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TEILDOKUMENT:
[Seite der Druckausg.: 37]
Die Historiographie und Soziologie der kanadischen Einwanderung und Akkulturation hat analytische Genauigkeit und differenzierte Begrifflichkeit angestrebt, um implizite ethnische Hierarchisierungen zu vermeiden. Daher gilt die klassische Dreigliederung in gesellschaftlich randständige Ureinwohner ("native Canadians"), in hegemoniale Konstituenten der Gesellschaft ("charter groups") und Einwanderer (immigrants und ethnics) als positivistisch vereinfachende Systematik. Sie marginalisiert die native Canadians auch in der Forschung und sie impliziert eine herausragende Sonderrolle für die französischen und britischen Zuwanderer. Zu erreichen ist eine gleichberechtigte Behandlung aller ethnischen, d.h. aller kulturell eigenständigen Gruppen. Abgelehnt wird die Zusammenfassung vieler "einheimischer Völker" als Indianer, und die Zusammenfassung der Engländer, Schotten, Waliser und Iren bzw. der Acadians, Quebecois, und französischen Zuwanderer in anderen Provinzen zu homogenen Großgruppen. Nur sprachlich wird unterteilt in anglophone, frankophone und allophone (anderssprachige) Zuwanderergruppen. Dieser Beitrag folgt trotz seines Überblickscharakters der differenzierten Betrachtung. Es wird knapp die Position der "native Canadians" in der ethnischen Vielfalt Kanadas definiert und die frühe Zuwanderung dargestellt; in einem zweiten Teil wird die Zuwanderung von 1880 bis in die 1940er Jahre analysiert, dann die Gegenwart behandelt und abschließend die Entwicklung ethnischer Identität im Verlauf der Akkulturation kritisch beleuchtet. [Seite der Druckausg.: 38]
1. First Nations und Zuwanderung, 1600-1880
Die Nachkommen der ursprünglichen Bewohner, die Inuit[1] , die offiziell anerkannten (Status-) Indianer und in die Städte abgewanderten non-status Indians, haben eigene Dachverbände gebildet, um sich politisch zu artikulieren. Sie selbst bezeichnen sich, und diese Begriffe werden in der Wissenschaft übernommen, als "First Nations", um dem hegemonialen Anspruch der ersten Einwanderer - Briten und Franzosen -entgegenzutreten, oder als "Fourth World", um ihre sozioökonomische Position zu bezeichnen, die schlechter ist als die der kolonialen sog. "Dritten Welt".[2] Mit Entstehen des Pelzhandels und dem Vordringen der meist schottischen Händler der Hudson Bay Company sowie der französischen coureurs du bois aus dem Tal des St. Lorenzstroms kam es zu zahlreichen Verbindungen zwischen zugewanderten Männern und indianischen Frauen. Die daraus hervorgegangenen Kinder und ihre überwiegend französischsprachigen Nachkommen werden als Métis bezeichnet. Auch sie sind ökonomisch und sozial weiterhin benachteiligt und haben erst seit 1960 das Wahlrecht. Sie kämpfen für Selbstbestimmung und -Verwaltung. Die europäische Besiedlung Kanadas begann durch französische Siedler (1) an der Atlantikküste in Akadien und (2) im St. Lorenztal, nachdem schon lange baskische Fischer die Küste Neufundlands in den Sommermonaten besucht hatten.[3] Die Zuwanderer Akadiens (heute die Maritimes), südlich des St. Lorenz Golfes, litten von Anfang an unter den Rivalitäten der europäischen Großmächte, denn imperiale Kriege zwischen Großbritannien und Frankreich wurden auch auf dem nordamerikanischen Kontinent geführt. Nach mehrfacher britischer Besetzung wurde Akadien 1713 (Vertrag von Utrecht) endgültig britisch. Die katholischen französischsprachigen Siedler wurden 1755 nach Neuengland und nach Louisiana deportiert. In Louisiana geht die heutige Cajun-Kultur zum [Seite der Druckausg.: 39] Teil auf diese Zwangswanderung zurück. Die Deportierten aus Neuengland kehrten in späteren Jahren zurück. Infolgedessen ist bis in die Gegenwart New Brunswick die einzige offiziell zweisprachige Provinz. Kern der französischen Besiedlung war und blieb das St. Lorenztal, Nouvelle France, Lower Canada, Quebec in unterschiedlichen historischen Epochen genannt. Die Krone plante, das feudale System zu exportieren: Seigneurs erhielten am Fluß Land zugeteilt und sollten dort abhängige habitants ansiedeln. Die Bereitschaft letzterer, sich als coureurs du bois in der Wildnis selbständig zu machen, verhinderte die Entwicklung dieses Systems. 1763 wurde das Gebiet britisch, die Bevölkerung erhielt aber im Gegensatz zu der Akadiens 1774 Selbstverwaltungsrechte. Es entwickelte sich eine religiös geprägte agrarische Gesellschaft, in der bis in die 1960er Jahre der Einfluß der katholischen Kirche stärker war als der der provinzialen Regierung. Interne Migration brachte ab ca. 1900 überschüssige ländliche Arbeitskräfte in den Bergbau im Norden der Provinz. Modernisierung und Industrialisierung begannen erst mit der "stillen Revolution" und der Zurückdrängung der kirchlichen Vorherrschaft in den 1960er Jahren. Der hohe Bevölkerungszuwachs - bei ursprünglich geringer Zuwanderung von insgesamt nur ca. 60.000-70.000 Franzosen von 1600 bis 1763 - führte schon im 19. Jahrhundert zu hohen Abwanderungsraten in die USA, sowohl in das Gebiet der Großen Seen wie auch ab Mitte des Jahrhunderts in die Textilindustrie Neuenglands. Dort hat sich bis heute ein frankokanadischer Bevölkerungsteil erhalten. Mit Besiedlung der Präriegebiete fand auch interne Westwanderung statt, die gemeinsam mit einer geringen Neuzuwanderung aus Frankreich[4] zur Bildung französischsprachiger Gruppen in den Provinzen westlich von Quebec führte. Die Zuwanderung aus Großbritannien begann später und konzentrierte sich anfangs ganz auf die von Frankreich abgetretenen Gebiete an der Atlantikküste, die heutigen Maritimes (Atlantikprovinzen). Nach der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung, 1776, verließen viele der [Seite der Druckausg.: 40] sog. Loyalisten die neuen Staaten und siedelten sich sowohl nördlich der Großen Seen (heutiges Ontario) als auch in Quebec und in den Atlantikprovinzen an. Die weitere Einwanderung anglophoner Gruppen setzte sich aus Engländern, Schotten und Ulster-Scots[5] zusammen; später kamen Waliser und in großer Zahl Iren. Die anglophone Gruppe war also in sich multiethnisch und definierte sich selbst noch um 1900 nicht als Einheit. Schon 1851 übertraf die anglophone Bevölkerung die frankophone im Verhältnis von 2:1. Die von Großbritannien erhoffte Assimilierung der Frankophonen fand jedoch nie statt.[6] Die britisch beeinflußte Zuwanderung ab 1750 brachte auch andere Bevölkerungsgruppen nach Kanada, besonders aus den deutschen Kleinstaaten. Wegen ihrer Herkunft, nach der sie auch ihren Siedlungsort in Nova Scotia benannten, wurden sie Lunenburg-Germans genannt. Von den im Krieg gegen die amerikanische Unabhängigkeit eingesetzten hessischen Truppen blieben 2.400 Menschen in Kanada. Unter den anglophonen Loyalisten befanden sich auch Dutch-Americans und Jewish-Americans, die zur Basis dieser ethnischen Gruppen in Kanada wurden. Besonders zu nennen sind schwarze Zuwanderer. Die sehr kleine Gruppe früh zugewanderter Menschen wurde in Folge des amerikanischen Unabhängigkeitskrieges durch flüchtende loyale freie Schwarze und von ihren Besitzern mitgebrachte Sklaven/innen vergrößert. Sie lebten in Halifax oder den umliegenden ländlichen Gebieten, um 1840 ca. 40.000. Mit Abschaffung der Sklaverei im britischen Imperium, 1833, wurden auch die nach Kanada verbrachten schwarzen Menschen frei. Die Afro-Kanadier erhielten Zuwachs durch aus den USA geflohene Sklaven (Underground railroad), die sich meist in Ontario ansiedelten. Wie die [Seite der Druckausg.: 41] ab Ende des 19. Jahrhunderts ankommenden asiatischen Zuwanderer wurden sie auf Grund ihrer Hautfarbe diskriminiert. Heute wird für diese Menschen der Ausdruck "visible minorities" verwendet.[7] Weiterhin kamen in der ersten Hälfte des 19. Jh. mennonitische Zuwanderer aus Pennsylvanien und später auch aus Rußland. Landknappheit oder Verfolgung zwang diese ursprünglich aus Deutschland, den Niederlanden und der Schweiz kommenden Zuwanderer zu erneuter Wanderung (sekundäre Migrationen). Die aus den USA eintreffenden Mennoniten bildeten Kolonien in Ontario, die später aus Europa kommenden in den Prärieprovinzen. Da sie wie die ab 1899 eintreffende Gruppe russischer Doukhobors[8] durch Ethnizität und durch Religion gekennzeichnet sind, werden sie als ethno-religiöse Gruppierungen bezeichnet. Ab Mitte der 1840er Jahre stieg die irische Zuwanderung sprunghaft. Schon vor Beginn der Hungersnöte waren irische Männer und Frauen angekommen. Sie kamen z.T. aus protestantischen Gebieten und etablierten sich in Kanada als Farmfamilien. Die Irisch-Kanadier sind daher eine heterogenere Gruppe als die der in die USA zugewanderten Iren. Die Armutswanderer der 1840er und 50er Jahre reisten aus irischen Häfen oder von Liverpool aus auf kleinen, meist mangelhaft ausgerüsteten Schiffen, so daß die Todesrate auf der Überfahrt extrem hoch war (sogenannte coffin ships).[9] Sie siedelten in Quebec City und Montreal oder wanderten als ungelernte Arbeiter in die USA weiter. Wie für einen Teil der irischen Männer und Frauen war Kanada für viele Ankömmlinge anderer Ethnizität nur Durchwanderungsland. Einwanderungszahlen lassen sich daher für das 19. Jh. nur schätzen. Neuankömmlinge wurden in den Seehäfen registriert, nicht jedoch entlang der offenen Landgrenze zu den USA. Menschen vieler ethnischer Gruppen zogen in die Neuenglandgebiete, das Hudson River Valley im Staat New [Seite der Druckausg.: 42] York, in die Gebiete südlich der Großen Seen oder in die Prärien. Allerdings mußten vor Fertigstellung der Canadian Pacific Bahn auch Siedler für den Westen Kanadas über US-amerikanische Eisenbahnlinien reisen. Schließlich kamen besonders gegen Ende des Jahrhunderts auch amerikanische Staatsbürger, z.T. die Nachkommen von Einwanderern, über die Grenze nach Kanada.[10] 1867 schlössen sich die drei Atlantikprovinzen, Quebec und Ontario zum Dominion of Canada zusammen; British Columbia im Westen trat wenig später bei. Mit der politischen Einheit Kanadas war keine de facto Einheit verbunden, da der östliche Landesteil (Maritimes, Quebec, Ontario) durch die kaum besiedelten Prärieterritorien (Manitoba, Saskatchewan, Alberta) vom Westen getrennt war.
2. Masseneinwanderung 1880-1945
Ab 1880 änderte sich die Zusammensetzung und der Umfang der Zuwanderung. Von durchschnittlich 30.000 jährlich stieg sie auf über 100,000, sank in den 90er Jahren, stieg dann ab 1903 rapide an, bis 1913 400,000 Männer, Frauen und Kinder kamen. In den 1880er und 90er Jahren wurden auch die Zuwanderungsregelungen verändert. Die Periode des free entry ging mit den ersten Beschränkungen für chinesische Zuwanderer, 1885, zu Ende. Die Politik der selective Immigration sollte kulturell und ökonomisch erwünschte Einwanderer ins Land bringen. Aber erst 1896, dreißig Jahre nach dem Zusammenschluß der Provinzen, verkündete Innenminister Clifford Sifton eine neue Einwanderungspolitik. Statt der Beschränkung auf west- und nordeuropäische "preferred nations" forderte er Zuwanderung von "stalwart peasants in sheepskin coats", auch aus Osteuropa. Diese Öffnung für Süd- und Osteuropäer, die im zeitgenössischen Denken als fremde "Rasse" angesehen wurden, bedeutete keinen Abbau von Vorurteilen. Aus politökonomischen Gründen - Einheit und Wirtschaftskraft Kanadas - wurden Siedler für den Westen gebraucht. Diese waren aus West- und Nordeuropa nicht in ausreichender Zahl zu bekommen. Hinter dieser Aufforderung stand [Seite der Druckausg.: 43] weiterhin Sozialdarwinismus: Es sollten gesunde Bauern kommen, nicht in städtischen Slums hausende Proletarier, die bereits den größten Anteil der Zuwanderung in die USA ausmachten. Zeitgenössisch wurde dies sehr deutlich ausgedrückt: "So long as Britons and northwestern Europeans constitute the vast majority there is not so much danger of losing our national character. To healthy Britons of good behavior our welcome is everlasting; but to make this country a dumping ground for the scum and the dregs of the old world means transplanting the evils and vices that they may flourish in a new soil."[11] Sifton stellte die überwiegend aus dem Habsburgerreich kommenden ruthenischen, ukrainischen und polnischen Bauern und Bäuerinnen als kräftig und hart arbeitend dar, um so ein neues Reservoir an Menschen in die Besiedlung des kanadischen Westens, wo 1885 die transkontinentale Canadian Pacific Railway vollendet worden war, einbeziehen zu können. Die Zuwanderung nach Kanada stieg, weil in den USA der größte Teil des agrarisch nutzbaren Gebietes besiedelt war. Während der Historiker F. J. Turner in den USA über "the closing of the frontier" lamentierte, schwärmte Sifton vom "last best West" in Kanada. Hinzu kamen ab 1917 Einwanderungsrestriktionen in den USA. Auf der Seite der Abwanderungsgebiete waren die Eisenbahnnetze so ausgebaut worden, daß Verbindungen vom Zarenreich bis in die Transithäfen Bremen und Hamburg bestanden. Die Schiffahrtsgesellschaften waren in der Lage, Fahrkarten vom Ausgangsdorf bis in den Zielort zu verkaufen und die Reise effizient zu planen.[12] Hinzu kamen die Auswirkungen früherer Abwanderungen auf Europa, die weltweite Agrarkrise der 1880er Jahre. Europäische Abwanderer hatten die Ebenen Südrußlands, der USA, Argentiniens und Australiens besiedelt und der daraus resultierende rapide An- [Seite der Druckausg.: 44] stieg der Getreideproduktion führte zu einem Verfall der Weltmarktpreise. Die folgende Agrarstrukturkrise (push factor) zwang wiederum Millionen Männer, Frauen und Kinder zur Abwanderung. Neben den Menschen, die aus dem ländlichen Sektor Europas in die Industrie der USA wanderten ("proletarian mass Migration"), kamen von 1880 bis 1914 3,7 Millionen Zuwanderer in Kanadas Häfen an. Nach Schätzungen wanderten davon ca. 2 Millionen in die USA weiter, so daß die Netto-Zuwanderung sehr viel niedriger lag. Viele Migranten kamen im Familienverband. Nur die verkürzte Wiedergabe von Siftons Äußerung in der Geschichtsschreibung ist männerzentriert. Er argumentierte: "A stalwart peasant in sheepskin coat with a stout wife and a dozen children is of good quality." Kanada brauchte nicht einzelne Männer als proletarische Wanderarbeiter, sondern ansiedlungsbereite Familien für den agrarischen Sektor, als Arbeitskräfte im Sinne unbezahlter Familienarbeit, für die Urbarmachung von Land und die Bewirtschaftung von Farmen. Im Rahmen der Familienökonomie planten die ankommenden Familien genauso. Zur Einkommensmaximierung bei Erhalt von immateriellen Werten wie Familienbeziehungen, Sprachgewohnheiten und traditionellen kulturellen Praxen und Werten mußten Familien und Nachbarn gemeinsam oder sequentiell zum gleichen Zielort wandern.[13] Eine Vielzahl ethnischer Gruppen war an den Wanderungen beteiligt.[14] Wie erwähnt, verließen ab ca. 1870 Mennoniten Rußland, weil dort ihre Privilegien widerrufen worden waren, und siedelten in Manitoba.[15] Aus Island kamen nach Vulkanausbrüchen ab 1875 bäuerliche Familien und siedelten sich nördlich von Winnipeg an. Angesichts der Verfolgungen im Zarenreich wanderten Juden ein, die sich z.T. als Siedler im Westen, aber überwiegend in den Städten niederließen. Schweden, Dänen und Norweger kamen, zum großen Teil in sekundären Wanderungen, aus den US-Präriegebieten. [Seite der Druckausg.: 45] Hauptzuzugsgebiet wurde Osteuropa: 170.000 Ukrainer, 115.000 Polen und je 10.000 bis 20.000 Russen, Ungarn und Rumänen siedelten im kanadischen Westen.[16] Der Vegreville Distrikt in Alberta ist bis heute eines der zentralen ukrainischen Siedlungsgebiete. Die Ukrainien-Kanadier organisierten sich politisch und deckten das gesamte Spektrum von aktiven linken Farmer- und Arbeiterorganisationen bis zu konservativ-nationalistischen Positionen ab. Auf Grund ihres Gewichtes konnte die Gruppe in den 1960er Jahren, als die Royal Commission on Bilingualism and Biculturalism die Rechte der beiden offiziellen Kulturen definieren sollte, auf die Weiterentwicklung dieses Konzeptes zum Multikulturalismus Einfluß nehmen.[17] Die Erfahrungen der ukrainischen Einwanderer sind in Romanen und historischen Werken von Ilya Kiriak, Vera Lysenko und Myrna Kostash dargestellt worden.[18] In dieser Periode entwickelten sich Ankömmlinge "of German ethnic origin" zur größten Gruppe nach den anglo- und frankophonen Bewohnern. Sie waren und sind jedoch bis in die Gegenwart äußerst heterogen. Deutschsprachige ethno-religiöse Gruppen schließen auch Menschen niederländischer und schweizer Herkunft ein. Zweitens werden oft deutschsprachige Österreicher, Schweizer und Luxemburger "eingemeindet". Schließlich kam die Mehrheit in sekundären Wanderungen aus Osteuropa bzw. im Fall der Mennoniten auch aus Pennsylvanien. Mehr als ein Drittel der Neuankömmlinge um die Jahrhundertwende sprach bei der Einreise Deutsch nicht mehr als Muttersprache. Die sogenannten Deutsch-Kanadier waren und sind in sich selbst ein Mosaik. Dies - die Verfolgung durch kanadische Behörden im Ersten Weltkrieg und nach Nationalsozialismus im Zweiten Weltkrieg bewußte Abkehr vom Deutschtum bei einem Teil der Zuwanderer - erklärt, weshalb die nächstgrößten Gruppen, Ukrainer und Italiener, sich leichter auf ethnischer Basis organisieren konnten. [Seite der Druckausg.: 46] Die osteuropäische Zuwanderung wurde von vielen Kanadiern sehr kritisch aufgenommen. Die Galizier, wie sie genannt wurden, galten pauschal als Problemfälle, die schwer in die anglophone Gesellschaft zu integrieren seien. (Vgl. in Deutschland den seit den 1960er Jahren verwendeten Begriff: "das Ausländerproblem".) Kirchliche Organisationen begannen einen "mission approach", um die Neuankömmlinge zum Protestantismus und zu kanadischen Lebensgewohnheiten zu bekehren, zu zivilisierten Lebensformen emporzuheben, wie Zeitgenossen es formulierten. Das politische Interesse an der Besiedlung des Westens, das ökonomische Interesse der Eisenbahnen an Landverkauf und Transport und die Bereitschaft der Kirchen, sich auf manche der fremden Gewohnheiten einzulassen ("charitable but prejudiced" urteilte Jean Burnet) verhinderten Einwanderungsbeschränkungen. Besonders James S. Woodsworth veränderte das kanadische Denken über fremde Rassen. Hatte der Propagandist des Imperiums in England, Rudyard Kipling, formuliert: "The stranger within my gate/He may be true or kind/But he does not talk my talk - / I cannot feel his mind", so kehrte Woodsworth zurück zum biblischen Text (Lev. 19.34): "The stranger that sojournes with you shall be unto you as the homeborn among you, and thou shalt love him as thyself." In der öffentlichen Meinung blieben viele Vorurteile erhalten und wurden auf Südeuropäer, d.h. die damals zuwandernden Italiener,[19] ausgedehnt. Schwerwiegender als die Diskriminierung der "Galicians" waren die Ressentiments gegen die Chinesen, Japaner und Sikhs, ebenfalls undifferenziert als "Orientais" bezeichnet. Sie wurden als ungelernte Arbeiter beim Eisenbahnbau, als Holzfäller, in der Holzverarbeitung und beim Fischfang eingesetzt. Japanische Familien erwarben auch kleine Farmen. Obwohl insgesamt bis 1920 nur ca. 70.000 Menschen aus Asien einwanderten, kristallisierten sich an ihnen extrem rassistische Einstellungen aus. Sogenannte Gentlemen's Agreements mit Japan verringerten die Einwanderung. Später wurde die Zuwanderung durch unmöglich zu erfüllende Transport- und Verwaltungsvorschriften fast völlig zum Erliegen gebracht. Da infolgedessen die anwesenden Männer nach temporärer Rückkehr nicht wieder hätten einreisen können, da sie als Ersatz [Seite der Druckausg.: 47] keine Verwandten oder Freunde schicken konnten, um die Arbeitsgelegenheit wahrzunehmen, blieben sie im Land und holten Frauen nach, um Familien zu gründen. So entstanden dauerhafte ethnische Gemeinschaften an Stelle der Kolonien von temporären Arbeitsmigranten. (Ähnlich hat nach 1973 der Anwerbestopp der BRD die "Gastarbeiter" an temporärer Abwanderung gehindert und den Familiennachzug beschleunigt.) 1907 kam es in Vancouver zu Gewalttätigkeiten gegen die asiatischen Zuwanderer, 1914 zu einem internationalen Zwischenfall, als legal angereiste Asiaten ihr Schiff nicht verlassen durften. Während Japaner und Sikhs überwiegend in British Columbia blieben, wanderten viele Chinesen ins Landesinnere und eröffneten kleine Restaurants.[20] In den ersten Zwischenkriegsjahren blieb die Zuwanderung mit mehr als 100.000 Zuwanderern pro Jahr auf hohem Niveau. Dies änderte sich mit Beginn der Weltwirtschaftskrise. Das Parlament verabschiedete Restriktionen, und von 1931 bis 1941 reisten insgesamt nur 150.000 Zuwanderer ein. Zugelassen waren nur Familienangehörige, um vorausgewanderten Männern die Rekonstitution ihrer Familien zu ermöglichen, und Farmer mit genügend Kapital, um sich sofort auf einer Farm niederzulassen. Die Migranten der zwanziger Jahre blieben überwiegend in den Städten, in kanadischer Terminologie die "second wave" genannt. Obwohl von 1896 bis 1930 Zuwanderung ermutigt wurde und den Staatszielen diente, standen große Teile der anglo- und frankophonen Bevölkerung, einschließlich zahlreicher Verwaltungsbeamter und Politiker, den neuen ethnischen Gruppen ablehnend gegenüber. Die rassistischen Einstellungen gegen die Orientais sind erwähnt worden. In bezug auf Europäer galten neben den Galicians auch Italiener als minderwertig oder kriminell. Hunkies und dagos wurden sie genannt.[21] Drei negative Entwicklungen sind gesondert zu benennen: die Red Scares, die [Seite der Druckausg.: 48] Inhaftierung von Japanisch-Kanadiern während des Zweiten Weltkrieges, die Behandlung von Juden in der Zeit des Faschismus.[22] Mit Ende des Ersten Weltkrieges und während der kurzen Nachkriegsdepression verschlechterten sich die Lebensbedingungen für Arbeiter. Gleichzeitig strömten die demobilisierten Soldaten auf den Arbeitsmarkt. Als Arbeitgeber in Winnipeg sich 1919 weigerten, mit Gewerkschaften über Tarifverträge zu verhandeln oder die Löhne zu erhöhen, reagierten die Arbeiter mit einem Generalstreik. Dabei waren osteuropäische Einwanderer aktiv. Die Arbeiterbewegung hatte sich entwickelt, besonders Finnen, Juden, Ukrainer und Russen hatten sich sozialistisch oder kommunistisch organisiert.[23] Unter der Furcht, in Kanada könne es zu einer bolschewistischen Revolution kommen (Red Scare oder wie seit einigen Jahren formuliert wird: White Fear), setzte die Regierung 1919 Miliz gegen die streikenden Arbeiter ein und verabschiedete Sektion 41 des Einwanderungsgesetzes, um die Deportation "gefährlicher" Ausländer zu ermöglichen. Arbeiter- und gewerkschaftsfeindliche Einstellungen blieben in Kanada lange erhalten, es entstand keine kontinuierliche linke Tradition, Gewerkschaften konnten nur langsam Fuß fassen.[24] In dieser Situation kamen Reformbewegungen und -parteien, die oft Farmer und Arbeiter, Einwanderer und native-born vereinigten, besonderes Gewicht zu. Zu nennen ist vor allem die Cooperative Commonwealth Federation, Vorläufer der heutigen New Democratic Party, die viele Einwandererstimmen auf sich ziehen konnte und bald auch Sitze im Parlament errang.[25] [Seite der Druckausg.: 49] Im Ersten Weltkrieg waren nicht nur Deutsch-Kanadier sondern auch Angehörige vieler anderer Gruppen interniert worden. Dahinter stand die bürokratische Feststellung, daß alle Zuwanderer aus Feindstaaten, d.h. aus Deutschland und Österreich, als feindliche Ausländer zu betrachten seien. Besonders polnische und ukrainische Einwanderer waren erbittert über diese Zuordnung. Im Zweiten Weltkrieg wurde die Internierung gezielt rassistisch eingesetzt.[26] Die gesamte japanisch-kanadische Bevölkerung wurde, ähnlich wie in den USA, in Lager deportiert. Erst in den 1980er Jahren hat die Regierung eingeräumt, daß diesen Menschen Unrecht getan wurde. Mit den psychischen Folgen der Lagerhaft setzen sich japanisch-kanadische literarische Werke auseinander.[27] Ähnlich rassistisch war die Einstellung Juden gegenüber. Genau wie andere Osteuropäer galten sie in Nordamerika um die Jahrhundertwende nicht als "Weiße". "You are a real white man," galt als herablassendes Kompliment angelsächsischer Kanadier an diese Zuwanderer. In vielen Teilen des Landes, besonders aber in Quebec, entwickelte sich in den 30er Jahren ein virulenter Antisemitismus. Für die der Verfolgung durch die Nazis und der Vernichtung in den KZs ausgesetzten europäischen Juden galt die Einstellung, "none is too many": Selbst ein einziger aufgenommener Flüchtling wäre zuviel. Deutsch-jüdische Intellektuelle, die sich zu Beginn des Zweiten Weltkrieges in Großbritannien befanden, wurden nach Kanada gebracht und dort zeitweise interniert. Dies ist eins der dunkelsten Kapitel der kanadischen Einwanderungsgeschichte.[28] Zusammenfassend ist zu sagen, daß Einwanderung von der Regierung ermutigt wurde. Dabei lag das Schwergewicht auf Siedlern, während die Zuwanderung von Arbeitern in die städtischen Zentren zwar ökonomisch notwendig war, aber von Anfang an kritisch gesehen wurde. Rassistische Einstellungen verbanden sich mit allgemein ausländerfeindlichen und Furcht vor Selbstorganisation der Arbeiter. In den dreißiger Jahren entstanden jedoch Gegenbewegungen. J.S. Woodworth und die Canadian [Seite der Druckausg.: 50] Commonwealth Federation schlossen Einwanderer in den politischen Prozeß ein. Watson Kirkconnell, Rektor eines College in Winnipeg, griff auf die Literaturen der europäischen Ausgangskulturen zurück, um der bornierten Öffentlichkeit zu zeigen, daß die Neuankömmlinge nicht kulturlos eintrafen, sondern eigene Ausdrucksformen hatten. Von isländischen bis ukrainischen Dichtungen reichten die Übersetzungen, die Kirkconnell publizierte.[29] In einem eklektischen aber informativen Band beschrieb Kate A. Foster Our Canadian Mosaic (Toronto 1926). Sie prägte damit den Begriff, der für das kanadische Selbstverständnis prägend wurde. Nicht ein Schmelztiegel - melting pot -, sondern eine Vielfalt - mosaic - charakterisiert die kanadische Gesellschaft. Ihr folgte John Murray Gibbon, zeitweise Vertreter der kanadischen Eisenbahnen in Europa, mit seinem Canadian Mosaic. The Making of a Northern Nation (Toronto 1938). Erst drei Jahrzehnte später folgte eine kritische Analyse der sozialen Schichtung und der benachteiligten Position vieler Einwanderergruppen: the vertical mosaic[30]. Der in Fosters und Gibbons Werken ausgedrückte Respekt für die Kulturen der Einwanderer mag als Vorläufer des späteren Multikulturalismus interpretiert werden. In den unmittelbar folgenden Kriegsjahren von 1940-1945 entwickelte sich aus Akkulturation der Neuankömmlinge und wachsender Akzeptanz durch die "native-born" jedoch ein nationalistisches Canadian-All Konglomerat.
3. Entwicklungen seit 1945
Unmittelbar nach Kriegsende begann die Wanderung der vom nationalsozialistischen deutschen Staat als Zwangsarbeiter verschleppten Menschen, von Soldaten der Hilfstruppen und von befreiten KZ-Häftlingen, den sogenannten Displaced Persons. Kanada nahm Zehntausende auf, hatte aber seit 1929 keine aktive Einwanderungspolitik betrieben. Erst 1947 gab Premierminister Mackenzie King ein Grundsatzerklärung ab, [Seite der Druckausg.: 51] der 1952 ein Einwanderungsgesetz folgte. Danach sollten Einwanderer im Rahmen von jährlich festzulegenden Obergrenzen zugelassen, aber sorgfältig ausgesucht werden. Einwanderung sei ein Privileg, Zulassung erfolge nach innenpolitischen und wirtschaftlichen Interessen. Zwar wurde das Einwanderungsverbot für Chinesen (1923) aufgehoben, aber die Präferenz für europäische Zuwanderer blieb erhalten (preferred nations). Ende der 1950er Jahre kamen 85 % aus Europa, 30 % der Gesamtzuwanderung war britisch. Dies sollte sich radikal ändern. 1981 kamen ungefähr 35 % der Migranten aus asiatischen Ländern, 12 % aus Süd- und Zentralamerika, 8 % aus Afrika. Ende der 80er Jahre sank der europäische Anteil an der Zuwanderung auf unter 30 %. In dieser "dritten Welle" erreichten in den 15 Jahren nach dem Krieg 2,5 Millionen Menschen Kanada. Die Wanderung hatte urbanen Charakter. Montreal wurde, besonders seit der Verbesserung der ökonomischen Situation in den 1960er Jahren, zum Magnet. Zur Einwanderungsmetropole entwickelte sich Toronto - 1971 waren weniger als 43 % der Bevölkerung in Kanada geboren. Auch westliche Städte, wie Calgary und Edmonton, waren attraktive Ziele. Für die transpazifische Zuwanderung wurde Vancouver wichtigstes Ziel. Bis zur Mitte der 1960er Jahre kamen Briten, Italiener, Deutsche und Deutschsprachige, Niederländer, Polen und Juden. Besonders die italienische ethnische Gruppe wuchs und entwickelte ein ähnlich ausgeprägtes Gruppenbewußtsein wie vorher die ukrainischen Zuwanderer. Tiefgreifende Änderungen im Zuwanderungsrecht und in der ethnischen Zusammensetzung der Neuankömmlinge rechtfertigen es, anschließend von einer "vierten Welle" zu sprechen. Da die Zuwanderungszahlen kontinuierlich auf hohem Niveau verharrten, wird in Kanada selbst von einer Kontinuität der dritten "Welle" ausgegangen. In den 1960er Jahren begann ein Prozeß des Umdenkens über "Rasse", ein Begriff ohnehin ohne wissenschaftlichen Gehalt, und Ethnizität. 1962 nahm die Royal Commission on Bilingualism and Biculturalism ihre Arbeit auf, und im gleichen Jahr wurden neue Einwanderungsregelungen in Kraft gesetzt.[31] [Seite der Druckausg.: 52] Seit 1962 können Einwanderer aus allen Teilen der Welt - im Rahmen des Jahresgesamtkontingents - einreisen, ohne Verwandte in Kanada zu haben. Ähnliche Veränderungen im Recht der USA und Australiens deuten auf die weltweit veränderte Einstellung zu Menschen anderer Hautfarbe unter Weißen hin. Zuwanderer mußten Ausbildung und andere in Kanada benötigte Qualifikationen nachweisen. Ein Weißbuch aus dem Jahr 1966 forderte Zuwanderung, um Bevölkerungswachstum und wirtschaftliche Expansion zu erreichen. Außerdem wurde eine "kulturelle Bereicherung" durch Zuwanderer angestrebt. Mit einem grundlegenden Gesetz von 1967 - in späteren Jahren wiederholt abgeändert - wurde ein Punktesystem geschaffen, um aus den Antragstellern die der kanadischen Gesellschaft genehmen herauszufiltern. Punkte werden verteilt für Bildungsniveau, berufliches Können, mitgeführtes Kapital, Alter, Verwandtschaft zu kanadischen Bürgern. Da Familiennachzug den größten Teil der Zuwanderung ausmacht, ist dies System weniger sozial diskriminierend als es erscheint. Insgesamt sind vier "Kategorien" gebildet worden: independent - Wirtschaftsbürger mit Kapital oder gesuchten Qualifikationen; dependent relatives - abhängige Verwandte, sponsored relatives - nicht-abhängige Verwandte; für deren Lebensunterhalt die Familie, wenn nötig aufkommt, so daß der Staat keine Sozialleistungen aufbringen muß; refugees - Flüchtlinge vor politischer Verfolgung, Krieg oder Umweltkatastrophen. Seit der Verabschiedung dieses Gesetzes kommen Menschen aus allen Teilen der Welt. Schwarze aus dem karibischen Raum haben eine eigene ethnische Kultur entwickelt; in Toronto werden 200.000 westindische Zuwanderer gezählt. Chinesische Zuwanderung hat sich besonders von Hongkong aus entwickelt. Die fünf chinesischen ethnischen Quartiere in Toronto beherbergen nach den Bewohnern britischer und italienischer Herkunft die drittgrößte Zuwanderergruppe. In der gesamten kanadischen Bevölkerung bezeichneten sich 1981 noch 40 % als britisch, 28 % als französisch, 1.7 % als native Canadian; die übrigen sind Nachfahren anderskultureller Zuwanderergruppen. Regional ist die Provinz Ontario mit dynamischer wirtschaftlicher Entwicklung Hauptzuzugsgebiet. In Quebec hat sich die Zuwanderung verringert seit französische Einsprachigkeit angestrebt wird. Heftige Aus- [Seite der Druckausg.: 53] einandersetzungen um die Unterrichtssprache in den Schulen kombiniert mit Assimilierungsdruck sind das Ergebnis einer separaten Einwanderungsgesetzgebung. 90 % der Zuwanderer leben in Montreal. Dort ist besonders die italienische Gruppe stark ausgeprägt. In den atlantischen Provinzen ist wegen der schlechten wirtschaftlichen Entwicklung die Zuwanderung gering. Dort war in vielen Gebieten zeitweise die Gesamtabwanderung höher als der Zuzug. Die Zuwanderung in die agrarischen Prärieprovinzen endete mit Beginn der Weltwirtschaftskrise. Nur Alberta (Bergbau, Öl) verzeichnet noch Einwanderung. Seit die Zuwanderung aus dem pazifischen Raum die transatlantische übertrifft, seit Asien ökonomisch mit Europa aufgeholt hat, ist Vancouver zum neuen Zuwanderungszentrum geworden. Während gesellschaftlicher Konsens über Zuwanderung erreicht ist, bleiben unterschwellige und offene Vorurteile bei Teilen der Bevölkerung gegen die "visible minorities" vorhanden. In den letzten Jahren ist angesichts der rapiden Zunahme der Flüchtlingsbewegungen in der gesamten Welt eine heftige Diskussion um die Frage entbrannt, ob aus humanitären Gründen mehr Menschen außerhalb des Punktsystems zugelassen werden sollten oder ob die Einreisekriterien für Flüchtlinge verschärft werden sollen. Bei aller Kritik kann das kanadische Einwanderungsrecht - ähnlich wie das jüngste Gesetz der USA - als modellhaft gelten.
4. Akkulturation und ethnische Identität
Nach Ankunft der Zuwanderer in der Empfängerkultur setzt ein Prozeß der Auseinandersetzung mit, Umformung durch, Einstellung auf die neue Kultur ein. Dieser Prozeß ist als Assimilation bezeichnet worden, wenn von bedingungsloser Eingliederung ausgegangen wird; als Integration, wenn bestimmte staatliche Maßnahmen zur Eingliederungshilfe gemeint sind; als Akkulturation, wenn ein im Rahmen vorhandener Zwänge selbstbestimmtes Zugehen auf die neuen Strukturen vorliegt, bei dem Elemente der Ausgangskultur erhalten bleiben und z.T. die Empfängerkultur verändern. Akkulturationsprozesse werden bestimmt - auf Seiten der Zuwanderer - durch geplante Dauer des Aufenthalts, [Seite der Druckausg.: 54] durch Organsationsgrad (institutional completeness) der ethnischen Gemeinschaft und durch demographische Faktoren wie Alter, Familienstand, Einzel- oder Familienwanderung, Geschlechterverhältnis. Auf Seiten der Empfängergesellschaft sind Offenheit oder Segregation, Arbeitsmarktstruktur und Diskriminierungsverhalten von besonderer Bedeutung. Hinzu kommen die Charakteristika der Wanderung: freiwillig (Siedlungs- oder Arbeitsmigration) oder unfreiwillig (Flüchtlinge), bestimmt durch innere Normen (religiöse Gruppenwanderung) oder fremdbestimmt (Sklaventransport). Akkulturationsprozesse erstrecken sich meist über mehrere Generationen, von der ersten, den immigrants, über zweite und spätere, den ethnics. Sprache gilt als mit Kultur untrennbar verbunden. Für die beiden unterschiedlichen hegemonialen Kulturen in Kanada ist deshalb seit 1969 die Zweisprachigkeit in öffentlichen Institutionen festgeschrieben. Für Zuwanderer ergibt sich ein Spannungsverhältnis aus dem Festhalten an der alten Kultur, d.h. an der alten Sprache, bei gleichzeitigem Willen, sich soweit in die neue Gesellschaft zu integrieren, daß die ökonomischen Ziele der Migration verwirklicht werden können. Die neue Sprache muß also mindestens für eine Arbeitsaufnahme ausreichend sein, in der zweiten Generation auch für den Schulbesuch. Da Sprachvermittlung vielfach von eingewanderter, d.h. aus Sicht der Empfängergesellschaft fremdsprachiger Mutter zu Kind erfolgt, ist hieraus eine kulturell bewahrende Rolle von Frauen abgeleitet worden. Diese Interpretation übersieht, daß auch die schulischen Rückmeldungen über die neue Kultur und das Verhalten der peer group überwiegend von Kindern an die Mütter erfolgen, also ein ständiges Verhandeln (negotiating) über Schritte zur neuen Kultur zwischen der zweiten Generation und den Einwandererfrauen stattfindet. Insgesamt, so meine Hypothese, finden viele bewußte und unbewußte Akkulturationsschritte innerhalb der Familie statt. Gerade diese private Sphäre ist aber oft als Hort der alten Werte bezeichnet worden. Hier sind weitere Forschungen notwendig. Mit Ausnahme der ethnoreligiösen Gruppen in Kanada, die ganz bewußt die Separation von der weltlichen, "modernen" Gesellschaft suchen und deshalb meist in abgeschlossenen agrarischen Kolonien siedeln, findet ein erster Veränderungsprozeß unmittelbar nach Eintritt in die neue Ge- [Seite der Druckausg.: 55] sellschaft statt. Die Neuankömmlinge müssen sich schnell auf Arbeitsbedingungen der neuen Welt einstellen, sonst ist das ökonomische und d.h. das physische Überleben nicht gesichert. Erst nachdem der Lebensunterhalt erwirtschaftet werden kann, ergeben sich Möglichkeiten, die Beibehaltung alter Verhaltensformen bewußt zu steuern. Diese erste Phase - accomodation - bedeutet oft den Verlust von Teilen der alten Normen und Praxen.[32] Diese Phase kann abgefedert werden durch Leben in ethnischen Gemeinschaften, in denen spezielle Läden den Erhalt von Eßgewohnheiten ermöglichen, in denen religiöse und kulturelle Bräuche gemeinsam gepflegt werden können. Zuwanderer suchen daher erstens einen spezifischen Arbeitsmarkt (labor market segment) und zweitens eine Wohngemeinschaft von Landsleuten (community). Da die Definition von ethnischer Identität nicht nur durch Gruppenmitglieder selbst erfolgt, sondern durch Askription (oft negativer Charakteristika) von Seiten der Empfängergesellschaft und durch Interaktion mit anderen Zuwanderergruppen, ergibt sich die Notwendigkeit, Kultur sichtbar zu machen. Materielle Kulturzeugnisse - bemalte Ostereier, bestickte Festtagskleidung, öffentliche Feierlichkeiten - erhalten dadurch eine Bedeutung, die sie in der alten Kultur nicht hatten. Dieses Setzen von Zeichen wird als invented identity[33] oder, sekundäre Identität bezeichnet. Sie kann erhalten bleiben, wenn in allen anderen Bereichen der Übergang in die neue Gesellschaft abgeschlossen ist. Dies ist die symbolische Ethnizität, die in Kanada von Bedeutung ist, um an den Förderungsprogrammen für Multikulturalismus teilzuhaben. (In der Bundesrepublik ist der Erhalt des Vertriebenenstatus über Generationen vergleichbar.) Eine Untersuchung in Kanada, 1982, zur Bedeutung folkloristischer Darbietungen durch ethnische Gruppen zeigte, daß sie überwiegend Mitglieder anderer Gruppen ansprechen sollten und weniger der Selbstverwirklichung der eigenen Identität dienten.[34] Kultur dient also dem Zusammenleben und der Interaktion. Der Aspekt des Vermittelns (sharing) wird zum primären Ziel und damit tritt ein didak- [Seite der Druckausg.: 56] tisches Vorgehen in den Vordergrund, das nicht Kulturerhalt, sondern Eingehen auf Wahrnehmungsformen des fremdethnischen Publikums einbezieht. Ethnische Kultur ist also immer Kultur im Wandel. Der Erhalt von ethnischer Identität wird häufig gemessen durch Selbsteinschätzung. Auf die Frage, "Zu welcher ethnischen Gruppe fühlen Sie sich zugehörig?", antworteten 1973 von 100 ethnics 17.3 % mit Angabe ihrer Gruppe (z.B. Deutsch, Chinesisch), 44.5 % mit einer Doppelbezeichnung (z.B. Deutsch-Kanadisch oder Chinesisch-Kanadisch), 35.4 % mit Kanadisch.[35] Unter Einbeziehung von Skalenwerten lassen sich auch Gradunterschiede von Gruppe zu Gruppe in der Identifizierung mit der Ausgangskultur und der Empfängerkultur feststellen. In Kanada hat die Politik des Multikulturalismus Eingliederung erleichtern sollen: Zuwandererkulturen gegenüber sollte Toleranz und Respekt ausgedrückt werden, um Diskriminierung und sekundäre Minoritätenbildung zu verhindern. Bei älteren Einwanderergruppen, die weitgehend akkulturiert waren, ist jedoch die Entstehung einer Klientelkultur gefördert worden. Ethnische Funktionäre erhalten die kulturellen Organisationsstrukturen, um an den Förderprogrammen teilhaben zu können. Ähnlich wie das kanadische Einwanderungsgesetz kann aber trotz dieser Einschränkung auch die Politik des Multikulturalismus als modellhaft gelten. [Seite der Druckausg.: 57]
Literatur
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[Fußnotenverweise]
Fn.1: Das aus der Sprache der Cree stammende Wort "Eskimo" bedeutet "Esser von rohem Fleisch". Es wird kaum noch verwandt. Fn.2: Der Terminus "Indian" wird weiterhin in Gesetzen verwandt, aber bei den Debatten um eine neue Verfassung, 1991/92, ist der Begriff "First Nations" auch offiziell eingeführt worden. Fn.3: Ankunft von Samuel de Champlain 1603, Gründung von Montreal 1608, von Port Royal 1610. Fn.4: Da die Bevölkerungsentwicklung in Frankreich schon um die Mitte des 19. Jh. zu stagnieren begann, gab es kaum noch Auswanderung. In anderen europäischen Ländern wurde ein Gleichgewicht zwischen Geburten- und Todesraten erst um die Jahrhundertwende oder später erreicht. Fn.5: Schottische Zuwanderung in die Gebiete von Ulster geschah in großem Maßstab zu Beginn des 17. Jh. nach Vertreibung irischer "Rebellen". Ihre Nachfahren werden als Nordiren bezeichnet. Fn.6: Zunehmender Gebrauch der englischen Sprache begann erst mit der Industrialisierung in den 1960er Jahren und der Ersetzung kirchlichen Einflusses durch staatlichen. Hinzu kam die Tatsache, daß Einwanderer sich zur englischen Sprache entwickelten und meist nicht Französisch zur Zweitsprache machten. In Reaktion darauf wurde eine aggressive Sprachenpolitik zur Zurückdrängung des englischen Einflusses begonnen. Fn.7: Robin W. Winks, The Blacks in Canada. A History, Montreal 1971. Fn.8: Doukhobors sind eine pazifistische christliche Sekte. Ihre aus anglokanadischer Sicht ungewöhnlichen Lebensformen haben zu Zusammenstößen mit Ordnungskräften geführt. Fn.9: Die Einwandererquarantänestation, Grosse Isle, unterhalb von Quebec City, mußte Massengräber anlegen. Fn.10: Marcus Lee Hansen, The Mingling of the Canadian and American Peoples, Toronto 1940. Fn.11: Zitiert in Kenneth McNaught, The Penguin History of Canada, London 1988, S. 192-193. Fn.12: Vgl. Dirk Hoerder, "The Traffic of Emigration via Bremen/Bremerhaven: Merchants' Interests, Protective Legislation and Migrants' Experiences", Journal of American Ethnic History, 13,1993. Fn.13: Zur Familienökonomie vgl. Louise A. Tilly, Joan W. Scott, Women, Work & Family, New York 1978. Fn.14: Carl A. Dawson, Group Settlement: Ethnic Communities in Western Canada, Toronto 1936, ist die klassische soziologische Studie. Fn.15: Frank H. Epp, Mennonites in Canada, 1786-1920. The History of a Separate People, Toronto 1974. Fn.16: N. F. Dreisziger et al., Struggle and Hope: The Hungarian-Canadian Experience, Toronto 1982; T. F. Jeletzky, Hrsg., Russian Canadians: Their Fast and Present, Ottawa 1983; Henry Radecki, A Member of a Distinguished Farnily: The Polish Group in Canada, Toronto 1976. Fn.17: Royal Commission on Bilingualism and Biculturalism, Report, Book IV: Cultural Contributions of the Other Ethnic Groups, Ottawa 1970. Fn.18: Myma Kostash, All of Baba's Children, Edmonton 1977. Fn.19: Roberto Perin, Franc Sturino, Eds., Arrangiarsi. The Italian Immigration Experience in Canada, Toronto 1992. Fn.20: Norman Buchignani, Doreen M. Indra mit Ram Srivastava, Continuous Journey. A Social History of South Asians in Canada, Toronto 1985; Hugh Johnston, The East Indians in Canada, Ottawa 1984; Anthony B. Chan, Gold Mountain: The Chinese in the New World, Vancouver 1983. Fn.21: Doug Daniels, "The White Race Is Shrinking: Perceptions of Race in Canada," Ethnic and Racial Studies 4,1981, 353-56. Fn.22: Englische Zuwanderer wurden als rassisch wünschenswert bezeichnet. Vorurteile entwickelten sich jedoch gegen die remittance men, die von ihren wohlhabenden Familien nach Kanada geschickt wurden und dort mit wenig eigener Arbeitsleistung ähnlich auftraten wie Besserwessis in der Gegenwart. Unter Arbeitgebern gab es eine "no English need app/y"-Bewegung wegen des hohen Organisierungsgrades und des entwickelten Klassenbewußtseins zugewanderter englischer Arbeiter. Vor der Jahrhundertwende waren verwaiste englische Kinder nach Kanada gebracht worden, um Familien zu finden; nach dem Ersten Weltkrieg wurden arbeitslose entlassene englische Soldaten dort mit Land versorgt. Fn.23: Michael G. Karni, Hrsg., Finnish Diaspora I: Canada., Toronto 1981. Fn.24: Donald Avery, "Dangerous Foreigners": European Immigrant Workers and Labour Radicalism in Canada, 1896-1932, Toronto 1979. Fn.25: Richard Allen, The Social Gospel in Canada, Ottawa 1975. Vgl. auch Ross A. McCormack, Reformers, Rebels and Revolutionaries: The Western Canadian Radical Movement 1899-1919, Toronto 1977. Fn.26: Eric Koch, Deemed Suspect: A Wartime Blunder.Toronto 1980. Fn.27: Ken Adachi, The Enemy That Never Was: A History of the Japanese Canadians, Toronto 1976; Joy Kogawa, Obasan, 1991. Fn.28: Irving Abella, Harold Troper, None Is Too Many: Canada and the Jews of Europe, 1933-1948, Toronto 1982. Erna Paris, Jews. An Account of Their Experience in Canada, Toronto 1980. Fn.29: Watson Kirkconnell, The European Heritage: A Synopsis of European Cultural Achievement, Toronto 1930 und zahlreiche andere Publikationen. Fn.30: John Porter, The Vertical Mosaic: An Analysis of Social Class and Power in Canada, Toronto 1965. Fn.31: Vgl. Jean R. Burnet with Howard Palmer, "Corning Canadians": An Introduction to a History of Canada's Peoples, 39-54; Stephen Gloverman, Hrsg., The Immigration Dilemma, Vancouver 1992. Fn.32: Diese ist für Frauen von vier ethnischen Gruppen, die um die Jahrhundertwende aus ländlichen Gebieten in die urbanen Arbeitsmärkte Chicagos kamen, nachgewiesen. Christiane Harzig, Peasant Maids, City Women (in Druck), Ithaca 1994. Fn.33: Kathleen N. Conzen, et al., "The Invention of Ethnicity: A Perspective from the USA," Altre italie (April 1990), S. 37-63. Fn.34: Burnet, "Corning Canadians", S. 215. Fn.35: Zitiert in Bumet, ibid., S. 219. 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