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Werner Brecht
Wanderungs- und Flüchtlingsbewegungen -
Zu Ursachen und Entwicklungen eines weltweiten Problems


Überblickt man die Ereignisse der letzten Jahre in Europa und der Welt, so scheint es, daß jene Formen von Politik, die Opfer von Zwangswanderungen schaffen, immer rücksichtsloser betrieben werden, daß die politische Auseinandersetzung kompromißloser und blutiger wird, daß Menschen- und Minderheitenrechte immer weniger Beachtung finden. So wurden allein 1992 weltweit 29 Konflikte mit militärischer Gewalt ausgetragen, wobei sechs Millionen Menschen den Tod fanden. Die Zahl der Menschenrechtsverletzungen, die 1993 beim Menschenrechtszentrum der Vereinten Nationen in Genf zur Anzeige kamen, stieg auf 300.000, siebenmal soviele wie im Vorjahr. Ebenso besorgniserregend ist die Zunahme der Deportationen. Waren 1984 erst 8.000 Fälle in 26 Staaten registriert worden, so wurden 1993 rund 35.000 in 60 Staaten bekannt. [Fn_1: Süddeutsche Zeitung, 11 ./l 2. Dezember 1993.] Und das Migrationspotential wird noch umfassender, wenn zusätzlich jene fluchtrelevanten Faktoren berücksichtigt werden, die zwar als solche juristisch nicht anerkannt werden, aber dennoch Menschen rund um den Globus entwurzeln lassen: existentielle Armut und Hunger, fortschreitende Umweltzerstörung und Überbevölkerung.

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I. Migration als gesellschafts- und weltpolitische Herausforderung

Daß heute die Flüchtlingsfrage als "Weltproblem" [Fn_2: Siehe hierzu insbesondere P.J. Opitz, "Menschen auf der Flucht", in: ders. (Hrsg.) Weltprobleme, München 19823, s. 341ff.] begriffen wird und sogar der Ansatz eines Weltgewissens erkennbar ist, das gegenüber der inhumanen und die Menschenwürde verachtenden Wirklichkeit bestimmter gesellschaftlicher und politischer Systeme immer sensibler

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reagiert, ist nicht zuletzt ein Verdienst der Medien. Ebenso sind freilich die Schattenseiten der weltumspannenden Medienrevolution nicht zu übersehen. Verhelfen doch moderne Kommunikationsmittel nicht nur der Kritik zum Ausdruck, sondern auch der Gewaltpolitik zu Formen der Selbstdarstellung. Auch bestimmt letztlich das Fernsehen, wo sich das Weltgewissen regt. Im Sudan etwa hat ein seit mehr als zehn Jahren tobender, von Hungerkatastrophen begleiteter Bürgerkrieg bislang rund eine Million Menschenleben gefordert, etwa fünf Millionen Menschen zu Flüchtlingen im eigenen Land gemacht und eine Viertelmillion zur Flucht in Nachbarstaaten getrieben. [Fn_3: U.S. Committee for Refugees, World Refugee Survey 1993, New York 1993, S. 73; zum Hintergrund der Flüchtlingssituation im Sudan siehe R. Tetzlaff, "Sudan", in: Das Weltflüchtlingsproblem. Ursachen und Folgen, hrsgg. v. P.J. Opitz (Hrsg.), München 1988, S. 88ff.; sowie ders., Staatswerdung im Sudan. Ein Bürgerkriegsstaat zwischen Demokratie, ethnischen Konflikten und Islamisierung, Münster und Hamburg 1993.]
Nur, davon liefern die großen Fernsehgesellschaften keine Bilder.

Die Ängste vor einem anhaltenden und noch größer werdenden Wanderungsdruck wachsen, durch die Konzeptionslosigkeit der Flüchtlings- und Migrationspolitik stimuliert. Erschwerend kommt hinzu, daß vor allem in der Asyldebatte immer wieder das allgemeine Wanderungs- gegen das spezielle Flucht- und Asylproblem ausgespielt wird. Allerdings sind angesichts der Komplexität der Umstände und Ursachen von modernen Flucht- und Wanderungsbewegungen die Grenzen von Zwangswanderung (Flucht, Vertreibung, Deportation) und freiwilliger Migration von Individuen oder ganzer Gruppen in andere Staaten (Einwanderung) so fließend geworden, daß es im Einzelfall sehr kompliziert sein kann, politische von anderen Motiven zu unterscheiden. Auch dies trägt zur Emotionalisierung der Diskussion sowie dazu bei, daß die Neigung zunimmt, den kontinentalen und interkontinentalen Flucht- und Wanderungsbewegungen in Ost-West- und Süd-Nord-Richtung mit verstärkter Abschottung zu begegnen. Das aber heißt, daß es in einem Klima wachsender Ausländerfeindlichkeit selbst für unmittelbar politisch Verfolgte immer schwieriger wird, "refugium" zu erhalten.

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1. Dimension des Weltflüchtlingsproblems

Seit Beginn der 70er Jahre hat sich nicht nur das Flüchtlingsproblem international dramatisch verschärft, auch die Ursachen, die zu Vertreibung und Flucht führten, sind vielfältiger und vielschichtiger geworden. Gab es 1970 nach Angaben des UNHCR weltweit erst 2,4 Millionen Flüchtlinge, so war ihre Zahl bis 1979 auf 5,3 Millionen angestiegen. [Fn_4: Zahlenangaben hier und - soweit nicht anders vermerkt - im folgenden nach U.S. Committee for Refugees, World Refugee Survey (erscheint jährlich); siehe auch den jüngst erschienenen UNHCR-Report 1994, Die Lage der Flüchtlinge in der Welt, hrsgg. v. Hoher Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen, Bonn 1994.]
Dabei waren die meisten Menschen in großen Gruppen geflohen, so die Bootsflüchtlinge in Indochina, die Afghanen nach dem sowjetischen Einmarsch und die über eine Million Somali aus Äthiopien. Nur wenige verließen ihre Heimat einzeln oder in kleinen Gruppen, wie die politischen Flüchtlinge aus den von Militärdiktaturen beherrschten Ländern Lateinamerikas. Charakteristisch für diese Massenfluchtbewegungen war schließlich auch, daß sowohl politische Ursachen, insbesondere die Verfolgung bestimmter Volksgruppen, als auch ökonomische Gründe, die häufig in Zusammenhang mit Krieg- und Bürgerkrieg standen, eine Rolle spielten.

Seither hat sich die Situation keineswegs entspannt. Die Zahl der Flüchtlinge hat sich im Gegenteil mehr als verdreifacht: 17,6 Millionen Menschen wurden Ende 1992 vom UNHCR als Flüchtlinge registriert, wobei sowohl die Brennpunkte des Flüchtlingsgeschehens als auch die wichtigsten Aufnahmeländer nicht im wohlhabenden Westeuropa liegen, wie man angesichts der dort gesteigerten Abwehrmaßnahmen meinen möchte, sondern in der außereuropäischen Welt, insbesondere in Afrika. Dort hat sich in den letzten drei Dekaden die Zahl der Flüchtlinge mehr als verzehnfacht, von einer halben Million zu Beginn der 1960er Jahre auf 5,7 Millionen 1992. Damit ist Afrika zu dem weltweit am stärksten von Fluchtbewegungen heimgesuchten Kontinent avanciert; nur für den Mittleren Osten, wo 1992 allein 4,6 Millionen Afghanen in den Flüchtlingslagern Pakistans und des Irans lebten, liegt eine ähnlich hohe Zahl vor. Die meisten afrikanischen Flüchtlinge, von denen mehr als die Hälfte Kinder unter 16 Jahren sind, stammten aus Mosambik (1,7 Mio.),

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Somalia (860.000), Äthiopien/Eritrea (830.000), Liberia (600.000) und Angola (400.000). [Fn_5: Inzwischen hat der im Frühjahr 1994 ausgebrochene Bürgerkrieg in Ruanda zur größten humanitären Katastrophe seit dem Golfkrieg geführt. Nach französischen Angaben sollen bei den Kämpfen und Massakern marodierender Truppen und Banden 600.000 Menschen umgekommen sein, mindestens eine Million Ruander seien ins Ausland geflüchtet, während 1,2 Millionen im Inland auf der Flucht sein sollen; siehe hierzu Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 157, 9. Juli 1994.]

Die Aufnahmeländer dieser Flüchtlinge gehören zu den ärmsten Staaten der Erde und sind oft kaum in der Lage, die eigene Bevölkerung zu versorgen. So nahm Äthiopien, wo etwa sieben Millionen Menschen von internationaler Nahrungsmittelhilfe abhängig sind, in den Jahren 1988 bis 1991 rund 520.000 Somalis auf. Sie teilten die Flüchtlingslager mit ca. 500.000 Äthiopier, die vor Jahren nach Somalia geflohen waren und nunmehr durch den im Asylland ausgebrochenen Bürgerkrieg erneut zur Flucht gezwungen wurden. Äthiopien ist aber nicht nur ein Land, das Flüchtlinge und Rückkehrer aufnimmt, sondern hat auch selbst politische Verhältnisse hervorgebracht, die Ursache für Flüchtlingsströme sind. Das jüngste Beispiel sind die 1992 im Süden des Landes ausgebrochenen Kämpfe, die zur Flucht von 68.000 Menschen ins benachbarte Kenia führten. Dort hatten bereits 400.000 Somalis und etwa 20.000 Sudaner Zuflucht gesucht. Jedenfalls mußte Kenia, das seinerseits von politischer Instabilität, einer dramatischen Verschlechterung der Konjunktur, ethnischen Konflikten und Dürre heimgesucht wird, 1992 dreißigmal mehr Flüchtlingen Refugium gewähren als 1990. Dies hatte zur Folge, daß in den improvisierten und völlig überbelegten Flüchtlingslagern die tägliche Sterblichkeitsrate bei 100 Toten je 100.000 Flüchtlinge lag.

Dabei ist dies nur eine Seite der Flüchtlingsproblematik. Denn in den Statistiken des UNHCR werden nur Menschen geführt, auf die die Bestimmungen des Genfer Abkommens zutreffen, also auf Personen, die aus "begründeter Furcht vor Verfolgung wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Überzeugung" ihr Heimatland verlassen haben. [Fn_6: Zitiert nach F. Berber und A. Randelzhofer (Hrsg.), Völkerrechtliche Verträge, München und Berlin 19792, s. 169.]

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Keinen offiziellen Flüchtlingsstatus haben demnach - erstens - Menschen, die innerhalb ihres eigenen Landes auf der Flucht sind ("displaced persons"), und zwar auch dann nicht, wenn es sich um politisch Verfolgte handelt. Die Gesamtzahl dieser Binnenflüchtlinge kennt niemand. Von mindestens 24 Millionen ist die Rede, allein die Hälfte davon in Afrika. Mit fünf Millionen Entwurzelten ist 1992 der Sudan zum Land mit der größten Anzahl von Binnenflüchtlingen geworden, gefolgt von Südafrika (4,1 Mio.), Mosambik (3,5), Somalia (2,0) und den Philippinen (1,0).

Ebenfalls nicht in den UNHCR-Statistiken geführt werden - zweitens -jene Menschen, die infolge von Bürgerkriegen, Unruhen, Hungerkrisen und ökologischen Katastrophen ihr Land verlassen haben. Dabei kommen häufig politische, wirtschaftliche und ökologische Gründe zusammen, wie dies bei den über einer Million Flüchtlingen, die in den 1970er Jahren nach Somalia vertrieben wurden, der Fall war. Allein die Gesamtzahl der gegenwärtigen Umweltflüchtlinge wird vom Internationalen Komitee des Roten Kreuzes auf eine halbe Milliarde geschätzt. [Fn_7: Nach M. Wöhlcke, "Zerstörte Umwelt - Bedrohtes Überleben", in: Menschen auf der Flucht, S. 20.]

Schließlich fallen - drittens - auch die sogenannten Wirtschaftsflüchtlinge nicht unter die international anerkannte Flüchtlingsdefinition, obwohl sie ähnlich akut gefährdet sein können wie Konventionsflüchtlinge. Dies insbesondere dann, wenn anarchische oder repressive politische Strukturen zu Massenelend und katastrophalen Lebensbedingungen führen. Auch diese Gruppe übertrifft die Zahl der international anerkannten politischen Flüchtlinge um ein Vielfaches. Dies zeigt nicht zuletzt der Blick auf Angaben der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO), die den Umfang der sogenannten "Arbeitsmigration" mit ca. 100 Millionen bezifferte. [Fn_8: Nach Opitz, "Die 'Fünfte Welt': Zur Gegenwart und Geschichte des Flüchtlings- und Migrationsproblems", in: Evangelische Theologie (53. Jg.), Nr. l, 1993, S. 6.]

Die Frage nach der gegenwärtigen Dimension der Flüchtlingsproblematik kennt also viele Antworten. Gewiß ist nur, welche Kriterien man auch benutzt, die Zahl der Menschen, die ihre Heimat

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verlassen, steigt dramatisch. Denn mit den seit 1989 vollzogenen Umwälzungen in Ost- und Südosteuropa sowie dem Zerfall der Sowjetunion und Jugoslawiens hat sich die Situation zusätzlich verschärft. Zwar lag zu Beginn des Jahres 1992 der europäische Anteil der vom UNHCR weltweit registrierten Flüchtlinge noch unter 10 Prozent. Doch ist spätestens mit dem Ausbruch des Balkan-Konflikts das Flüchtlingsproblem nach Europa zurückgekehrt. Mit über 2,8 Millionen bezifferte das UNHCR den Umfang der größten europäischen Fluchtbewegung nach dem Zweiten Weltkrieg, davon sollen Ende 1992 555.000 außerhalb des früheren Jugoslawiens Zuflucht gefunden haben, 220.000 allein in Deutschland.

Flüchtlingsströme, wie man sie seit den 70er Jahren nur aus der Dritten Welt kannte, werden auch aus den GUS-Staaten gemeldet. Schätzungen des Petersburger Instituts für Demographie zufolge gab es zu Beginn des Jahres 1992 in Rußland 250.000 Flüchtlinge, die aus den mittelasiatischen früheren Sowjetrepubliken gekommen seien. Nach Angaben der russischen Einwanderungsbehörde wird Rußland bis Ende 1993 zwei Millionen Flüchtlinge und Migranten aufgenommen haben. Gleichzeitig wird für die beiden kommenden Jahre mit bis zu sechs Millionen weiteren Flüchtlingen und Heimkehrern aus den nichtrussischen Staaten gerechnet. Schon 1991 waren 500.000 Russen aufgrund von Diskriminierung aus ihren bisherigen Siedlungsgebieten zurück nach Rußland geflüchtet; 1992 sollen es 700.000 gewesen sein. Hinzu kommen zahlreiche Binnenflüchtlinge vor allem in den südlichen GUS-Staaten, wo 1992 allein in Tadschikistan 435.000 Menschen auf der Flucht gewesen sein sollen. [Fn_9: Nach Süddeutsche Zeitung, 12. November 1993; siehe auch Opitz, Die 'Fünfte Welt', S. 5.]

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II. Ursachen des Weltflüchtlingsproblems

Die Hoffnung, mit dem Ende des Ost-West-Konflikts würden auch die Flüchtlingszahlen zurückgehen, währte also nur kurz. Inzwischen verdüstern nationale Konflikte, die das Unwort der ethnischen Säuberung hervorgebracht haben, nicht nur das Bild der östlichen Hälfte Europas. So führte die Befreiung vom militärischen Alpdruck des Ost-

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West-Gegensatzes nicht zum Ende der Geschichte, sondern insofern in eine andere Richtung, als in diesen Konflikten eine Rückkehr zur Geschichte und der Geschichte unverkennbar ist. Eine Rückkehr zur Geschichte, weil sich nach dem Niedergang des Marxismus-Leninismus der demokratische Liberalismus offensichtlich nicht als Ersatz anbot, sondern historische Erinnerungen an Kräfte, die im Zeitalter des Ost-West-Konflikts zwar verdrängt, aber nicht endgültig gebannt worden waren. Und eine Rückkehr der Geschichte, weil ältere, interne Konflikte durch den Ost-West-Konflikt lediglich überlagert und konserviert worden waren. [Fn_10: Siehe P.J. Opitz, "Wenn es in der Heimat lebensgefährlich wird", in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 16. Dezember 1992.]
So läßt der gegenwärtige - unter dem Vorzeichen der nationalen Selbstbestimmung stehende - Strukturwandel der internationalen Beziehungen jene beiden gegenläufigen Tendenzen deutlich zutage treten, die - universalgeschichtlich gesehen - für unser Jahrhundert geradezu typisch sind: die der fortschreitenden Globalisierung, der Herausbildung weltumspannender politischer, ökonomischer und kommunikationstechnischer Strukturen einerseits, und die der Partikularisierung, der Loslösung nationaler und ethnischer Gruppen aus übernationalen Staats- und Reichsverbänden andererseits. Tendenzen zum Zusammenschluß zu - politisch und ökonomisch - größeren Einheiten, wie sie sich mit der Europäischen Union und Bildung von Freihandelszonen in Nord- und Südamerika sowie im pazifischen Becken abzeichnen, stehen im Osten und Süden der Welt dem Einbruch des Partikularen in Gestalt einer Vielzahl neuer Nationalstaaten gegenüber, ungeachtet der Gefahr, daß Markträume begrenzt, Ethnien und Minoritäten ab- bzw. ausgegrenzt und neue Herrschaftsansprüche aufgrund einer historischen oder gar rassisch-ethnischen Sendung begründet werden.

1. Zerfall der Imperien

Konsequenzen dieser Entwicklung sind: kriegerische Auseinandersetzungen, massive Menschenrechtsverletzungen und Folter; ebenso Hungerkatastrophen und Epidemien als den häufigsten indirekten Folgen von Kriegen, Bürgerkriegen oder Staatsstreichen. Dabei handelt es sich

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um Faktoren, die bei allen Massenzwangswanderungen - in unterschiedlicher Gewichtung - eine Rolle spielen. Demnach sind Flucht und Vertreibung keine isolierten Phänomene, auch wenn Flüchtlingskrisen einen jeweils eigenen Verlauf und andere Wurzeln haben. Daß sie vielmehr vor dem Hintergrund eines zusammenhängenden Prozesses betrachtet werden müssen, zeigt die Zerstörung und der Niedergang der multinationalen Imperien und Vielvölkerstaaten.

1.1. Erster Weltkrieg

Der Niedergang der Imperien fand seinen ersten Höhepunkt im Ersten Weltkrieg, der mit dem endgültigen Zusammenbruch des Osmanischen und Habsburgischen Reiches endete. Nachdem bereits die beiden Balkankriege von 1912/13 zu gewaltigen Fluchtbewegungen von fast einer Million Menschen geführt hatten, [Fn_11: Zahlenangaben hier und - soweit nicht anders vermerkt - im folgenden nach Opitz, "Das Weltflüchtlingsproblem im 20. Jahrhundert", in ders. (Hrsg.), Das Weltflüchtlingsproblem, S. 15ff. sowie Kühnhardt, Die Flüchtlingsfrage als Weltordnungsproblem, S. 41ff.] mußten in den Jahren 1914 bis 1918 über fünf Millionen Menschen infolge von Kriegsvertreibungen, aufbrechender nationalistischer Konflikte und Pogrome ihre Heimat verlassen. Zu einem nochmaligen Anschwellen der Flüchtlingsströme auf über vier Millionen Menschen kam es als Folge der Pariser Nachkriegsverträge (1919 bis 1923) und der Neugründung von Staaten auf dem Boden der untergegangenen Vielvölkerreiche. Dies war der Preis für die Schaffung ethnisch und religiös homogener Nationalstaaten in einer Region, die über Jahrhunderte Einwanderungsschneise für zahlreiche Völkerschaften gewesen und darüber hinaus von den Schnittlinien rivalisierender Großreiche sowie der orthodoxen und katholischen Kirche durchzogen war. Doch zeigten die erzwungene Auswanderung von Zehntausenden von Türken aus Bulgarien 1989, vor allem aber der Zerfall Jugoslawiens, daß die Nachwehen dieses Prozesses bis heute andauern.

Ähnliches gilt für die Gebietsverluste, die der Frieden von Sévres (1920) dem früheren Osmanischen Reich im Nahen- und Mittleren Osten gebracht hatte. Auch hier ging der Prozeß der nationalen Neubildung nur langsam und unter zahlreichen militärischen Auseinandersetzungen

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vonstatten, in deren Verlauf Hunderttausende ihre Heimat verlassen mußten. Die schweren Erschütterungen in Palästina/Israel, im Libanon und auf Zypern sind beredte Beispiele dafür, daß nach dem Zerfall der Imperien auch die Nachfolgestaaten von Atomisierungstendenzen nicht verschont bleiben. Bis heute ungelöst ist zudem das Schicksal der Kurden, die nach dem Zusammenbruch des Osmanischen Reiches zwischen die Fronten der Nachfolgestaaten - Türkei, Irak, Iran, Syrien, Sowjetunion - geraten waren.

1.2. Zusammenbruch der europäischen Kolonialreiche

In der weltweiten Fluchtgeschichte markiert der Zweite Weltkrieg eine doppelte Zäsur: Zum einen löste er mit mehr als 50 Millionen Flüchtlingen, Deportierten und Vertriebenen die wohl größte humanitäre Katastrophe der Menschheitsgeschichte aus. Zum anderen bildete er den Auftakt zur Auflösung der europäischen Kolonialreiche und somit zur Verlagerung der Flucht- und Wanderungsbewegungen in die Dritte Welt. Manche dieser Fluchtbewegungen waren die Folge einer gewaltsamen Lösung bereits lange bestehender Konflikte, wie der zwischen Hindus und Muslimen in Britisch-Indien, das 1947 in zwei Staaten, Indien und Pakistan, zerfiel. Dabei flohen 8,5 Millionen Hindus und Sikhs nach Indien, während 6,8 Millionen Muslime in Pakistan Zuflucht suchten. Andere Flüchtlingsströme standen im Zusammenhang mit dem Abzug der Kolonialmächte, deren Staatsangehörige nach blutigen Unabhängigkeitskonflikten - etwa in Algerien oder im portugiesischen Kolonialreich in Afrika - zu Tausenden die ehemaligen Kolonialgebiete verließen oder aus ihnen vertrieben wurden. Eine weitere Fluchtursache entstand aus der krisenhaften politischen und ökonomischen Entwicklung, die in vielen unabhängig gewordenen Staaten autoritäre oder totalitäre Regime begünstigte und schließlich durch eine vierte Strukturdeterminante überlagert wurde, nämlich durch den ideologischen und militärischen Antagonismus des Ost-West-Konflikts.

Auch während dieser zweiten Etappe des imperialen Zerfalls avancierte die Selbstbestimmungsidee zum zentralen Legitimationsprinzip. Dies belegt schon die große Zahl von Völkern, die unter ausdrücklicher Berufung auf dieses Prinzip ihre staatliche Unabhängigkeit errungen haben.

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Diese Entwicklung blieb nicht ohne erhebliche Rückwirkung auf das inhaltliche Verständnis von Selbstbestimmung. War 1945 das Prinzip als politisches Regulativ der Gestaltung der internationalen Beziehungen in die UN-Charta aufgenommen worden, so verlor seine ursprüngliche Unterordnung unter andere Satzungsziele - etwa unter die Friedenspflicht und die Garantie staatlicher Souveränität - in dem Maße an Bedeutung, wie sich die Selbstbestimmungsfrage auf die Situation der unter Kolonialherrschaft stehenden Völker zuspitzte. Diese - auch rechtliche - Aufwertung der Selbstbestimmung zu Lasten anderer Grundprinzipien internationaler Politik stieß kaum auf Kritik. [Fn_12: Zu den wenigen Ausnahmen zählt C. Eagleton, "Excesses of Self-Determination", in: Foreign Affairs (Bd. 53), Nr. 4, 1953, S. 592ff.]
Denn die antikoloniale Interpretation des Prinzips im Rahmen der UNO implizierte sowohl eine Einschränkung seines Geltungsbereichs auf den Dekolonisierungsvorgang als auch eine Absage an die nationale Selbstbestimmung, deren wichtigstes Kriterium die ethnische Identität ist.

Spätestens seit Beginn der 70er Jahre entwickelte diese an der europäischen Konzeption der nationalen Minderheiten orientierte Selbstbestimmungsidee gerade in der Dritten Welt neue Schub- und Sprengkraft. Denn in zahlreichen neuen Staaten wurde nun jenes Konfliktpotential sichtbar, das bislang von der disziplinierenden und konfliktverhindernden Kolonialherrschaft überlagert und verdeckt worden war. Es resultierte aus dem explosiven Völkergemisch vieler dieser Staaten, vor allem in Afrika, wo koloniale Grenzen ohne Rücksicht auf ethnische oder religiöse Strukturen festgelegt worden waren. Nach dem Abzug der Kolonialarmeen, die eine Austragung der schwelenden Konflikte entweder gewaltsam unterdrückt oder aber zur Festigung ihrer eigenen Position instrumentalisiert und insofern letztlich noch weiter verschärft hatten, kamen die bestehenden Rivalitäten zwischen den verschiedenen Staaten und Bevölkerungsgruppen offen zum Ausbruch.

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1.3. Zerfall der Sowjetunion

Der Ost-West-Konflikt, in dessen Horizont die Auflösung der Kolonialreiche stand und der in vielen Regionen der Dritten Welt - etwa in Indochina, Mittelamerika, Äthiopien, Angola, Mosambik oder Afghanistan - die dort vorhandenen Konfliktpotentiale entzündete oder sogar neue hinzufügte, [Fn_13: Siehe hierzu Opitz, "Das Weltflüchtlingsproblem im 20. Jahrhundert", S. 31 ff.] endete mit der Auflösung des sowjetischen Imperiums und dem sich anschließenden Zerfall der Sowjetunion selbst. Ein desolates politisches und wirtschaftliches System sowie eine gewaltige imperiale Überdehnung und ein die knappen Ressourcen verschlingender Rüstungswettlauf mit den USA waren die wesentlichen Ursachen. Die Desintegration des Vielvölkerimperiums wurde also von Faktoren ausgelöst, die ihren Ursprung nicht in den nichtrussischen Peripherien, sondern im russischen Zentrum hatten, in den Krisen und Reformblockaden des alten Regimes. Der Separatismus [Fn_14: Siehe hierzu S. Saizew, Seperatismus in Russland, Berichte des Bundesinstituts für internationale und ostwissenschaftliche Studien, Nr. 4, Köln 1992], der heute wie schon am Ende des Ersten Weltkrieges vor Augen steht, war demnach eine Folge, nicht die eigentliche Ursache des Zerfalls. Denn erst der Autoritätsverfall des Zentrums stärkte die Peripherien. So gehörte damals wie heute der Aufbruch der Nationalitäten gleichsam zu den Sekundärphänomenen der Systemkrise.

Um die Dynamik der Nationalismen zu verstehen, muß man in Erinnerung rufen, daß sich hier lange zurückgestaute und unterdrückte Emanzipationsvorgänge geltend machen. Die Sowjetunion war Nachfolgerin und Erbin des letzten großen europäischen Kolonialreichs; dessen Auflösung hatte Lenin vor der Revolution zwar versprochen, aber nach der kommunistischen Machtergreifung war sie von Stalin nicht nur durch eine bolschewistische Reconquista abgebrochen, sondern durch eine weitere Expansion vollends konterkariert worden. Nach siebzig Jahren kommunistischer Herrschaft war die Nationalitätenfrage im Konzept einer neuen historischen Menschengemeinschaft des Sozialismus gleichsam zu einer folkloristischen Kategorie avanciert. Auch in der Perestrojka war das Nationale zunächst keine politische Kategorie. Erst unter dem Eindruck der Bürgerkriegssituation, die sich im Baltikum und im

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Kaukasus entzündet hatte, schlug Gorbatschow einen neuen Kurs ein. Die Explosivität der nationalen Frage sollte durch grundlegende Reformen entschärft werden. Doch weder die Garantie der Menschen- und Bürgerrechte noch der Übergang zur parlamentarischen Demokratie und der Aufbau föderativer Strukturen konnten das Vielvölkerreich zusammenhalten.

Daß sich die Nationalismen so rasch entfalten konnten, hat wesentlich mit der Erosion und Legitimitätskrise der bislang gültigen normativen Werte und Ordnung zu tun. Während sich die tradierten Maßstäbe rapide auflösten, waren die neuen Orientierungsangebote noch zu schwach, um das Imperium zu konsolidieren. Die Botschaft der Reformer: Demokratie, Föderation und Rechtsstaat zeitigte unter den Bedingungen einer ernsthaften ökonomischen Krise schnell empfindliche Verschleißerscheinungen, was zum endgültigen Autoritätsverlust staatlicher Institutionen und Führungspersönlichkeiten führte. Noch gravierender und politisch brisanter waren die Folgen der Identitätskrise, die der nunmehr völlige Zusammenbruch des totalitären Systems und seiner Ideologie mit sich brachte. Denn diese hinterließen nicht nur ein geistiges und moralisches Chaos, sondern führten auch zu einer individuellen und kollektiven Orientierungskrise. In dieser allgemeinen Orientierungskrise wuchs die Neigung, in der gemeinsamen Sprache, Religion und Herkunft Bezugspunkte für die eigene Existenz zu finden. Selbst Bevölkerungen, deren ethnische Substanz infolge gesteuerter und nicht gesteuerter Russifizierung kaum noch zu erkennen oder bei denen sich ein Rückgriff auf eine Zeit der Unabhängigkeit nicht anbot, zeigten sich für nationale Appelle empfänglich. [Fn_15: Siehe hierzu M.A. Ferdowski, "Probleme und Perspektiven der Transformationsprozesse in Ost- und Südosteuropa", in: Europa-Archiv (48. Jg.), Nr. 9, 1993, S. 249ff]

Die Kehrseite dieses Prozesses der Identitätsfindung ist äußerst problematisch: Um die eigene nationale Wiedergeburt zu erreichen, wurden und werden Unterschiede überbetont, mit dem Ergebnis einer ethnozentrischen Ausgrenzung von Minderheiten. Dabei stößt sich die Renaissance des Nationalen nicht nur an den Russen, sondern vielerorts auch an Nachbarn. Im Kaukasus und in Zentralasien heizen sich die Nationalismen gegenseitig auf, mit der Folge, daß sich unter dem Ein-

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fluß fundamentalistischer und chauvinistischer Strömungen die Aggression auch gegen "die anderen" außerhalb des eigenen Staates richtet. Doch die Faszination chauvinistischer Parolen hat auch die Russen selbst erfaßt. Inzwischen ist der Ruf nach nationaler Wiedergeburt zur politischen Losung aller Kräfte geworden, die im Einströmen westlicher Ideen und Werte sowie in der Russophobie der anderen einen Anschlag auf das Russentum sehen. Damit droht nicht nur - wie die jüngsten Ereignisse in Moskau zeigten - die Gefahr schwerer innerer Machtkämpfe, die in der Etablierung eines diktatorischen Regimes münden könnten, sondern auch jene einer sich weiter verschärfenden Auseinandersetzung mit den verschiedenen ethnischen Minderheiten Rußlands. Die Folgen sind Fluchtbewegungen und Vertreibungen.

2. Ökonomische Ursachen

Ebenso wie in den postkolonialen Staaten der Dritten Welt wird die Krise in der ehemaligen Sowjetunion und Osteuropa von Distributionskrisen überlagert oder begleitet. Gemeint sind die ökonomischen Veränderungsprozesse, die - verstärkt durch eine Revolution der steigenden Erwartungen - ständig weitergehendere Forderungen nach sozialer Partizipation, Sicherheit und Daseinsvorsorge nach sich ziehen; Forderungen, die aber aufgrund der ökonomischen Zerklüftung und der begrenzten wirtschaftlichen Ressourcen nur unzureichend, geschweige denn schnell zu befriedigen sind.

Darüber hinaus können die katastrophalen ökonomischen Verhältnisse insofern zur Hauptquelle der Instabilität werden, als nicht wenige Menschen in den betroffenen Regionen vom Umbruch der alten Strukturen gleichsam ein goldenes Zeitalter erwartet haben. In dieser psychologischen Situation, die überdies über Jahrzehnte hinweg vom Westen stimuliert worden war, avanciert Freiheit zur Verheißung von Wohlstand. Bleibt dieser jedoch aus, gerät die demokratische Idee schnell in Mißkredit. Diese Gefahr droht umso mehr, als die meisten Staaten Osteuropas und der Dritten Welt - wenn überhaupt - nur eine kurze demokratische Tradition aufzuweisen haben. Jedenfalls bilden Armut und volkswirtschaftliche Instabilitäten einen fruchtbaren Boden für Intole-

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ranz und militante Auseinandersetzungen, die den Strom der Kriegs-, Bürgerkriegs- und Krisenflüchtlinge weiter verstärken.

Ein weiterer Problemkomplex entsteht dadurch, daß sich nicht nur die materiellen Lebensbedingungen in weiten Teilen der Welt verschlechtern, sondern auch - dank westlicher Kommunikationstechniken - immer mehr Menschen einen flüchtigen Blick von der schillernden Konsumwelt der Ersten Welt erhaschen können. So wird der Überfluß des Westens zum Pull-Faktor der Wanderungsbewegung aus der Zweiten und Dritten Welt.

Die Ursachen des wachsenden ökonomischen Gefälles zwischen den verschiedenen Regionen der Welt reichen weit in die Geschichte zurück. Getragen von der wissenschaftlich-technischen Revolution kam es im Norden und Westen zur Entwicklung leistungsfähiger Volkswirtschaften, die sowohl von den von ihnen eroberten Kolonialimperien als auch von der Konkurrenz untereinander profitierten. Während aber der ökonomische Aufschwung in den Staaten Nordwesteuropas und Nordamerikas glückte, scheiterten die Kolonialmächte der ersten Stunde: Spanien, Portugal und Rußland. Gerade in Rußland erwiesen sich die Konsequenzen dieses Scheiterns als besonders fatal. Denn sie eröffneten den Weg in ein - zunächst zaristisch, dann bolschewistisch - dominiertes bürokratisch-planwirtschaftliches Zwangssystem, das zweimal in diesem Jahrhundert, 1917 und 1991, nicht zuletzt an seinen ökonomischen Defiziten kollabierte.

Parallel zu diesem Prozeß vollzog und vollzieht sich der ökonomische Abstieg der meisten Gesellschaften außerhalb der atlantischen Region; ausgenommen davon sind lediglich einige Staaten des asiatisch-pazifischen Raums, allen voran Japan und die sogenannten Kleinen Tiger. Viele der heutigen "Have-nots" sanken im 19. und 20. Jahrhundert auf den Status von Kolonien ab, wurden in das westlich dominierte und stark arbeitsteilig strukturierte System der Weltwirtschaft eingebunden oder waren zur Stagnation auf einem subsistenzwirtschaftlichem Niveau verurteilt.

Daran änderte die staatliche Unabhängigkeit wenig. Während die Industriestaaten des Nordens trotz wirtschaftlicher Rezession zum florierenden Teil des Weltmarkts gehören, erreicht der Wohlstand dieses Markts

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nur eine kleine Minderheit der gesamten Weltbevölkerung. So sind von den insgesamt 5,4 Milliarden Menschen, die gegenwärtig auf der Erde leben, lediglich 822 Millionen in Ländern mit höherem Einkommen beheimatet. Diesem kleinen Teil der Menschheit steht nach Angaben der Weltbank 1993 ein durchschnittliches Jahreseinkommen von 20.750 US-$ pro Kopf zur Verfügung. Ein Jahresdurchschnittseinkommen von 350 US-$ haben hingegen 3,2 Milliarden Menschen oder viermal so viele. Das aber heißt, daß vom gesamten Welteinkommen in Höhe von 21,5 Billionen US-$ allein 16,5 Billionen auf die hochentwickelten Ländern entfallen und 15 Prozent der Weltbevölkerung mithin über 79 Prozent des Welteinkommens verfügen. [Fn_16: Nach N. Keyfitz, "Bevölkerungswachstum verhindert die Entwicklung, die das Bevölkerungswachstum eindämmen könnte", in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 25. Oktober 1993.]

Heute sind die Aussichten für die 1,3 Milliarden Ärmsten schlechter denn je. Dies gilt insbesondere für die afrikanischen Staaten, für die nach Angaben der UN-Wirtschaftskommission für Afrika 1994 ein Wirtschaftswachstum von höchstens 2,5 Prozent erwartet wird, nach 1,4 bzw. 0,7 Prozent in den beiden vorausgegangenen Jahren. Dies bedeutet, daß bei einem Bevölkerungswachstum von jährlich 3,0 Prozent die Armut weiter zunehmen wird. Bereits heute sind nach Schätzungen britischer Hilfsorganisationen rund 20 Millionen Afrikaner vom Hungertod bedroht. Zur schlechten Wirtschaftslage in Afrika trägt vor allem der beschleunigte Fall der Rohstoffpreise bei. Bei den Rohstoffen, von deren Ausfuhr die große Mehrheit der Entwicklungsländer ihre Devisen erzielt, sind die Preise 1993 um schätzungsweise 6,4 Prozent gesunken, nachdem sie bereits 1992 und 1991 um 5,1 bzw. 3,0 Prozent gefallen waren. [Fn_17: Nach Süddeutscher Zeitung, 18./19. Dezember 1993.] Um diese Einkommensverluste auszugleichen und um die Schulden zu bezahlen, die korrupte und diktatorische Herrscher vom Schlage eines Bokassa in Zentralafrika, Mobuto in Zaire und Sekou Toure in Guinea verursacht haben oder die zur Ingangsetzung von Entwicklungsprozessen gemacht worden waren, wird die Ausbeutung der Rohstoffvorkommen schonungslos vorangetrieben. Dies hat - neben der Ausweitung und Intensivierung der Landwirtschaft - gravierende Umweltprobleme zur Folge.

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3. Umweltzerstörung als fluchtrelevanter Faktor

Inzwischen sehen sich weltweit Millionen von Menschen aufgrund von Umweltzerstörungen zur Flucht gezwungen. Die Zerstörung von Ackerland durch Übernutzung, die Ausbreitung von Wüsten, Versalzung, Versumpfung von Boden und Wasser, Wasserverschmutzung und Entwaldung sowie weitere durch natürliche Prozesse oder menschliche Eingriffe verursachte Katastrophen tragen dazu bei, daß immer größere Regionen der Erde unbewohnbar werden. In ihrer Folge kommt es regelmäßig zu Dürre- und Hungerkatastrophen. So haben seit 1985 Dürrekatastrophen und Bodenerosion mindestens 10 Millionen Menschen aus Äthiopien, dem Sudan, Mosambik, Angola und anderen Staaten südlich der Sahara zur Flucht getrieben. [Fn_18: Siehe hierzu die jeweiligen Länderdossiers in Opitz (Hrsg.), Das Weltflüchtlingsproblem, S. 66ff.]
Ähnliches gilt für die massive Binnenwanderung innerhalb und aus dem Landesinneren in die Städte und Küstenregion Brasiliens. Dabei sollen bislang mehr als 8 Millionen Menschen ihre angestammte Heimat verlassen haben. [Fn_19: Ebenda, S. 39ff.] Erschwerend kommt hinzu, daß Flüchtlingsbewegungen weitere ökologische Probleme zur Folge haben, insbesondere dann, wenn sie massenhaft und - wie häufig der Fall - schnell und unkontrolliert erfolgen.

Zwar sind Umweltflüchtlinge kein neues Phänomen. Neu ist jedoch die mögliche Auslösung von Flüchtlingsströmen durch eine nicht länger mehr nur vorübergehende, sondern durch eine unumkehrbare Vernichtung der Umwelt, etwa durch Überschwemmung der dichtbevölkerten Deltaregionen Bangladeschs und Ägyptens infolge der globalen Erwärmung des Klimas und des daraus resultierenden Ansteigens der Meeresspiegel. Neu ist schließlich auch das Ausmaß des Elends, das durch klimatische oder geologische Veränderungen hervorgerufen wird. Denn die Auswirkungen von Elementargewalten - Vulkanausbrüche, Erdbeben oder Wirbelstürme - haben sich in diesem Jahrhundert von Jahrzehnt zu Jahrzehnt insofern verschlimmert, als immer mehr Menschen von ihnen in Mitleidenschaft gezogen wurden. Waren in den 1960er Jahren 28 Millionen Menschen betroffen, so war ihre Zahl in den 1980er Jahren bereits auf 64 Millionen angestiegen. Dabei waren und sind es

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vor allem die Menschen in den ohnehin bitterarmen Entwicklungsländern, die in erster Linie unter den Folgen von Naturkatastrophen zu leiden haben.

Folgeprobleme der industriellen Zivilisation sind durch Unfälle und Havarien ausgelöste Umweltschäden oder Katastrophen im Zusammenhang mit Nuklearreaktoren, die zwar bisher relativ wenig Todesfälle verursacht haben, dafür aber die Ursache für langfristig verheerende ökologische Schäden bilden. Bhopal, aber auch Tschernobyl sind nur zwei Beispiele für massive Bevölkerungsbewegungen, die durch von Unfällen verursachte Katastrophen ausgelöst wurden. Aber auch ökologische Zerstörungen, die durch die Umsetzung von Entwicklungsprogrammen hervorgerufen werden, sind inzwischen keine Seltenheit mehr. Allein in Indien sind durch Staudamm- oder Bewässerungsprojekte schätzungsweise 6,5 Millionen Menschen vertrieben worden. Auch die Ableitung großer Wassermengen im Bereich des Aral-Sees in Kasachstan, die zu riesigen Verwüstungen und Versalzungen führte und somit die Lebensgrundlage von mehreren Millionen Menschen zerstörte, hat bereits umfassende Binnenwanderungen ausgelöst.

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III. Perspektiven

Die Wahrscheinlichkeit, daß der Migrationsdruck in absehbarer Zeit nachlassen wird, ist gering. Nachdem bürokratisch-diktatorische Systeme in den vergangenen Jahrzehnten eine Vielzahl von Bewegungen politischer Flüchtlinge ausgelöst hatten, droht nun die Migration von Menschen, die in den hoffnungslos ruinierten Volkswirtschaften und den ökologisch zerstörten Gebieten ihrer Heimat weder Arbeit noch materielles Auskommen finden. Doch auch das Potential für Kriege und Bürgerkriege bleibt umfassend. So hat das Entstehen von 15 neuen Staaten auf dem Gebiet der früheren Sowjetunion zahlreiche potentielle Flüchtlinge geschaffen, weil Millionen Menschen zu ethnischen Minderheiten geworden sind. Das betrifft den Status der 25 Millionen Russen, die in anderen Nachfolgestaaten leben. Es gilt aber auch für jene Gebiete, in denen die politischen und ethnischen Grenzen so weit auseinanderklaffen, daß weitere Konflikte keineswegs auszuschließen sind.

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Doch wird die Situation häufig auch dramatisiert. So werden in ganz Westeuropa Schranken gegen Flüchtlinge errichtet, obwohl die meisten Menschen Binnenflüchtlinge sind oder innerhalb der Dritten Welt wandern und somit nur eine kleine Gruppe unsere Grenzen überschreitet. Überdies will die große Mehrheit in der Heimat bleiben, wenn die Lebensbedingungen nur einigermaßen erträglich sind. Welche Maßnahmen können aber ergriffen werden, damit unfreiwillige Migration verhindert wird?

Wachsenden ökologischen Problemen muß durch eine Umstrukturierung der Weltwirtschaft unter Umweltgesichtspunkten entgegengewirkt werden. Worauf es dabei ankommt, ist nicht der Verzicht auf wirtschaftliches Wachstum, das mehr denn je zur Lösung der anstehenden Probleme notwendig ist. Gefordert ist vielmehr ein ganzheitliches und vernetztes Denken, in dessen Rahmen sich auch die Politik zu bewegen hat. Dieses Eingebundensein von Staat und Volkswirtschaft als Teile eines wesentlich umfassenderen politischen, ökologischen und ökonomischen Systems läßt den traditionellen Nexus zwischen Wirtschaftswachstum und Energieverbrauch als problematisch erscheinen. Die Forderung nach ihrer Entkopplung, die sich in intelligenten Energiegewinnungstechniken, umweltgerechter Produktion und ökologischen Produkten ausdrückt, richtet sich primär an die Industriestaaten, die zwar nur 20 Prozent der Weltbevölkerung repräsentieren, aber 70 Prozent der Energie und 60 Prozent der Nahrung verbrauchen. Dort ein gewandeltes Problembewußtsein anzumahnen, das mit Änderungen in den Konsum- und Lebensgewohnheiten einhergeht, ist Aufgabe der Politik.

Doch auch in den Entwicklungsregionen der Welt ist ein Bewußtseinsprozeß gefordert. Dort können erst dann trag- und entwicklungsfähige Wirtschafts- und Sozialsysteme entstehen, wenn das rasche Bevölkerungswachstum mit durchschnittlich 2,1 Prozent pro Jahr deutlich abnimmt und somit die Zahl der jährlich auf den Arbeitsmarkt und in die ökologisch-kritischen Zonen drängenden Menschen nicht weiter ansteigt. In diesem Zusammenhang ist die gezielte Frauenförderung von herausragender Bedeutung. Frauen treten selten als wirtschaftlich und politisch Handelnde auf, weil sie in besonderem Maße von Analphabetismus betroffen sind. Dabei sind die Faktoren, die Entwicklung maßgeblich beeinflussen, Bildung und Gleichberechtigung der Ge-

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schlechter. Beides schließt das Recht jeder Frau ein, selbst zu entscheiden, wieviele Kinder sie haben möchte. Darüber hinaus sind nachhaltige politische und wirtschaftliche Reformen gefordert, die auch über eine Konditionierung westlicher Hilfe durchgesetzt werden sollten. Solche Reformen betreffen im politischen Bereich in erster Linie den Schutz individueller Grundrechte, politische Partizipation und Rechtstaatlichkeit.

Zum Aufbau entwicklungsfähiger Wirtschafts- und Sozialsysteme tragen auch Schuldenerlaß sowie die Beseitigung protektionistischer Handelshemmnisse bei. Gleichzeitig ist es an den Staaten des Südens und des Ostens über ihre eigene Verantwortlichkeit an Wirtschafts- und Schuldenkrise insofern nachzudenken, als ein wesentlicher Teil ihrer ökonomischen Probleme nicht zuletzt aus völlig überzogenen und volkswirtschaftlich unvertretbaren Rüstungshaushalten resultiert. Abgesehen davon sollten sich die westlichen Industriestaaten daran erinnern, daß sie nicht nur von den niedrigen Preisen für Rohstoffe aus den Entwicklungsregionen, sondern auch davon profitieren, daß dort häufig mit Waffen Krieg geführt wird, die zuvor gewinnträchtig exportiert worden waren.

Ungeachtet aller Gefahren, die vom Selbstbestimmungsrecht ausgehen, gehört die zu erwartende Zukunft dem durch Einbettung in internationale Gemeinschaften domestizierten Nationalstaat. Denn die historische Erfahrung zeigt, daß sich auch im Westen Demokratie und Marktwirtschaft auf nationalstaatlicher Grundlage entfaltet haben. Die westeuropäische Integration hatte geradezu zur Bedingung, daß das prinzipielle Recht auf den eigenen, souveränen Staat nicht in Frage stand. Souveränitätsverzicht kann nur leisten, wer über Souveränität verfügt.

Dort, wo der Wunsch ethnischer Gruppen auf einen eigenen oder auf den Anschluß an einen anderen Staat in politischer, ökonomischer oder ethnischer Hinsicht undurchführbar ist, muß den berechtigten Anliegen von Minderheiten in vollem Maße Rechnung getragen werden. Folglich gilt es, den Schutz internationaler Menschen- und Minderheitenrechte zu intensivieren. Diesem Schutz muß Vorrang vor den Prinzipien der Souveränität und Nichteinmischung eingeräumt werden. Insbesondere die systematische Vertreibung oder gar Vernichtung von Menschen recht-

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fertigt eine internationale Intervention, die sich in der Regel diplomatischer oder wirtschaftlicher Mittel bedienen wird. Doch kann die Anwendung von Zwang und militärischer Macht als ultima ratio erforderlich sein. Dies resultiert aus der moralischen Pflicht eines jeden Mitglieds der Völkergemeinschaft, den Opfern von brutaler Gewalt und Repression Schutz und Hilfe zuteil werden zu lassen.

Schließlich muß in der öffentlichen Diskussion das Thema Einwanderung von der Asyl- und Flüchtlingsproblematik getrennt werden, wie es das jüngst veröffentlichte "Manifest der 60: Deutschland und die Einwanderung" nachdrücklich fordert. [Fn_20: K.J. Bade (Hrsg.), München 1993.]
Die Einwanderung muß nach klar definierten Kontingenten und Quoten erfolgen, wobei die Interessen und Möglichkeiten des Einwanderungslandes im Mittelpunkt stehen. Dagegen bleibt die Erhaltung einer liberalen Asylrechtsregelung ein wichtiges Element freiheitlicher Verfassungen, weil für viele Menschen auch in Zukunft die Gewährung von Asyl die letzte und einzige Rettung ist.


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