FES | ||
|
|
TEILDOKUMENT:
[Seite der Druckausg.: 63]
Galt der Osten bisher als Verursacher von Migrations- und Flüchtlingsbewegungen in Richtung Westen, so sahen sich die Länder Zentraleuropas - und hiermit beziehe ich mich auf Polen, die Tschechische Republik, die Slowakei, Ungarn, Rumänien und Bulgarien, als Transitstaaten. Das soeben vereinfacht dargestellte Muster mag aus westlicher Sicht zutreffen, es vernachlässigt jedoch die zahlenmäßig viel größeren Migrations- und Flüchtlingsbewegungen, die bisher innerhalb der ehemaligen Sowjetunion stattgefunden haben. Seit dem Eintreten der politischen Veränderungen in Zentral- und Osteuropa während der letzten vier Jahre, hat UNHCR Strategien mit unterschiedlichen Schwerpunkten für die Aufnahmestaaten im Westen, die Transitstaaten in Zentraleuropa und die Herkunftsstaaten im Osten entwickelt, um den Rechtsschutz von Flüchtlingen sicherzustellen und dauerhafte Lösungen für sie zu finden. Gerade im Hinblick auf die Probleme in Ost- und Zentraleuropa ist die von der Hochkommissarin Sadako Ogata formulierte Politik einer konzertierten Zusammenarbeit mit Staaten, Internationalen Organisationen und Non-Governmental Organizations (NGOs) von besonderer Bedeutung. Die Intensivierung dieser Zusammenarbeit sollte sich vor allem auf die Fluchtursachenbekämpfung, den effektiven Schutz der Flüchtlinge und den Aufbau von Rechtsstaatsstrukturen beziehen. Im nachfolgenden möchte ich erst kurz auf die Arbeit des UNHCR in der ehemaligen Sowjetunion eingehen und dann die Probleme in Zentraleuropa erörtern. [Seite der Druckausg.: 64]
I. UNHCR in der GUS
Die über 200 Ethnien, die auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion leben, waren einem föderativen System unterstellt, dessen Macht sich auf wenige ethnische Gruppierungen stützte.
[Fn_1: Die Sowjetunion war aufgeteilt in 15 Sowjetische Sozialistische Republiken (SSR), 20 Autonome Sowjetische Sozialistische Republiken (ASSR), 8 Autonome Regionen (oblasti) und 10 Autonome Zonen (okruga).]
Die Auflösung der Sowjetunion hat unzählige ethnische Konflikte zum Wiederaufleben gebracht. Zwanzig der dreiundzwanzig Grenzen, die zwischen den Republiken bestehen, sind umstritten und die Zahl der ethnischen Konflikte wird auf 125 geschätzt, wobei es allerdings häufig um die Verteilung von Ressourcen geht. Ende der siebziger Jahre begann eine kontinuierliche Rückwanderung von Russen in die damalige Russische SSR, ein Trend, der sich nach den ersten ethnischen Unruhen 1988/89 im Kaukasus und mit der Einführung der neuen Staatsangehörigkeitsgesetze in den Republiken erheblich verstärkte. Was für die einen Vertreibung bedeutete, wurde für die anderen eine Möglichkeit zur Rückkehr; so konnte etwa die Hälfte der vertriebenen Krimtataren nach der Unabhängigkeit der Ukraine 1991 von Sibirien auf die Krim zurückkehren. [Fn_2: Die Gesamtbevölkerung der Krimtataren (400.000 bis 500.000) wurde 1944 nach Sibirien zwangsumgesiedelt. Bisher sind ungefähr 200.000 auf die Krim zurückgekehrt.] Auf dem Gebiet der Russischen Föderation unterscheidet UNHCR zwei Kategorien von Flüchtlingen. Dies sind einerseits etwa 25.000 Angehö- [Seite der Druckausg.: 65] rige von Drittstaaten,
[Fn_3: 10.000 Afghanen, 6.000 Iraqis, 2.000 Somalis und eine geringere Anzahl Ethiopier, Chilenen, Angolaner, Iraner und Zairer.]
die versuchen Westeuropa zu erreichen und andererseits etwa 167.OOO
[Fn_4: Schätzung der Regierung der russischen Föderation (Federal Migration Service).]
asylsuchende Flüchtlinge aus anderen GUS-Staaten - vor allem Tadschiken, Georgier und Azeris.
[Fn_5: Die Zahl der Flüchtlinge und 'internally displaced persons ’ betrug 1993 in folgenden Staaten: Armenien: 340.000; Azerbaidschan: 900.000; Georgien: 240.000; Tadschikistan: 500.000; Moldavien (1992): 100.000.]
Kamen 1992 drei Viertel der registrierten 167.000 Flüchtlinge in der Russischen Föderation aus dem Kaukasus, so änderte sich dieser Prozentsatz mit der Zuspitzung des Bürgerkrieges in Tadschikistan 1992/1993 zugunsten der Flüchtlinge aus Zentralasien, wo über 500.000 Menschen zur Flucht gezwungen wurden und mindestens 30.000 Menschen starben. Allein 60.000 Tadschiken flohen vor den Stammeskämpfen in das vom Krieg verwüstete nördliche Afghanistan und lebten dort trotz UNHCR-Unterstützung unter sehr schwierigen Bedingungen. Auf dem Gebiet der GUS leben zur Zeit etwa 60 Millionen Menschen, die Minderheiten angehören.
[Fn_6: Darunter: 25 Millionen Russen, 6,7 Millionen Ukrainer, 2,5 Millionen Usbeken und jeweils eine Million Armenier und Tadschiken.]
Wie kann die Antwort des UNHCR auf die soeben geschilderten Migrations- und Flüchtlingsbewegungen lauten? Als erste Aufgabe muß UNHCR dort einschreiten, wo die Vorbeugung zu spät kommt und ein Konflikt bereits ausgebrochen ist. Im Einklang mit der globale Zielsetzung des UNHCR, den Schutz der Flüchtlinge zu gewährleisten und dauerhafte Lösungen für die bestehenden Flüchtlinge zu finden, [Fn_7: Die drei dauerhaften Lösungen sind Rückkehr ins 'sichere' Heimatland und sofern dies nicht möglich ist, die Integrierung im Gastland oder wenn auch diese Lösung nicht gegeben ist, die Übersiedlung und Integrierung in einem Drittland.] gilt es aber auch dazu beizutragen, zukünftige Krisen zu verhindern und [Seite der Druckausg.: 66] stabilisierende, demokratische Tendenzen zu unterstützen. Übertragen auf die UNHCR-Arbeit in Osteuropa kann man daher die folgenden vier Schwerpunkte herauskristallisieren:
Bisher sind lediglich Rußland, Armenien, Aserbaidschan und Tadschikistan der Genfer Flüchtlingskonvention beigetreten und eine Umsetzung der Konvention in innerstaatliches Recht hat nur in Rußland angefangen. Ein besonderes Problem auf dem gesamten Gebiet der GUS besteht darin, daß die Bestimmungen der Konvention häufig nur für Flüchtlinge aus anderen GUS Staaten und nicht für solche aus Drittländern angewendet werden. Daher ist es eine der wichtigsten Aufgaben des UNHCR, sicherzustellen, daß kein Flüchtling in ein Verfolgerland zurückgeschickt wird (Prinzip des non-refoulement) und der Zugang zu einem fairen Verfahren gewährleistet ist. Die Haupttrainingsaktivität des UNHCR konzentriert sich auf Kurse über Flüchtlingsrecht, Flüchtlingspolitik und Minderheitenrechte mit dem Ziel, das Rechtsstaatsprinzip und die Beachtung internationalen humanitären Rechts in der GUS zu fördern. Diese Kurse wurden in Zusammenarbeit mit den folgenden internationalen Organisationen durchgeführt: dem Internationalen Komitee vom Roten Kreuz (IKRK), der Internationalen Organisation für Migration (IOM), der UNO Menschenrechtskommission, dem Europarat und der KSZE. Zielgruppe dieser Kurse, die mittlerweile in allen Republiken abgehalten wurden, sind Politiker und höhere Beamte für generelle Einführungskurse sowie Sachbearbeiter und Spezialisten für Kurse über Flüchtlingsbestimmung und Mindestanforderungen im Verfahren. Als Folge dieser Trainingsaktivitäten, wird UNHCR zusehends bei der Etablierung von Gesetzen im Migrations- und Flüchtlingsbereich zu Rate gezogen. [Seite der Druckausg.: 67] 'Institution Building' besteht vor allem darin, die gegebenen Strukturen der Republiken so zu erweitern, daß sie einer plötzlichen Massenflucht-Situation standhalten können und die Bedürfnisse von Flüchtlingen ausreichend abdecken. Nach dem Ausbrechen der ersten Regionalkonflikte, führte UNHCR daher auf Ersuchen der jeweiligen Regierungen, Trainingskurse im 'emergency management' durch, um Expertise für den praktischen Umgang mit dem Flüchtlings- und Vertreibungsproblem zu schaffen. Die Erweiterung der Strukturen kann ohne eine Verstärkung der Rolle der NGOs nicht erfolgreich stattfinden. UNHCR hat daher ein besonderes Interesse, die unabhängige Arbeit der NGOs zu unterstützen. Ein weiterer Bestandteil des 'Institution Building' ist das zentrale UNHCR-Datenerfassungssystem (CDR), in welchem Informationen über Fluchtländer, über politische Krisengebiete sowie über Gesetze und Rechtssprechung gesammelt und verarbeitet werden. Gerade im Hinblick auf den relativ geringen Wissensstand über die Staaten der ehemaligen Sowjetunion, kann dieses Datensystem bei der Früherkennung von Konflikten hilfreich sein. Eine Ursache von Massenmigration sind häufig falsche oder idealisierte Vorstellungen über die Zielländer. Die Verbreitung von glaubwürdiger Information durch glaubwürdige Organisationen kann solche idealisierten Vorstellungen beseitigen und auf diese Weise zu einer Verringerung der Migrationsbewegungen führen. UNHCR hat bereits positive Erfahrungen mit den Masseninformationskampagnen in Indochina, Albanien und im ehemaligen Jugoslawien. In Zusammenarbeit mit IOM wird UNHCR daher mit einer Masseninformationskampagne in der Russischen Föderation beginnen. Ziel dieser Kampagne ist es aber auch ein generelles Verständnis für Flüchtlinge zu schaffen und xenophobischen Tendenzen entgegenzuwirken. Um den Schutz der Flüchtlinge in der GUS zu gewährleisten und die Verteilung der benötigten Hilfsgüter in den Krisengebieten zu koordinieren, eröffnete UNHCR 1991 ein Regionalbüro in Moskau und in kurzer Abfolge darauf Präsenzen in Yerevan (Armenien), Baku (Aserbaidschan), Duschanbe (Tadschikistan) [Fn_8: Mit Außenstellen in Shartuz, Dusti, Kokhozabad und Khorog.], Taschkent und Termez (Usbekistan) sowie eine Mission in Tiflis (Georgien). Durch die Ver- [Seite der Druckausg.: 68] sorgung der Bevölkerung in Krisengebieten mit Hilfsgütern, kann UN-HCR vielfach kurzfristig einen Beitrag zur Fluchtursachenbekämpfung leisten. Eine solche präventive Maßnahme hat jedoch ihre Grenzen dort, wo die Opfer von Gewalt und Verfolgung keine Möglichkeit mehr haben, dauerhaften Schutz in einem anderen Land zu suchen. Langfristig gesehen kann die humanitäre Hilfe eine politische Lösung von Konflikten nicht ersetzen. Die sinnvolle Fluchtursachenbekämpfung setzt daher nicht nur ein gründliches Verständnis der oft vielseitigen Fluchtgründe voraus, sondern verlangt auch den politischen Willen diese auf Dauer zu beseitigen. Um dieses Ziel zu erreichen, ist ein konzertiertes Zusammenwirken zwischen den Staaten und den internationalen Organisationen und NGOs notwendig.
II. UNHCR in Zentraleuropa
Sämtliche Staaten Zentraleuropas sind mittlerweile Signatarstaaten der Genfer Flüchtlingskonvention von 1951 sowie des Protokolls von 1967 und UNHCR ist in allen Staaten mit zumeist kleinen Verbindungsbüros seit ca. zwei Jahren vertreten.
[Fn_9: Verbindungsbüros in Sofia, Bukarest, Bratislawa (1993), Prag und Warschau; Vertretungen in Ungarn (1989) und Regionalvertretung in Wien.]
Bisher sind die zentraleuropäischen Staaten vor allem als Transitländer mit dem Flüchtlingsproblem in Berührung getreten. Polen, zum Beispiel, registrierte in den ersten sechs Monaten des letzten Jahres über 50.000 Durchreisende aus dem ehemaligen Jugoslawien, die hauptsächlich nach Skandinavien fuhren, während in der gleichen Zeitspanne lediglich 100 Ex-Jugoslawen den 'Flüchtlingsstatus' in Polen beantragten. Die Einführung restriktiverer Aufnahmepraktiken für Asylbewerber im Westen und die zunehmende wirtschaftliche Entwicklung der zentraleuropäischen Staaten könnte jedoch auf längere Sicht das Wanderungsschema ändern. [Seite der Druckausg.: 69] Um den Schutz der Flüchtlinge in Zentraleuropa zu gewährleisten und eine dauerhafte Lösung zu finden, hat UNHCR die folgenden Schwerpunkte gesetzt:
In allen zentraleuropäischen Staaten haben Kurse über Flüchtlingsrecht stattgefunden mit der Zielsetzung, die Verfahrensqualität bei der Flüchtlingsbestimmung zu verbessern und personell zu stärken.
[Fn_10: Polen hat seit über zwei Jahren lediglich vier Sachbearbeiter, die eine Flüchtlingsstatusbestimmung durchführen können.]
Die Kenntnis und der Wille zur Anwendung von internationalem Flüchtlingsrecht kann jedoch keine Früchte tragen, sofern nicht ein rechtlicher Rahmen im innerstaatlichen Bereich besteht, der den Zugang zu fairen Verfahren sichert. UNHCR pflegt daher intensive Kontakte mit den Regierungen und allgemeinen Interessensgruppen, um die Durchsetzung des internationalen Flüchtlingsrechts im innerstaatlichen Bereich zu fördern. Eine weitere Form des 'Institution Buildings' ist Stärkung der NGO-Struktur. In Zusammenarbeit mit ECRE (European Consultation on Refugees and Exiles) hat UNHCR daher spezifische Kurse für NGOs abgehalten und den internationalen Erfahrungsaustausch gefördert. Mehrere, meist junge NGOs erhielten zudem eine Start- und Strukturhilfe und ergänzen mittlerweile die Arbeit der Regierungen und des UNHCR in Zentraleuropa mit zunehmendem Erfolg. [Seite der Druckausg.: 70] Die Gefahr von Nationalismus und Xenophobie besteht auch in Zentraleuropa. In Zusammenarbeit mit NGOs wird UNHCR verstärkt die Öffentlichkeit ansprechen, um Toleranz und Verständnis für das Flüchtlingsproblem zu schaffen. Besonders schwierig gestaltet sich in den zentraleuropäischen Staaten die Integration von Flüchtlingen. Einerseits fehlt es an Erfahrung der Aufnahmegesellschaften in der Integration von Ausländern mit unterschiedlichem kulturellem Hintergrund und andererseits haben die schwerwiegenden wirtschaftlichen und sozialen Probleme dazu geführt, daß Arbeitsaufnahme und Wohnmöglichkeiten nur in sehr beschränktem Umfang möglich sind. Viele Flüchtlinge sehen keine reale Perspektive für ihre Integration, was die hohe Zahl der irregulären Weiterwanderung in den Westen erklärt. UNHCR unterstützt die Regierungen und NGOs beim Aufbau einer Integrationsinfrastruktur mit relativ kleinen Programmen, die vor allem die Eingliederung des Flüchtlings in den Arbeitsmarkt ermöglichen sollen. Die geringe Anzahl von bisher erfolgreich integrierten Flüchtlingen in Zentraleuropa bestätigt jedoch, daß Integration aus politischen und wirtschaftlichen Gründen auf Schwierigkeiten stößt, und sich die Kapazitäten nur langsam erweitern lassen. Einige Regierungen befürchten außerdem, daß die staatlich unterstützte Eingliederung von Flüchtlingen im Hinblick auf die steigenden sozialen Probleme zu verstärkter Xenophobie führen könnte.
III. Lastenteilung
Mit der 'Öffnung' des Ostens und der neu erlangten Mobilität ist der Westen einer verstärkten Zuwanderung von Flüchtlingen und Migranten ausgesetzt. Um dieser Entwicklung entgegenzuwirken, wurden mehrere zentraleuropäischen Staaten zu sicheren Drittstaaten erklärt mit der Folge, daß Flüchtlinge in Westeuropa weniger Zugangsmöglichkeiten haben. In diesem Zusammenhang wurde vermehrt auf die Gefahr einer einseitigen Lastenverschiebung zu ungunsten der zentraleuropäischen Staaten, vor allem Polen, Ungarn und der Tschechischen Republik hingewiesen. Dabei ist insbesondere hervorzuheben, daß die administrative [Seite der Druckausg.: 71] und strukturelle Kapazität der zentraleuropäischen Staaten Flüchtlinge aufzunehmen gering ist und daß mit einer Überlastung dieser Systeme ein ausreichender Schutz für den Flüchtling im Einzelfall nicht mehr gewährleistet werden kann. Die Prognose der Überlastung hat sich jedoch in den letzten Monaten noch nicht bestätigt, da weder in der Tschechischen Republik noch in Polen die Zahl der Asylbewerber die Kapazitätsgrenzen erreicht hat. Die zunehmende Politik der Abschottung, der Zugangsbeschränkungen mit der Konsequenz des Abbaus des Rechtsschutzstandards im Asylverfahren setzt aber nicht nur ein schlechtes Beispiel für die neu beigetretenen Konventionsstaaten, sondern kann auf längere Sicht zum Ausbleiben des rechtlichen Schutzes für Flüchtlinge führen. Um daher den Schutzbedürftigen die notwendige Aufnahme zu gewährleisten, ist zumindest mittelfristig ein System der geordneten und fairen Lastenteilung zwischen allen europäischen Staaten anzustreben. [Seite der Druckausg.: 72 = Leerseite] © Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | April 2003 |