FES | ||
|
|
TEILDOKUMENT:
[Seite der Druckausg.: 41]
Ich möchte Sie verleiten, sich in eine kleine Szene hineinzudenken: Es gibt einen Club mit einem doppelten Ausweis, einem Clubausweis und einer goldenen Scheckkarte. Zwölf reiche, elegante Herren sitzen in diesem Club. Vier weitere stehen am Eingang und lächeln - sie haben bereits einen Antrag auf die goldene Scheckkarte gestellt und sehen gute Chancen, sie auch zu bekommen. In größerem Abstand stehen sechs weitere mit Bescheinigungen in der Hand, daß sie in Zukunft gute Chancen auf den begehrten Zutrittsausweis haben. Noch etwas weiter weg stehen zwei muskelbepackte Burschen, die wohlwollend auf den Club schauen: man profitiert regelmäßig voneinander. In der weiteren Umgebung halten sich weitere siebzehn Leute auf. Teilweise drücken sie sich die Nasen an dem Clubfenster platt, teilweise schauen sie aber auch nach anderen Häusern aus. Ein weiterer sitzt am Zaun zum Nachbargrundstück und schaut zweifelnd herüber. Im Hintergrund prügelt irgendwo ein ungezogener Junge auf einen anderen ein. Haben Sie erkannt, wovon die Rede ist? Es ist leicht zu erkennen: Die zwölf Privilegierten mit Clubausweis und goldener Scheckkarte sind die zwölf Mitglieder der NATO und der Europäischen Union. Die vier weiteren Glücklichen sind die künftigen Mitglieder der Europäischen Union aus der EFTA. Die sechs mit den guten Aussichten sind die sogenannten Visegrad-Staaten Polen, Tschechische Republik, Slowakei und Ungarn sowie Bulgarien und Rumänien. Die zwei Muskelmänner stellen die Russische Föderation und die Ukraine dar, beide inzwischen im Besitz von Partnerschafts- und Kooperationsverträgen mit der Europäischen Union. Die siebzehn weiteren Interessenten sind die osteuropäischen Staaten von Albanien über die baltischen Republiken bis Kasachstan, und am Zaun steht die Türkei, schon längst im Besitz von Assoziationszusagen, die aber nicht eingelöst werden. Die Prügelei im Hintergrund bezieht sich auf Serbien/Montenegro und Bosnien/ [Seite der Druckausg.: 42] Herzegowina. Damit ist ein Bild Europas gemalt, in dem lediglich einige ganz kleine Staaten nicht vorkommen. Die entscheidende Frage heißt: Wie geht es weiter? Welche Beziehungen untereinander werden die hier angesprochenen mehr oder weniger privilegierten Staaten entwickeln? Es zeigt sich, daß Ostpolitik heute kein separiertes Arbeitsfeld mehr ist. Wer von Ostpolitik und Hilfspolitik für die osteuropäischen Länder spricht, äußert sich zur gesamten Zukunft Europas. Und es zeigt sich, daß wir uns im Augenblick an einem Scheideweg der deutschen Ostpolitik befinden. Die Regierung weist immer wieder darauf hin, daß die Bundesrepublik sehr viel Geld einsetzt. Oft wird dabei übersehen, daß ein Teil der deutschen Leistungen auf Altlasten aus der ehemaligen DDR und auf Kosten des Vereinigungsprozesses zurückzuführen sind. Alleine für ein Wohnungsprogramm für die abziehenden russischen Soldaten aus den neuen Bundesländern wendet die Bundesregierung 8,35 Mrd. DM auf. Bonn hat außerdem Beratungshilfe in erheblichem Umfang geleistet. So 1992 427 Mio., 1993 sogar 530 Mio. und, wegen der knapper werdenden Kassen, 1994 293 Mio. DM. Neben diesen nationalen Aufwendungen sind die Anteile an den europäischen Programmen zu nennen. Die Europäische Union hat für die mittel- und osteuropäischen Republiken das PHARE-Programm aufgelegt, für das 1990 bis 1993 etwa 3,34 Mrd. ECU (das sind 6,7 Mrd. DM) an technischer Hilfe eingesetzt wurden. Für die Staaten der GUS gibt es das TACIS-Programm, in dessen Rahmen humanitäre Hilfe, Kreditgewährung und technische Hilfe abgewickelt werden. Die Aufwendungen betrugen zwischen 1990 und 1993 3,57 Mrd. ECU, also etwas über 7 Mrd. DM. Der Anteil der Bundesrepublik an diesen Programmen beträgt jeweils 28 Prozent. Schließlich gibt es auch internationale Unterstützungsprogramme der G-7 bzw. G-24, die abgewickelt werden über Institutionen wie den Internationalen Währungsfonds (IWF), die Weltbank und die Europäische Bank für Wiederaufbau und Entwicklung (EBRD). Europa macht mehr für den Osten als alle anderen Länder zusammen. So wurden für die GUS bisher insgesamt 85,3 Mrd. ECU (über 170 Mrd. DM) an Programmen beschlossen. Davon trug die Europäische Union 54,1 Mrd. ECU, was einem Anteil von 61,4 Prozent entspricht. Die [Seite der Druckausg.: 43] internationalen Programme von IWF, Weltbank und EBRD konnten dagegen nur 4,34 Prozent der Gesamtprogramme ausmachen, die Vereinigten Staaten tragen 12,99 Prozent, Japan 5,47 Prozent. Interessant ist ein Vergleich der Kaufkraft der bisher beschlossenen Programme mit den Investitionen des Marshall-Plans aus der frühen Nachkriegszeit. Der Vergleich ergibt, daß die Aufwendungen nach Kaufkraft gemessen ungefähr identisch sind. Aber es gibt einen großen Unterschied: der Erfolg steht in keinem Verhältnis zum Aufwand. Es gibt kaum glückliche Empfänger, sondern auf deren Seite zunehmend Kritik, ja Frustration. Das liegt an einer Mängelliste der internationalen Hilfsprogramme. Zunächst einmal sind längst nicht alle zugesagten Gelder auch tatsächlich geflossene Gelder. Vieles wird beschlossen, was nachher mit jahrelanger Verzögerung oder gar nicht umgesetzt wird. Und außerdem sind gravierende konzeptionelle Mängel der westlichen Hilfspolitik deutlich geworden. Man verteilt Geld nach dem Gießkannenprinzip, man setzt eine viel zu große Priorität auf die Beratungshilfe und hat zuwenig Mittel für direkte Investitions- und Kooperationsmaßnahmen. Diese Mängel haben sich niedergeschlagen in einem Krach im Europäischen Parlament während der Haushaltsberatungen 1994. Vorübergehend waren 255 Mio. ECU an TACIS-Mitteln blockiert. Interessant ist, was jetzt durch diese Maßnahme an Veränderung erreicht wurde. Inzwischen sind im TACIS-Programm 30 Prozent für um weit- und energieorientierte Projekte reserviert; Maßnahmen zur nuklearen Sicherheit und zur Rüstungskonversion werden jetzt einbezogen; es gibt statt der häufig kritisierten kurzfristigen Maßnahmen häufiger Mehrjahresprogramme; eine bessere Transparenz bei Ausschreibungen ist vorgeschrieben; bei der Beratungshilfe wird stärker der Sachverstand vor Ort herangezogen und schließlich werden jetzt Koordinierungsbüros vor Ort für die europäischen Programme eingerichtet. Auch in der Bundesrepublik sind die Mängel der bilateralen Programme erkannt worden, nicht zuletzt auch durch die Kritik der Opposition. Mitte des Jahres 1993 hat es eine Reorganisation gegeben. Inzwischen sind die bilateralen Programme aufgeteilt auf eine Ländergruppe, die vom Bundesministerium für Wirtschaft und vom Auswärtigen Amt betreut wird; hier fungiert als Koordinator der ehemalige Staatssekretär [Seite der Druckausg.: 44] Kittel. Diese Programme gelten für elf Länder, nämlich die vier Visegrad-Staaten, die drei baltischen Staaten, die Russische Föderation, die Ukraine, Belarus und Bulgarien. Vierzehn weitere Oststaaten befinden sich in der Betreuung des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit. Es sind dies die neun übrigen GUS-Republiken, die drei jugoslawischen Nachfolgestaaten Slowenien, Kroatien und Mazedonien sowie Albanien und Rumänien. Die Bundesrepublik verteilt ihre Mittel jetzt nach sog. Länderkonzepten, in denen 800 Einzelvorhaben registriert sind und die vor Ort durch mittlerweile sieben Büros der Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW) kontrolliert werden. Die Reorganisation hat sicherlich dazu geführt, daß Erfahrungen der Bundesverwaltung besser genutzt werden und daß wenigstens nominell mehr Koordination und Kontrolle vorgesehen ist. Die Mängelliste ist aber immer noch sehr lang. Noch immer beteiligen sich 16 Ministerien mit Einzelprogrammen an der Beratungshilfe. Bei näherem Hinsehen erweisen sich die Länderkonzepte als Additionen von Einzelmaßnahmen. Nach wie vor gibt es praktisch keine Koordination mit den europäischen Programmen oder gar mit den internationalen Bemühungen der G-7. Der häufigste Kritikpunkt ist, daß die bilateralen Maßnahmen der Bundesrepublik auf eine Subvention der sog. "Consulting-Boys" hinausläuft. Das meiste Geld, das ausgegeben wird, fließt zurück in Taschen deutscher Beratungsgesellschaften, die überwiegend Kurzzeitberatungen ohne Follow-up-Programme absolvieren. Typisch ist z.B., daß eine Initiative eines engagierten Wissenschaftlers, der gebrauchte Computer und Rechner in der Bundesrepublik gesammelt hat, um sie in die Russische Föderation zu bringen, über sehr lange Zeit nicht eine einzige Mark erhalten konnte, um wenigstens die Transportkosten für sein äußerst sinnvolles Programm zu erhalten: eine solche Maßnahme war in den Millionenprogrammen der Bundesregierung nicht vorgesehen! Leider wird auch viel zu wenig die Erfahrung genutzt und der Sachverstand, die es bei Fragen der Hilfe für die östlichen Länder in den neuen Bundesländern gibt. Hier stehen zahlreiche Spezialisten zur Verfügung, die über Sprachkenntnisse und Mentalitätserfahrung verfügen und trotzdem kaum eine Chance haben, im Rahmen der Beratungshilfe Verwen- [Seite der Druckausg.: 45] dung zu finden. Im Ergebnis muß man sagen, daß das Image der deutschen Hilfsmaßnahmen im Osten sehr gering ist. Die meisten Empfänger äußern heute Kritik und Unzufriedenheit. Was wir brauchen, ist eine neue Ostpolitik und eine Reorganisation der bisherigen Hilfskonzepte. Ausgangspunkt muß dabei die Überlegung sein, daß der europäische Raum in Zukunft sinnvollerweise nicht mehr geteilt werden kann. Wir befinden uns weltweit in der Konkurrenzsituation der sog. "Triade": In Nordamerika hat es Bill Clinton mit der NAFTA geschafft, einen riesigen Wirtschaftsraum zu organisieren, der Hochlohn- und Niedriglohn-Länder (Mexiko) zusammenführt. Etwas ähnliches gibt es seit längerer Zeit in dem stürmisch sich entwickelnden Wirtschaftsraum Ostasiens mit der APEC. Europa wird diese Konkurrenz nur bestehen, wenn es gelingt, hier ebenfalls einen großen Wirtschaftsraum weit über die Grenzen der Europäischen Union hinaus zu schaffen, zu dem auch Billiglohn-Länder gehören. Das heißt aber, daß in Wirklichkeit die Länder Osteuropas eine ganz andere Rolle für uns haben als nur die Empfänger von Hilfsleistungen. In Wirklichkeit sind sie eine höchst attraktive Kombination aus Beschaffungsmärkten und künftigen Absatzmärkten, also Partner, die erst die westeuropäische Konkurrenzfähigkeit sichern werden und für Impulse des Binnenwachstums des Europäischen Wirtschaftsraums sorgen werden. Wir müssen begreifen, daß wir keine Almosenempfänger vor uns haben, sondern lebenswichtige Partner. Auf dieser Basis sind Reorganisationsmaßnahmen bei der westlichen Hilfe notwendig. In einer neuen Phase der Hilfskonzepte muß die Beratungshilfe umgebaut und reduziert werden. Es geht darum, vor Ort vorhandene Spezialisten und Experten aus den neuen Bundesländern stärker in die Programme einzubeziehen. Sinnvoll sind die Forderungen nach Regionalisierung, wobei eine Erfolgskontrolle vor Ort möglich wird. Mehr als bisher geht es darum, Rahmenbedingungen für private Kapitalinvestitionen und wirtschaftliche Kooperation zwischen West und Ost zu verbessern. In diesem Zusammenhang werden immer wieder Risikokapitalfonds und Exportkreditversicherungen gefordert. Es zeigt sich bisher, daß einerseits wegen der Bedingungen vor Ort, andererseits aber auch wegen mangelnder Risikoabsicherung durch westliche Programme, die notwendigen Auslandsinvestitionen in den östlichen Nachbarstaaten noch viel zu gering [Seite der Druckausg.: 46] sind. Bis Ende 1993 betrugen die westlichen Investitionen in den osteuropäischen Staaten nicht mehr als 19 Mrd. Dollar - mit starken Ungleichgewichten. Zum Beispiel wurden 7 Mrd. Dollar in Ungarn investiert, aber nur 2 Mrd. in der Russischen Föderation. Die Defizite dieser Investitionen lassen sich durch keine noch so geartete Beratungshilfe oder technische Hilfe ausgleichen. Notwendig sind auch Investitionsprogramme und Investitionshilfen zugunsten von Infrastrukturmaßnahmen. Gerade in Deutschland wissen wir aus den Prozessen in den neuen Bundesländern, welche Schlüsselrolle solche Investitionen haben. Für die Nachfolgestaaten der Sowjetunion wird dabei auch die Abrüstungshilfe eine große Rolle spielen. Es ist beschämend, daß die Vereinigten Staaten mittlerweile 1,2 Mrd. Dollar in drei Jahren bewilligt haben, um die Beseitigung von 30.000 Atomsprengköpfen und 40.000 t C-Waffen in der Russischen Föderation und in der Ukraine technisch zu unterstützen. Die Bundesrepublik gibt für diese Zwecke im laufenden Haushaltsjahr nicht mehr als 9 Mio. DM aus! Ein entscheidender Punkt ist aber die tatsächliche Marktöffnung für Produkte aus den osteuropäischen Ländern. Jedes Konzept der sog. "Hilfe durch Selbsthilfe" wird dadurch erst glaubwürdig. Marktöffnung ist auch Gegenstand der sechs Assoziationsverträge und wurde auf dem Kopenhagener Europagipfel im Sommer letzten Jahres beschleunigt. Leider allerdings nur in Form von Willensbekundungen, die kaum in der Realität umgesetzt werden. Es gibt unzählige Klagen darüber, daß in der Praxis immer neue Schikanen protektionistischer Natur auftauchen, vor allem durch sogenannte "nichttarifäre Handelshemmnisse", die den Zweck haben, die westlichen Märkte zu schützen. Der viel bessere Beitrag zur Entwicklung unserer östlichen Nachbarländer wäre eine großzügige Öffnungspolitik, die verzichtet auf Strafzollsysteme, auf die ständige Anwendung allgemeiner oder besonderer Schutzklauseln und die letztlich einen "gesamteuropäischen Binnenmarkt" als Ziel hat. Selbstverständlich kann dies nur bei einer schrittweisen Übernahme westlicher Standards ganz besonders im Umweltbereich geschehen, während die komparativen Vorteile bei den Lohnkosten im Sinne der o.g. Gesamtkonkurrenzfähigkeit des Europäischen Wirtschaftsraumes für beide Seiten von Vorteil sein können. [Seite der Druckausg.: 47] Gestatten Sie mir zum Abschluß noch eine Bemerkung zu der Bedeutung einer neuen Ostpolitik dieser Art für die Standortbestimmung Deutschlands in Europa überhaupt. Was uns am wenigsten ansteht, ist ein geopolitischer Egoismus, wie man ihn im gegenwärtigen Regierungshandeln der Bundesrepublik erkennen kann. Hier tauchen immer wieder Vorschläge auf, die letztlich zum Ziel haben, lediglich die Bundesrepublik geopolitisch in die Mitte Europas rücken zu lassen, z.B. durch eine Erweiterung der NATO und einer Erweiterung der Europäischen Union um unsere unmittelbaren östlichen Nachbarstaaten. Solche Konzeption wird immer die Kritik derer auf sich ziehen, die Angst vor einer deutschen Vormachtstellung in Europa empfinden. Wer Ostpolitik und westliche Hilfspolitik nur aus solchen kurzsichtigen Interessen betreibt, ist unsensibel und verpaßt wertvolle Chancen. Gerade Deutschland hat wertvolle Erfahrungen aufzuweisen bei dem Modell der Integration der neuen Bundesländer. Ganz Europa hat Erfahrungen mit der Integration in der Europäischen Union. Diese Erfahrungen müssen jetzt genutzt werden auf dem Weg zu einem gesamteuropäischen Binnenmarkt zum Nutzen der westlichen wie der östlichen Staaten. Und letztlich bleibt dann noch die große Aufgabe, die auseinanderstrebende Entwicklung zwischen der Ersten Welt und der Dritten Welt unter Kontrolle zu bringen und auch hier eine große Integrationsleistung anstelle der drohenden Ausgrenzung anzugehen. Wenn man zurückkehrt zu dem eingangs gewählten Bild des Clubs der Privilegierten, so heißt dies: Je mehr es schaffen, durch die Tür zu kommen und in den Besitz der doppelten Zutrittsdokumente zu gelangen, desto weniger ist es verantwortbar, einzelne vor der Tür zu lassen und auszugrenzen. Sie werden dann Ausgangspunkt von Unruhe, Unzufriedenheit und einer Bedrohung der Entwicklung des ganzen Clubs sein. Dieser wird sich gegen seine Konkurrenten nur behaupten können, wenn er der Versuchung widersteht, die eigenen Privilegien gegen die unmittelbaren Nachbarn verteidigen zu wollen. [Seite der Druckausg.: 48 = Leerseite] © Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | April 2003 |