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TEILDOKUMENT:
[Seite der Druckausg.: 83]
Die Frage Einwanderungsland Kanada - ein Modell für Deutschland ist natürlich ein bißchen problematisch. Denn wir dürfen sicherlich nicht davon ausgehen, daß wir die kanadischen Einwanderungsbestimmungen, aber auch die Attitüden, die hinter dieser Gesetzgebung und hinter den Verwaltungsregeln und -gebrauchen stehen, ohne weiteres und insgesamt für die Bundesrepublik Deutschland übernehmen können. Was wir aber sicherlich tun sollten, ist, die guten Dinge, die uns vorbildlich erscheinen, in ein eigenes, deutsches Modell integrieren, als wesentliche Bestandteile dieses Modells übernehmen. Das muß einleitend als erstes festgestellt werden. Die zweite Feststellung, die man aus den Thesen unserer Referenten ableiten kann, betrifft die Grundbedingung einer rationalen und humanitären Migrationspolitik, nämlich die Definition, was eigentlich nationales Zusammenleben ausmacht. Alle Referenten haben darauf hingewiesen, daß in dieser Hinsicht gravierende Unterschiede zwischen der deutschen Auffassung von Volksgemeinschaft und der in den anderen westlichen Demokratien herrschenden "verfassungspatriotischen" (Habermas) Auffassung einer Rechtsgemeinschaft vorhanden sind. Diese lassen sich sicherlich erklären, und zwar einerseits aus der unterschiedlichen historischen Identitätsfindung der Staaten: Gerade im 19. Jahrhundert hat Deutschland, ob man das will oder nicht, eine Sonderrolle gespielt - vielleicht im Gegensatz zur französischen Revolution und den traumatischen Erfahrungen, die die Deutschen in diesem Zusammenhang haben machen müssen. Aber vielleicht ist die deutsche Auffassung auch ein Ergebnis eines rational nie begriffenen Industrialisierungsprozesses, wie auch der Tatsache, daß sich Deutschland lange nur als Auswanderungsland gesehen hat. Es haben sich hier als von der "westlichen" Denkart ganz unterschiedliche Attitüden ergeben, und es ist ganz klar, daß deshalb die Definition einer Migrationspolitik im deutschen Kontext sehr viel schwieriger ist. Denn hier geht man davon aus, daß es eine [Seite der Druckausg.: 84] einheitliche Gesellschaft gibt, aber ein geteiltes Recht. Die einheitliche Gesellschaft umfaßt alle, die sich als Deutsche bekennen. Und wer das nicht tut, der hat (das ist nun durch die EG-Gesetzgebung zum Glück relativiert worden), eben unterschiedliche, meist geringere Rechte hinzunehmen, der ist als Gast, als Freund immer willkommen, hat aber nicht Teil an der Rechtsgemeinschaft der Deutschen. Demgegenüber ist es eine Grundvoraussetzung jeglicher rationalen Migrationspolitik, daß der Satz gilt "Alle Menschen, die in einem bestimmten Staatsgebiet leben wollen, sind Mitglied einer einzigen Rechtsgemeinschaft". Innerhalb einer solchen Rechtsgemeinschaft mag es Unterschiede geben, das liegt in der menschlichen Natur. Doch können sich alle Menschen auf die gleichen Grundrechte berufen, und sind so Mitglied der Staatsnation, so sehr sie unterschiedliche Sprachen und Gebräuche haben. Mit dieser deutschen "Sonderkonzeption" hängt auch das Problem der doppelten Staatsbürgerschaft zusammen. Wir erleben derzeit, wie schwierig es ist, in Deutschland Bewegung in diese Sache zu bringen, doppelte Staatsbürgerschaft zu ermöglichen. Mit der deutschen Denkart und -tradition hängt auch das Problem des Ausländerwahlrechts zusammen. Auch hier haben wir in Deutschland erste Schritte zu unternehmen, aber ich fürchte, man wird sich sehr schwer tun, auch in dieser Hinsicht unseren Status dem der anderen westlichen Länder anzunähern. Und da diese Dinge im Grunde noch tiefer als der Grundrechtekatalog unseres Grundgesetzes verankert sind, nämlich im emotionalen Selbstverständnis der Deutschen, wird wahrscheinlich auch der EG-Zusammenschluß hier nicht so hilfreich sein. Da ist ein Prozeß des Umdenkens erforderlich: Die Deutschen müsse sich auch psychisch in den westlichen Staatenverband hineinbewegen zu dem sie zum Glück schon physisch gehören. Das wird sicherlich längere Zeit dauern - ich fürchte, mehrere Generationen. Was wir aber trotzdem heute schon tun müssen, sind alle Vorbereitungen zu treffen, daß es - wenn auch auf dieser schwankenden Bewußtseinsbasis - über kurz oder lang zu der rationalen Migrations- und Immigrationspolitik und -gesetzgebung kommen kann, die allein die anstehenden Probleme wird lösen können. Drittens ergibt sich eine Gruppe von Feststellungen hinsichtlich verschiedener Elemente, die wir ganz praktisch in ein solches Gesetz auf- [Seite der Druckausg.: 85] nehmen sollten. Das erste Element ist - und hier können wir nicht nur von den Kanadiern, sondern auch von den USA, von Australien, von allen großen Einwanderungsländern lernen - das Nichtdiskriminierungsprinzip. Weder Rasse, noch Herkunft dürfen demzufolge hinreichende Bedingungen für die Entscheidung sein, ob eine Person immigrieren darf oder nicht. Das zweite Element ist die Tatsache, daß wir davon ausgehen müssen, daß es mehrere Kategorien von Menschen gibt, die in unsere Länder kommen wollen, nämlich einmal die Flüchtlinge, die ohne eigenen Willen, aus purer Not kommen; dann die Familienangehörigen, die wir sicherlich aus humanitären Gründen begrüßen und aufnehmen müssen, und dann schließlich erst die eigentlichen Immigranten, die ihre wirtschaftliche oder ihre gesellschaftliche Situation verbessern wollen, oder aus irgendwelchen anderen (z.B. klimatischen) Gründen ihren Lebensort verändern wollen. Ein rationales Gesetz muß auf der Basis des Nichtdiskriminierungsprinzips die unterschiedliche Lage dieser drei Kategorien Flüchtlinge, Familienangehörige und Immigranten jeweils berücksichtigen, genau wie das im kanadischen Kontext geschieht. Ich glaube, hier ist Kanada unter allen westlichen Aufnahmeländern vorbildlich. Nun ist gefragt worden, wenn wir aber diese Gruppen haben, wie sollen wir dann zurecht kommen mit dem Anlegen einheitlicher Kriterien? Hier, meine ich, muß man ganz realistisch sein. Man darf nicht unterstellen, daß Kanada "den Stein der Weisen" gefunden hätten in Form des dargestellten Punktesystems. Denn da, wo humanitäre Gründe gelten -und sie müssen im Bereich etwa der Flüchtlinge und Asylbewerber, sie müssen im Bereich der Familienzusammenführung gelten -, kann man nicht mit dem Punktesystem arbeiten. Für den Rest aber, und seien es nur zehn Prozent, ist das schlechteste Punktesystem noch immer besser als das, was die Bundesrepublik derzeit praktiziert. Hier gilt: Eigentlich darf keiner rein. Wer aber reinkommt, das entscheiden der Zufall und das Glück der Betreffenden, und deshalb findet potentiell ein Kampf aller gegen alle statt. Noch das schlechteste Kriterium, auf das sich potentielle Zuwanderer verlassen können, weil es auch für alle Zuwanderer angewendet wird und im Zweifel eingeklagt werden kann, ist besser als die bundesrepublikanische Weigerung, solche Kriterien zu defi- [Seite der Druckausg.: 86] nieren, weil "wir kein Einwanderungsland" sind. Ein solcher Kriteriensatz, entsprechend dem kanadischen Beispiel, fehlt sogar in dem sonst überaus lobenswerten Immigrationsgesetzentwurf, den das Bündnis 90/Die Grünen im Frühjahr 1992 vorgelegt haben. Er wäre um Kriterien zu ergänzen, nach denen dann tatsächlich zugelassen werden soll. Es müssen im Hinblick auf die erstgenannten beiden Gruppen - Flüchtlinge, Familienangehörige - sicherlich soziale Kriterien sein, die hier im Vordergrund der Regelungen stehen. Es müssen aber im Hinblick auf die übrigen Immigranten, die es zweifellos, in welcher Größenzahl auch immer, geben wird, rational einsehbare, sachbezogen formulierte Kriterien sein. Daß ein Volkswirt z.B. dazu neigen würde, ähnlich dem kanadischen Muster nach Qualifikation zu fragen, ja sogar danach zu fragen, ob man Geld mitbringt, wenn man schon sonst nichts mitzubringen hat, das ist eine Frage des Werturteils. Man wird natürlich auch umgekehrt fragen können, wenn man davon ausgeht, daß unser Land Kapital genug hat, aber zu wenig kluge Köpfe, die dieses Kapital richtig einsetzen, ob nicht noch der Ärmste aus der Dritten Welt zu bevorzugen sei, wenn nur ein kluger Kopf mitgebracht und eingesetzt wird. Es gibt zweifellos noch sehr viel mehr Kriterien, und über deren Akzeptanz wird man politisch diskutieren müssen. Wichtig ist aber, daß die Diskussion über solche Kriterienkataloge hierzulande überhaupt einmal eröffnet wird, damit man sich im Vorfeld klar wird, was man will, oder was die Bevölkerung in dieser Hinsicht meint ertragen zu können. Das nächste Element, das wir von Kanada übernehmen sollten, betrifft die Regeln für die Administration des Einwanderungsprozesses. Es ist zwar von allen Referenten sehr skeptisch bemerkt worden, daß in Kanada die Theorie dieser Regeln besser sei als die Praxis ihrer Anwendung. Denn die Gremien, die z.B. über die Anerkennung als Flüchtling befinden, seien überlastet und auch nicht immer auf dem Stand der Dinge. Und schließlich ginge die Festlegung der Kriterien und der Quoten derer, die unter verschiedenen Einwanderungskategorien zugelassen sind, aus einem wenig übersichtlichen allgemeinen Dialog im parlamentarischen und im vorparlamentarischen Raum hervor. Demgegenüber muß ich aber wiederum sagen, es ist dies - gemessen an den Verhältnisse in Deutschland - besser als gar nichts! Denn da wir davon [Seite der Druckausg.: 87] ausgehen, Deutschland sei kein Einwanderungsland, wurden (abgesehen von der mühsamen Verwaltung des Asylbewerberstroms) keine Vorkehrungen getroffen, um überhaupt mit dem Migrationsproblem administrativ fertig zu werden. Vielleicht hofft man, das würde uns eines Tages die EG abnehmen; und manches spricht ja auch dafür. Und doch gilt: Wenn die Einwanderung auch im eigenen Interesse des Landes und der Bevölkerung rational gestaltet werden soll, dann muß die Verwaltung in der Lage sein, solche Prozesse zu strukturieren, zu administrieren. Und die Rechtsprechung muß in der Lage sein, die Nachprüfung im Hinblick auf eine gerechte Erteilung von Zuwanderungserlaubnissen auch effektiv durchführen zu können. Auch hier sind unsere Gerichte, besonders die Verwaltungsgerichte, völlig überlastet, und auch dieses hängt wieder damit zusammen, daß man vor den gegebenen Verhältnissen die Augen schließt und sich eigentlich nur durch den Druck der Verhältnisse immer wieder von einem Notbehelf zum anderen treiben läßt. Schließlich und endlich - und das kann nicht ausdrücklich genug betont werden - ist die rechtliche Nachprüfung ungeheuer wichtig. Nicht nur deshalb ist das so, weil jede Verwaltung Schwächen hat und Fehler macht, sei es aus Überlastung, sei es aus schlechter Information und Eigeninteresse; sondern auch deshalb, weil die Gesetzgebung oft fehlerhaft argumentiert. Denn das Recht auf juristischen Schutz kommt allen Menschen zu, auch potentiellen Immigranten. Nun wird vielfach eingewandt, daß die Betroffenen ja erstmal im Lande sein müssen, damit sie sich wehren können, damit sie Einspruch erheben können, z.B. gegen ungerechte Punkteverteilung, gegen ungerechte Auswertung einer Anhörung. Gerade in dieser Hinsicht hat die kanadische Praxis der rechtlichen Nachprüfung einerseits der Festlegung von Einwanderungskriterien und andererseits der Anwendung dieser Kriterien interessante Regelungen aufzuweisen, die auch im Kontext eines deutschen Zuwanderungsgesetztes von großem Nutzen sein können. Schließlich ist festzustellen, daß es sicherlich wesentlich ist, daß guter Wille hinter allen Bemühungen um eine deutsche Zuwanderungsgesetzgebung steckt. Und hier darf ich nochmal auf die Geschäftsgrundlage jeglicher rationalen Migrationspolitik zurückkommen. Kanada, wie [Seite der Druckausg.: 88] auch die USA und viele andere Länder empfinden sich immer noch als offene Gesellschaften. Aus welchem Grund Deutschland das stets verneint hat, läßt sich vielleicht historisch erklären. Entsprechende Kontroversen dürfen aber nicht die Politik der Gegenwart prägen. Wesentlich ist in dieser Hinsicht wieder das kanadische Beispiel. Hier zeigt sich, wie gut es ist, alle migrationspolitischen Überlegungen aus aktuellen Wahlkämpfen und aus der Tagespolitik herauszuhalten. Sobald diese nämlich Instrument der Tagespolitik werden, bestimmen notwendigerweise Opportunitätsgesichtspunkte das Ergebnis. Gerade unter humanitären Gesichtspunkten muß man sich hüten, das Schicksal einzelner oder ganzer Gruppen von armen und bedrohten Menschen zum Gegenstand der Innenpolitik zu machen. Das halte ich einfach für unmoralisch und deshalb meine ich, sollten wir auch dieses Beispiel aus Kanada in unsere heutige Diskussion über ein Einwanderungsgesetz übernehmen. © Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | Juni 2003 |