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TEILDOKUMENT:


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Bernd Knabe
Migrationen in und aus Osteuropa




Migranten, Flüchtlinge und Vertriebene nach 1989 - Ursachen und Krisenmanagement

Initialzündung für die verschiedenen Wanderungsströme, die sich in den letzten Jahren in und aus Ost- und Südosteuropa beobachten lassen und in zunehmendem Maße auch die Nachbarländer bzw. die internationale Staatengemeinschaft beschäftigen, war Gorbatschows Perestrojka, die auf die Selbständigkeit und Reformfähigkeit der einzelnen Satellitenländer setzte und konsequenterweise die Aufrechterhaltung des "Eisernen Vorhangs" nicht mehr für erforderlich hielt. Die Tiefe und das Tempo der Veränderung des politischen Systems in den einzelnen Ländern waren sehr unterschiedlich, doch besteht das gemeinsame Merkmal dieser Wandlungsprozesse in ihrer Gewaltlosigkeit (Selbst in Rumänien handelte es sich eher um einen inszenierten Putsch der einen gegen die andere sozialistische Führungsgruppe.) Durch politische und wirtschaftliche Reformen sollte ein Systemwandel erreicht und der Bevölkerung eine lebenswerte Perspektive aufgezeigt werden.

Hatten die sowjetische Führung und der Warschauer Pakt in den vier Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg die 1944/45 vereinbarten Grenzen zementiert, und hatten die Regierungen der Satellitenländer und auch Jugoslawiens das Aufkommen nationaler Spannungen unterbunden, so ermöglichte der Umbruch eine stärker auf nationale Interessen abzielende Politik der einzelnen Länder. Daß damit insbesondere die Stabilität von Vielvölkerstaaten, zumal bei bestehender oder vermuteter Dominanz eines Teilstaats oder einer Nation, prinzipiell gefährdet wurde, liegt auf der Hand. Ebenso war es nunmehr möglich, die oft willkürlichen Grenzziehungen nach den beiden Weltkriegen in Frage zu stellen. Waren die Menschen über Generationen im Geist des "sozialistischen Internationalismus" erzogen worden, so kamen nun wieder stärker nationale und nationalistische Gefühle, oft auch Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus, zum Vorschein.

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Auch wenn die Regierungen der Reformstaaten eine Nationalitätenpolitik bzw. Regelungen des Minderheitenschutzes auf ihre Fahnen geschrieben haben, die dem internationalen bzw. europäischen Standard entsprechen, so sind sie oft nicht ohne weiteres in der Lage, diese Prinzipien auch umzusetzen. Besonders schwierig ist die Situation in den neugegründeten Staaten, für die die Durchsetzung und Sicherung der nationalen Unabhängigkeit oberste Priorität hat. Werden nun aber ethnische Minderheiten diskriminiert bzw. wird dies von ihnen so empfunden, oder werden allgemeine Menschenrechte nicht gewährt bzw. gesichert, so versuchen die Betroffenen durch Schaffung einer Autonomie oder eines eigenen Staates bzw. durch Abwanderung in die "historische Heimat" eine Verbesserung ihrer Lage zu erreichen. Primär national orientierte Regierungen können ihrerseits versuchen, mißliebige Gruppen aus dem Land zu vertreiben oder deren Flucht zu provozieren. Eine wichtige Komponente des Migrationsgeschehens in den Reformländern besteht schließlich in der Wiederherstellung normaler Proportionen in der Bevölkerungsverteilung. Wo also die frühere ideologisch begründete Industrialisierungs- und Migrationspolitik zu entsprechenden künstlichen Allokationen geführt hatte, ist nun mit Rückwanderungsprozessen zu rechnen. Freilich dürften die Unsicherheiten der gegenwärtigen Transformationsperiode bei vielen Betroffenen zu einer Verschiebung ihres Migrationsvorhabens führen.

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Internationale Implikationen der Ost-West-Wanderungen nach dem Umbruch

Nach Herstellung von "Reisefreiheit" und wegen der für die meisten Menschen in Osteuropa unerwartet großen sozioökonomischen und politischen Schwierigkeiten des Transformationsprozesses hat sich ein erheblicher Teil der Bevölkerung jedes dieser Länder auf einen vorübergehenden Arbeitsaufenthalt im Ausland bzw. auf die definitive Emigration eingestellt. Die Massenflucht von Albanern nach Italien und Griechenland 1990 und 1991 sowie der enorm vergrößerte Umfang der Wanderungen haben allgemein zu der Erkenntnis geführt, daß man es mit einer qualitativ neuen Komponente von Ost-West-Beziehungen zu tun hat. Die Informationspolitik mancher Länder Osteuropas sowie

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übermäßige Ängste in Teilen der Bevölkerung Mittel- und Westeuropas haben seit 1991 zu Horrorvisionen einer nicht mehr aufzuhaltenden neuen Völkerwanderung geführt.

Im Zeitraum 1990/91 sind vermutlich aus der Sowjetunion und aus Rumänien jeweils etwa 1 Mio. Menschen ausgereist; insgesamt dürften etwa 1 Mio. Osteuropäer in Westeuropa einen Asylantrag gestellt haben, eine ebenso große Zahl ist wahrscheinlich illegal eingereist. Nach einer neueren russischen Darstellung sind 1990 aus der Sowjetunion 700.000 und 1991 "doppelt so viele Menschen" ausgewandert, während die Zahlen für Rußland in diesem Zeitraum erstmals wieder rückläufig gewesen seien. 1991 und vor allem 1992 wirkte sich auf die Dynamik vor allem der Bürgerkrieg in Jugoslawien aus - hätte man die Flüchtlingsströme sich selbst überlassen, so wäre nicht nur jeder fünfte der etwa 2,5 Mio. Flüchtlinge ins Ausland gegangen, sondern ein deutlich größerer Teil. Die militärischen Konflikte auf dem Gebiet der früheren Sowjetunion, die reale Gefahr des Entstehens und der Eskalation weiterer Konflikte sowie das keineswegs auszuschließende Eintreten von Hunger- und Umweltkatastrophen können in den nächsten Jahren zu erheblichen Migrations- und Flüchtlingsströmen führen, die auch das Ausland massiv betreffen würden. Auch unter "normalen Umständen" möchten nahezu 20 Mio. Osteuropäer nach Westeuropa auswandern, wie eine EG-Umfrage im Herbst 1992 ergab. Die seit dem 30. Januar 1993 gültigen "Provisorischen Regeln für die Ausgabe von Auslandspässen an Bürger der Russischen Föderation" sollen eine praktikable Handhabung des in Kraft gesetzten Reisegesetzes der UdSSR ermöglichen; faktisch hat sich aber an den Modalitäten bis März 1993 nichts geändert. Erst das für die nächste Zeit angekündigte Reisegesetz Rußlands, die Versorgung der Bevölkerung mit Reisepässen und eine gewisse Beruhigung der innenpolitischen Lage könnten in der Zukunft zu einem "normalen" Migrationsverhalten der Russen führen. [Fn_1: Rossijskie vesti (weiter als RV), 18.11.1992, S. 2; Verordnung über Auslandsreisen vom 28.1.1993, in: Rossijskie vesti, 16.2.1993, S. 4; Rheinische Post, 25.2.1993. Über die noch im März 1993 bestehenden Probleme bei der Paß- und Visaausstellung vgl. Sobesednik, 9, 1993, S. 10.]

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Neben den Ost-West-Wanderungen in Europa im engeren Sinne, von denen die Bewohner der europäischen Staaten in unterschiedlicher Weise tangiert sind, darf die Transitfunktion Osteuropas für Wanderungen aus Ländern der Dritten Welt nach Westeuropa und Nordamerika nicht übersehen werden. Hatte bis Ende der achtziger Jahre vor allem die DDR eine entsprechende Rolle gespielt, so waren danach die Tschechoslowakei und Polen bevorzugte Länder für die illegale Weiterwanderung nach Westen. Die intensiven Bemühungen der internationalen Gemeinschaft seit 1991 haben aber inzwischen zu einer deutlichen Verschärfung von Grenzkontrollen, Aufnahme- und Transitregelungen in diesen und auch zunehmend in den südlich angrenzenden Ländern Ungarn, Bulgarien und Rumänien geführt, so daß nun Rußland zunehmend ins Blickfeld von Migranten und Flüchtlingen gerät.

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Zur Migrationslage im Bereich der früheren Sowjetunion

Seit 1992 ist Rußland, wie es in einer Reportage über Flüchtlinge aus Ländern der Dritten Welt in Rußland hieß, zum "offensten Land in Europa" geworden. Tausende gelangen legal oder illegal nach Rußland und hoffen, nach West- und Nordeuropa bzw. nach Nordamerika Weiterreisen zu können. Da ihnen dies meist nicht gelingt, versuchen sie über das Baltikum oder Polen illegal in ihr Wunschland zu gelangen.

In Moskauer Zeitungen erscheinen Inserate touristischer Firmen, die die Beschaffung von Ausreisevisa anbieten. In den letzten zwei Jahren sollen mehr als 250.000 Menschen illegal aus Rußland nach Europa gelangt sein. Nachdem seit Herbst 1992 aufgrund verschärfter Personenkontrollen dieser direkte Weg nicht mehr sicher genug schien, soll jetzt der sog. "Transitweg" besonders populär sein: Die Flüchtlinge unterbrechen ihre nach Kuba oder in ein anderes südamerikanisches Land gebuchten Flüge beispielsweise in Kanada oder Dänemark und versuchen, dort einen Asylantrag zu stellen.

Anfang 1993 soll es allein in Moskau etwa 120.000 illegale Ausländer aus Ländern der Dritten Welt gegeben haben, daneben größere Kontingente in den Schwarzmeerhäfen, in Kiew, St. Petersburg sowie den

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baltischen Hauptstädten Riga und Tallinn. Anfang 1993 war Rußland der einzige Nachfolgestaat der Sowjetunion, der die internationalen Flüchtlingskonventionen unterzeichnet hatte; die notwendige Ratifizierung war allerdings ebenfalls noch nicht erfolgt. [Fn_2: Moskovskie novosti (weiter als MN), 50, 1992, S. 4.]

Nachdem die sowjetische Führung seit Ende der fünfziger Jahre offenbar auf den direkten Einsatz von Gewalt zur Unterdrückung national-religiöser Bewegungen verzichtet hatte, führte das kontinuierlich wachsende Selbstbewußtsein der Völker zu antirussischen Einstellungen, die sich bald auch öffentlich bemerkbar machten. Diese Konstellation bewirkte, daß es bereits seit den siebziger Jahren zur Abwanderung von Russen und Angehörigen anderer slawischer bzw. europäischer Volksgruppen aus Transkaukasien und Mittelasien kam. [Fn_3: M. Titma/N. Tuma, Berichte des BlOst, 22, 1992, S. 2; V. Perevedencev, in: Moskau News, 2, 1993, S. 7.] Nach 1985/86 verstärkten sich diese Tendenzen. Festzuhalten ist, daß es zu den ersten größeren Flüchtlingsströmen vor den Unabhängigkeitserklärungen der Nachfolgestaaten der Sowjetunion gekommen ist und daß es sich dabei nur ausnahmsweise um Russen gehandelt hat (in erster Linie flüchteten Mescheten aus dem Ferganatal, Azeris und Armenier im Zusammenhang mit dem Karabachkonflikt). Verschiedene Indizien lassen vermuten, daß die sowjetische Zentralregierung bis zuletzt versuchte, solche Konflikte zu provozieren bzw. zu verschärfen, um so die Notwendigkeit des Fortbestehens der Sowjetunion unter Beweis zu stellen. [Fn_4: Vgl. beispielsweise die Vorwürfe des Obersten Sowjet Aserbaidschans an die Adresse der früheren sowjetischen Führung, in: Nezavisimaja gazeta (weiter als NG), 21.1.1993, sowie ähnliche Versuche im Baltikum.]

Mit der Konstituierung der 15 Nachfolgestaaten der Sowjetunion sah sich die Regierung Rußlands zu einer Modifizierung ihrer Strategie veranlaßt. So versucht sie durch verschiedene Instrumente, möglichst das gesamte Areal der zusammengebrochenen Sowjetunion zur Sphäre ihrer lebenswichtigen Interessen zu machen. Die stärksten Trümpfe sind dabei die Anwesenheit der Streitkräfte und der Grenztruppen sowie russischer Bevölkerungsteile. Außerdem versucht Moskau, möglichst moskauorientierte Regierungen in den Nachfolgestaaten an der Macht zu erhalten bzw. solche an die Macht zu bringen. Alle diese Faktoren und

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Aktivitäten haben aber nicht verhindern können, daß es zu einer verstärkten Abwanderung von Russen und Angehörigen anderer Volksgruppen aus nahezu allen Nachfolgestaaten gekommen ist und daß im Zusammenhang mit bewaffneten Auseinandersetzungen regelrechte Flüchtlingsbewegungen stattgefunden haben.

Anfang 1993 war die Chefin des Föderalen Migrationsdienstes Rußlands, T. Regent, nicht in der Lage, die Gesamtzahl der Flüchtlinge einzuschätzen. [Fn_5: Rabocaja tribuna, 16.1.1993.] Bei den vermutlich 300.000 Flüchtlingen in Südrußland (Ende 1992) handelt es sich um Russen und Armenier aus den Konfliktzonen Karabach, Abchasien und Ossetien sowie aus der Republik Tschetschnja, bei der etwas geringeren Zahl im südlichen Westsibirien um Flüchtlinge aus Tadschikistan (Russen und andere russischsprachige Europäer) sowie um Abwanderer aus den übrigen mittelasiatischen Staaten, die für sich oder ihre Kinder dort keine Zukunftsperspektiven mehr sahen.

Die dramatische Eskalation des Bürgerkriegs in Tadschikistan im Herbst 1992 führte zu erheblichen Flüchtlingsströmen innerhalb des Landes - am Jahresende angeblich 800.000 Menschen - und nach außerhalb. Während russische Grenztruppen tadschikische Flüchtlinge im allgemeinen nicht am Überschreiten der Grenze nach Afghanistan gehindert haben (zwischen 50.000 und 100.000), sind Russen und "Russischsprachige" aus dem südlichen in den nördlichen Landesteil geflohen (vor allem aus dem Gebiet Kurgan-Tjube nach Kuljab). Zum Jahresende 1992 kam es zwar, primär durch die Unterstützung russischer und usbekischer Verbände, zu einer gewissen Stabilisierung der Lage durch die pro-russische "Volksfront", doch werden unverändert militärische Auseinandersetzungen in verschiedenen Landesteilen und auch an der Grenze zu Afghanistan gemeldet; viele halten darüber hinaus im Frühsommer 1993 eine neuerliche Offensive der islamischen Nationalisten für wahrscheinlich. Mehrere hunderttausend Menschen sollen "auf gepackten Koffern" sitzen und wollen das unruhige Land baldmöglichst verlassen. [Fn_6: NG, 23.12.1992, 11. und 20.1.1993; Izvestija (weiter als Iz), 22.1.1993; RV, 17.2.1993.]

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Ähnliche Entwicklungen in anderen GUS-Staaten können nicht ausgeschlossen werden. In diesem Zusammenhang wird immer wieder darüber spekuliert, daß die 25 Mio. Russen und die übrigen ca. 50 Mio. Menschen, die außerhalb "ihrer" Staaten leben, bald schon zu Flüchtlingen werden könnten und daß eine "Jugoslawisierung" der gesamten Region zu befürchten sei. Eine Apokalypse ungeahnten Ausmaßes sieht beispielsweise der Futurologe I. Bestushew-Lada voraus, der eine Neuauflage der Flüchtlings- und Hungerjahre von 1921/22, 1932/33 und 1946/47 für die Zeit ab 1995 befürchtet. [Fn_7: RV, 20.10.1992.] Die sehr unterschiedlichen Prognosen über den Umfang der in den nächsten Jahren vermutlich nach Rußland kommenden Menschen lassen vermuten, daß mit solchen "Kalkulationen" auch bestimmte politische Ziele verfolgt werden. Während untere Schätzungen von 2-3 Mio. Russen ausgehen, die bis zum Ende des Jahrzehnts nach Rußland zurückkehren werden - was lediglich ;eine Fortschreibung des bisherigen Trends bedeuten würde -, halten andere bis zu 10 Millionen bereits "in den nächsten Jahren" für möglich. [Fn_8: Überblick über verschiedene Schätzungen, in: B. Knabe, Berichte des BlOst, 43, 1992, S. 19.]

Die Regierung und der Oberste Sowjet Rußlands haben sich erst spät und mit wenig Nachdruck um die Regelung des Flüchtlingsproblems gekümmert. Anfang 1992 wurde beim Arbeitsministerium ein Komitee für die Angelegenheiten der Bevölkerungsmigration eingerichtet, das im Juni durch den "Föderalen Migrationsdienst Rußlands" abgelöst wurde. Hatten sich zuvor in den einzelnen Gebieten die Organe für Arbeit und die Arbeitsämter um die Flüchtlinge und Übersiedler gekümmert, so wurden nun in den stärker betroffenen Gebieten territoriale Organe des Migrationsdienstes eingerichtet. Gleichzeitig verabschiedete die Regierung ein Programm "Migration". Die Konzeption der Regierung strebt - über die Schaffung einer umfassenden Migrationskontrolle in ganz Rußland - eine Regulierung der Migrationsströme an; in Abstimmung mit den Nachbarstaaten sollen möglichst Jahresquoten für die Übersiedlung von Russen vereinbart werden. Mit der Unterbringung heimkehrender Militärangehöriger ist der Dienst nicht befaßt, doch fallen evakuierte Familienangehörige von Offizieren in seine Kompetenz.

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Solange die Gesetze über "Flüchtlinge" und "Übersiedler" noch nicht in Kraft getreten waren, mußten Polizeistellen bzw. die Mitarbeiter des Dienstes die Ankommenden nach den Bestimmungen "Provisorischer Verordnungen" auf die beiden Kategorien aufteilen. Als Flüchtling wurde anerkannt - und dies war die Voraussetzung für den Erhalt einer einmaligen Unterstützung sowie Hilfe bei der Suche nach Wohnung und Arbeitsplatz -, wer seinen Wohnort unter Lebensgefahr verlassen mußte. Ende Oktober 1992 kamen dafür nur frühere Bewohner Georgiens, Tadschikistans, Moldovas, Aserbaidschans und der Tschetschnja in Frage; der Antragsteller brauchte lediglich den früheren Wohnsitz nachzuweisen, mußte also nicht konkrete Vertreibungsgründe benennen. Bis Anfang Dezember 1992 waren in Südrußland und Westsibirien sechs Aufnahmestellen eingerichtet worden, die auch für die Weiterleitung der Flüchtlinge in Gegenden mit Arbeitskräftebedarf zuständig waren, offenbar vor allem in die Nicht-Schwarzerde-Zone Mittelrußlands, dabei auch in die durch Tschernobyl stark geschädigten Gebiete Brjansk und Orjol. Nach Moskau, in das Gebiet Moskau, nach St. Petersburg und in das Gebiet Kaliningrad darf offiziell nur zuziehen, wer dort Verwandte hat, die über ausreichend Wohnraum verfügen. [Fn_9: Rossijskaja gazeta, 1.12.1992; RV, 10.12.1992; Trud, 12.1.1993; KomPr, 4.2.1993; LG, 8, 1993, S. 4.]

Der Oberste Sowjet Rußlands hat am 19. Februar 1993 die Gesetze über Flüchtlinge und über erzwungene Übersiedler angenommen. Nach diesen Bestimmungen werden als "Flüchtlinge" vor allem Ausländer aus Staaten außerhalb des GUS-Bereichs (einschließlich baltische Staaten) bezeichnet, als "Übersiedler" alle, die die russische Staatsangehörigkeit annehmen (Dies ist prinzipiell für alle Bewohner der früheren Sowjetunion möglich.)

Seit 1992/1993 scheint eine immer größere Zahl von Chinesen, unter dem Vorwand touristischer oder offizieller Geschäftsreisen, zu kurz- oder längerfristigen Aufenthalten zwecks Handels- und Arbeitsaktivitäten nach Rußland, Kasachstan und Kirgisien einzureisen; die Zuwanderungen von Koreanern (aus beiden Landesteilen) und Vietnamesen scheinen dagegen nur eine untergeordnete Rolle zu spielen. Die Reiseaktivitäten von Mongolen sind offenbar auf die Republiken Tuwa und

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Burjatien beschränkt. Anfang 1993 war eine erste Vereinbarung zwischen Rußland und China über die Beschäftigung von Chinesen in Rußland getroffen worden. Der am 26. Mai 1993 eingeführte visafreie Verkehr zwischen beiden Ländern sollte - aufgrund zahlreicher Mißbräuche - durch eine am 29. Januar 1994 erfolgte Änderung stärker reglementiert werden, wobei aber nach wie vor Touristengruppen keine Visa benötigen. Bereits Mitte 1993 erklärte einer der Leiter der Assoziation "Sibirische Übereinkunft", W. Iwankow, daß für Sibirien und den Fernen Osten von einer Million Chinesen ausgegangen werden müsse. Für die Diskrepanz zwischen offiziellen Zahlen und der realen Situation spricht, daß der Föderale Migrationsdienst für das Fernost-Gebiet Primorje von knapp 3.000 Ausländern, darunter lediglich 1.620 Chinesen, ausging, während in vielen Berichten davon die Rede ist, daß die Chinesen inzwischen nahezu 10 Prozent der Bevölkerung des Fernen Ostens (von sieben Millionen) erreichen und in einigen Kreisen bereits die Bevölkerungsmehrheit stellen. Aber selbst für Moskau wurde Anfang 1994 "nach äußerst bescheidenen Schätzungen" von nahezu 100.000 Chinesen ausgegangen. In den folgenden Monaten haben in nahezu allen südsibirischen Gebieten Stadtverwaltungen und bestimmte "gesellschaftliche Gruppen" (v.a. die Kosaken) begonnen, Aktionen gegen illegale Zuwanderer durchzuführen. [Fn_10: RV, 4.3.1993; MN Nr. 38, September 1993; Sibirskaja gazeta Nr. 35 und 36, September 1993; Iz, 22.6., 8.7. und 2.11.1994; Megapolis Express Nr. 1 vom 5.1.1994 und Nr. 16 vom 18.5.1994.]

Zur Bewältigung der in diesem Kontext entstandenen Probleme erließ Präsident Jelzin einen Ukas "Über die Heranziehung und Nutzung ausländischer Arbeitskraft in der Russischen Föderation". Dadurch wird eine solche Beschäftigung genehmigungspflichtig, außerdem sind Quoten für die Regionen Rußlands (und dort darüber hinaus für bestimmte Berufsgruppen) vorgesehen. Bei der Besetzung eines freien Arbeitsplatzes soll ab sofort eine bestimmte Prioritätenliste gelten - an erster Stelle rangieren demnach russische Staatsbürger, gefolgt von Flüchtlingen aus dem nahen Ausland und denjenigen, die sich ständig in Rußland aufhalten. Erst an vierter und letzter Stelle dürfen ausländische Arbeitskräfte eingestellt werden. Wenn dies geschieht, müssen sie den gleichen

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Lohn wie ihre russischen Kollegen erhalten und auch einen vergleichbaren sozialen Status haben (einschließlich ihrer mit ihnen zusammenlebenden Familienangehörigen). Diejenigen Ausländer, die sich bereits in Rußland aufhalten, müssen sich innerhalb der nächsten drei Monate um eine Genehmigung bemühen, wobei es Ausnahmen gibt. Spezielle Regelungen sind darüber hinaus beispielsweise für Moskau eingeführt worden. [Fn_11: MN Nr. l, Januar 1994. Über die Regelungen für Moskau vgl. Iz, 18.6.1994.] Um einigen bei der "Abwicklung" in Sibirien entstandenen Problemen entgegenzuwirken, erließ das Arbeitsministerium im April 1994 eine Anordnung, wonach den Betroffenen sowohl die Übersiedlungskosten bezahlt als auch eine Kompensation für die in individuellen Arbeitsverträgen vereinbarten sonstigen Vergünstigungen gewährt werden müsse. [Fn_12: Kommersant Nr. 15, April 1994.]

Bereits im Herbst 1993 erklärten offizielle Vertreter Rußlands, daß das Land die Verpflichtungen nicht erfüllen könne, die sich aus dem Beitritt zur Genfer Flüchtlingskonvention ergaben. Das Moskauer Büro des UNHCR begann trotzdem mit der Registrierung von Asylbewerbern und bemühte sich um ihre provisorische Unterbringung. Von russischer Seite wurde dagegen praktisch nichts unternommen; bis Mitte 1994 war noch kein einziges Lager für Asylbewerber eingerichtet worden. Unter der Überschrift "Rußland ist zum Mekka für illegale Migranten geworden" wurde im April 1994 ein Interview mit Ju. Archipov veröffentlicht, [Fn_13: NG 6.11.1990.] dem Chef der Verwaltung für Außenmigration des Föderalen Migrationsdienstes. In erstaunlicher Offenheit teilte er mit, daß Rußland die Genfer Konvention nur deshalb ratifiziert habe, um westliche Hilfe für russische Binnenflüchtlinge zu erhalten. Da dies nicht geschehen sei, sehe sich Rußland zu einer Revision des Flüchtlingsgesetzes gezwungen. Die bis März 1994 vom UNHCR registrierten 50.000 Asylbewerber müßten sich einer neuerlichen Registrierung durch den Föderalen Migrationsdienst unterziehen, da das Verfahren vom UNHCR nicht ordnungsgemäß und ohne Abstimmung mit der russischen Regierung erfolgt sei. Immerhin kündigte er für den Frühsommer 1994 die Eröffnung eines ersten Aufnahmelagers im Gebiet Perm an, weitere zehn bis

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zwölf Lager würden danach folgen. Wenn sich Asylbewerber nicht an das geplante strikte Reglement hielten, müßten sie mit ihrer Deportation rechnen, wie bereits 1993 mit einigen Chinesen und Vietnamesen geschehen. [Fn_14: NG 9.1.1994.] Wenn Außenminister Kosyrew Ende 1993 durch verschiedene Initiativen die Bereitschaft Rußlands signalisierte, eine größere Rolle bei globalen Flüchtlingsproblemen zu übernehmen, so muß dieses Angebot angesichts des Versagens russischer Flüchtlingspolitik in den letzten Jahren einige Verwunderung hervorrufen. Rußland möchte Vollmitglied des UNHCR werden und in dessen Exekutivkomitee aktiv mitarbeiten. Als Instrumente der Flüchtlingspolitik möchte Kosyrew die KSZE und den Rat für nordatlantische Zusammenarbeit mit größeren Kompetenzen ausstatten.

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Internationale Implikationen

Die EG-Länder bemühen sich seit 1985 um eine möglichst weitgehende Vereinheitlichung ihrer Flüchtlingspolitik, wobei der Anlaß dafür das damals vereinbarte Schengen-Abkommen über die Herstellung eines "Europa ohne Grenzen" war. Ein erster Erfolg wurde 1990 mit der Annahme der Dubliner Konvention erzielt. Im Rahmen der Vereinbarungen von Maastricht wurde auch die Harmonisierung der Einwanderungspolitik vereinbart, was die Familienzusammenführung, die Behandlung der illegalen Migration, die Ausweisungspraxis sowie die Beschäftigung ausländischer Arbeitskräfte (aus Nicht-EG-Ländern) umfaßt. In der Regie des 1985 in Genf eingerichteten Sekretariats der Informellen Konsultationen über Asyl-, Flüchtlings- und Migrationspolitik in Europa, Nordamerika und Australien, an dem 16 Staaten beteiligt sind, wurde 1990 ein "Strategieprogramm" erarbeitet, das Massenemigrationen durch Einwirkung auf die auslösenden Faktoren reduzieren möchte. [Fn_15: J. Widgren, Die Notwendigkeil einer besseren Koordination der europäischen Asyl- und Wanderungspolitik (unveröffentlichtes Manuskript eines Referats), München 1992.]
Dabei gehen die Verfasser davon aus, daß solche Strategien erst langfristig zum Tragen kommen können und folglich mittel- und kurzfristige Maßnahmen der Asyl- und Migrationspolitik unverzichtbar sind. Das "Strategieprogramm" enthält fünf Schwerpunkte:

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  1. Stärkere Zusammenarbeit zwischen den beteiligten Staaten und den osteuropäischen Staaten zur Umsetzung des Systems der Dubliner Konvention;

  2. Beschleunigung des Asylverfahrens und einer etwaigen Abweisungsentscheidung im Zusammenhang mit Rückführungs- und Wiedereingliederungsprogrammen;

  3. Förderung von Projekten in den Herkunftsländern, in Abstimmung mit den jeweiligen Regierungen, zur Verringerung des Auswanderungsdrucks;

  4. eine neue Konzeption für die Entwicklungshilfe, die auch Migrationsfaktoren und die Bevölkerungspolitik berücksichtigt;

  5. Optimierung der Funktionsweise der relevanten internationalen Strukturen, um eine stärker aufeinander abgestimmte Politik zu erreichen (EG, OECD, KSZE und UN): Die UN müßte baldigst eine Initiative unterbreiten, um einen bislang nicht vorhandenen Dialog zwischen Süd und Nord zu ermöglichen.

Die deutsche Bundesregierung bemüht sich, im Rahmen dieser international möglichen bzw. anzustrebenden Maßnahmen ihren Anteil zur "Normalisierung" der Ost-West-Wanderungen beizutragen. Dabei ist Deutschland in mehrfacher Hinsicht besonders exponiert: Es hat unverändert mit einem sehr starken Zuwanderungsdruck von deutschstämmigen Aussiedlern, Asylsuchenden und Bürgerkriegsflüchtlingen aus dem ehemaligen Jugoslawien zu tun. Die bisher nicht erfolgreichen Bemühungen der internationalen Gremien um eine Beendigung des Bürgerkriegs auf dem Balkan und um Überlebensgarantien für die dortigen Flüchtlinge führen zwangsläufig zu einer pessimistischen Stimmung dort und in ähnlich sensiblen Regionen Europas. Der schwierige Abstimmungsprozeß auf internationaler Ebene wird in vielen Ländern, besonders auch in Deutschland, durch gegensätzliche Einstellungen der verschiedenen politischen Lager zusätzlich kompliziert. Ohne

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anhaltend intensive Bemühungen der damit befaßten internationalen Gremien, ohne ein stärkeres Aufeinanderzugehen der involvierten Länder und ohne die Bereitschaft zur Einführung prinzipiell neuer Elemente der Migrationspolitik (G. Becker) [Fn_16: Vorschläge des Nobelpreisträgers für Wirtschaftswissenschaften 1992 über "Eintrittspreise für Immigranten", in: NZZ, 4.11.1992.] muß in den nächsten Jahren mit erheblichen migrationsbedingten Störungen in der Weltpolitik gerechnet werden.

[Seite der Druckausg.: 40 = Leerseite]


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