den Republiken der ehemaligen Sowjetunion ihre Chancen nutzen werden. Vieles, wovon wir vor einigen Jahren noch nicht zu träumen wagten, haben wir erreicht. Deutschland hat auf friedlichem Wege seine Einheit wiedererlangt. Die Teilung Europas ist überwunden. Zu dieser positiven Entwicklung werden auch die Rußlanddeutschen ihren Beitrag leisten, ob als Neubürger in der Bundesrepublik Deutschland oder als deutsche Volksgruppe in ihrer angestammten Heimat.
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