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TEILDOKUMENT:


[Seite der Druckausg.: 51]



Dietmar Sturzbecher
Jugendliche in Brandenburg – Auf der Suche nach Orientierung


Das Thema meines Vertrages klingt zunächst ein wenig bieder und man assoziiert sofort Normalität: Jugendliche sind auf der Suche nach Orientierung. Im Gedächtnis des gelernten Ostdeutschen nehmen fast vergessene Bilder wieder Konturen an, Bilder von strebsamen Nachwuchskadern und künftigen Facharbeitern, die unter Anleitung vieler pädagogischer Helfer emsig nach dem Sinn des Lebens suchen. Man möchte sich fast zufrieden zurücklehnen, ja wenn da nicht einige derselben Jugendlichen, die doch jahrelang täglich Völkerfreundschaft und proletarischen Internationalismus in Kindergarten und Schule vermittelt bekamen, heute anscheinend ohne besonderen Grund Ausländer drangsalieren und totschlagen, oder, wie sie es selbst nennen, "aufklatschen" würden.

Die Nachrichten von solchen fremdenfeindlichen Aktionen lösen Betroffenheit, Angst, Scham und zuweilen auch Zweifel an der Seriosität der Berichterstattung aus. Vor allem aber drängen sich zwei Fragen auf:

  1. Welches Ausmaß hat die Fremdenfeindlichkeit von Jugendlichen in Brandenburg erreicht?
  2. Was sind die spezifischen Ursachen für die im Vergleich mit den alten Bundesländern höhere Fremdenfeindlichkeit von ostdeutschen Jugendlichen?

Ich möchte mich im folgenden auf die Beantwortung dieser beiden Fragen beschränken und damit die vorangegangenen Referate ergänzen und illustrieren. Dabei werde ich auf die Befunde der Studien unseres Institutes zur Situation brandenburgischer Jugendlicher zurückgreifen.

Bereits im November 1991 haben wir u.a. im Auftrag der Brandenburgischen Landeszentrale für politische Bildung und unterstützt vom Ministerium für Bildung, Jugend und Sport landesrepräsentativ 1.644 14- bis 18jährige Jugendliche im Zusammenhang mit Ausländerfeindlichkeit, Gewalt und Freizeitverhalten schriftlich befragt und 40 Mit-

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glieder der gewalttätigen Skinhead-Szene anonym interviewt. Gegenwärtig führt das Institut für Familien- und Kindheitsforschung (IFK) eine landesrepräsentative Befragung 13- bis 18jähriger Jugendlicher verschiedener Schultypen zu den Themen Ausländerfeindlichkeit, Jugendgewalt, Politverdrossenheit und Schulbummelei durch. Diese Untersuchung wird vom Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kultur und wiederum von der Landeszentrale für politische Bildung gefördert.

Die im folgenden für das Jahr 1993 referierten Befragungsergebnisse beruhen auf einer ersten Auswertung von 1.435 Fragebögen einer Teilstichprobe, die einer landesrepräsentativen Stichprobe bereits sehr ähnlich ist. In unserer Teilstichprobe sind von der Altersgruppe her die 17-und 18-Jährigen, vom Schultyp her die Realschüler noch leicht unterrepräsentiert.

Nach unseren bisherigen Erfahrungen werden sich jedoch die Ergebnisse der Gesamtstichprobe nur noch sehr geringfügig von denen der vorliegenden Stichprobe unterscheiden.

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1. Zur Fremdenfeindlichkeit unter Jugendlichen in Brandenburg und diesbezüglichen Entwicklungstrends

Um fremdenfeindlichen Einstellungen unter Brandenburger Jugendlichen auf die Spur zu kommen, haben wir zunächst zwei Fragen gestellt, die inzwischen zum klassischen Repertoire einschlägiger Untersuchungen gehören:

  1. Was sagen Sie zur Anzahl von Ausländern in Brandenburg?
  2. Inwieweit sind sie zu Kontakten zu Ausländern bereit?

Vorausschicken möchte ich, daß wir uns bei der Gestaltung der Untersuchungsmethoden stets bemüht haben, die spezielle Asylbewerberproblematik getrennt von der allgemeineren Fremden- oder Ausländerproblematik zu operationalisieren. Ob diese Differenzierung von den Jugendlichen nachvollzogen wurde, darf ich angesichts ihrer sehr geringen interkulturellen Erfahrungen bezweifeln. Nun die Antworten:

[Seite der Druckausg.: 53]

Tabelle 1: Meinungen zur Ausländerzahl in Brandenburg

Brandenburg
Februar 1993

Sachsen
April 1992

Jeder Ausländer ist einer zu viel.

14.8%

10%

Es sind zu viele.

52.2%

47%

Es sind viele, aber nicht zu viele.

27.7%

37%

Es sind nicht zu viele.

5.3%

6%


Es ist zu konstatieren, daß ca. zwei Drittel der Jugendlichen unabhängig von Alter, Schulform und Geschlecht, die Zahl der Ausländer als zu hoch ansehen. Dieser Befund wird ergänzt durch die Aussage, daß 47,6% der Jugendlichen meinen, die Begrenzung der Ausländerzahlen sei eine Aufgabe mit großer Bedeutung für die Landesregierung. Bei der Bewertung dieser Ergebnisse ist zu berücksichtigen, daß der reale Ausländeranteil in Brandenburg mit ca. 2% im Vergleich zu anderen Ländern eher gering ist.

Im Vergleich zu der von Friedrich u.a. im April 1992 in Sachsen durchgeführten Studie zeigt sich eine höhere Fremdenfeindlichkeit, wobei mangels Vergleichsdaten nicht zu entscheiden ist, ob der Unterschied eine Landesspezifik oder einen Entwicklungstrend reflektiert.

Die Meinung zur Ausländerzahl sagt noch wenig über die Aufgeschlossenheit gegenüber anderen Kulturen. Hier bietet die Frage nach der Kontaktbereitschaft bessere Anhaltspunkte. Es sei vorausgeschickt, daß auch in diesem Falle die Studie des IFK eine höhere Fremdenfeindlichkeit als die Studie von Friedrich ausweist.

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Tabelle 2: Kontaktbereitschaft zu Ausländern

Bereit
in %

unter
Umständen
bereit
in %

kaum bereit
in %

nicht bereit
in %

Freiwillig neben einen Ausländer setzen

32.4

36.5

13.9

16.4

Etwas in der Gaststätte gemeinsam trinken

29.0

31.0

17.3

21.8

Nach Hause einladen

13.8

28.8

20.2

36.1

Heiraten

10.2

19.7

19.8

48.6


Es zeigt sich, daß offensichtlich mindestens ein Drittel der Jugendlichen ausgeprägte Berührungsängste zu Ausländern haben, da sie nicht oder kaum bereit sind, neben Ausländern zu sitzen oder mit ihnen in der Öffentlichkeit zu kommunizieren, obwohl diese Formen der Interaktion keinerlei interpersonelle Intimität voraussetzen.

Es liegt die Vermutung nahe, daß bei vielen Probanden Antipathien und Berührungsängste nicht auf persönlicher Erfahrung beruhen, da 31,4% von ihnen gar keine und 19,7% nur oder meist gute Erfahrungen mit Ausländern haben. Vor diesem Hintergrund werden zunehmend Vorurteile gegenüber Ausländern unreflektiert aufgenommen und transportiert, wie die folgende Tabelle zeigt.

[Seite der Druckausg.: 55]

Tabelle 3: Vorurteile gegenüber Ausländern

1991

1993

Vorurteile

zutreffend

nicht zutreffend

stimmt völlig oder teilweise

stimmt kaum oder nicht


in %

in %

in %

in %

Die Ausländer haben Schuld an der Arbeitslosigkeit in Deutschland.

40.3

31.9

49.5

50.5

Die meisten Kriminellen sind Ausländer.

35.1

39.5

45.6

54.4


Methodenkritisch muß an dieser Stelle eingeschätzt werden, daß die von uns 1993 verwendete differenziertere Skalierung und der Wegfall der 1991 noch angebotenen Antwortkategorie "Keine Meinung" die Vergleichbarkeit der Werte beeinträchtigt. Es ist aber offensichtlich, daß knapp die Hälfte der Jugendlichen in ihrem Handeln zumindest partiell von Vorurteilen gegenüber Ausländern bestimmt werden und, wie die folgende Tabelle zeigt, ihrer Integration mit Skepsis oder Vorbehalten gegenüberstehen.

[Seite der Druckausg.: 56]

Tabelle 4: Einstellungen zur Integration von Ausländern

1993

Integration

stimmt völlig

stimmt teilweise

stimmt kaum

stimmt nicht


in %

in %

in %

in %

Ausländer in Deutschland sollten ihre Lebensweise weitestgehend der deutschen Lebensart anpassen.

34.5

40.1

15.2

10.2

Bei entsprechender Qualifikation sollten Ausländer dieselben Chancen auf dem Arbeitsmarkt haben wie Deutsche.

31.7

35.6

16.8

15.9

Eine Einbürgerung von Ausländern bereichert die kulturelle Vielfalt unseres Alltags.

18.3

36.6

25.9

19.2

Ein hoher Ausländeranteil führt zu einem Verfall der deutschen Kultur und Lebensweise.

24.9

35.7

26.0

13.5


Die genannten Vorurteile und Vorbehalte gegen Ausländer bewirken denn auch eine besondere Affinität vieler Jugendlicher gegenüber rechtsradikalen Gruppierungen und ihren Kampfparolen. Ein Vergleich der Ergebnisse beider Studien an ausgewählten Beispielitems zeigt, daß die Akzeptanz rechtsradikaler Parolen durch ca. ein Drittel der Jugendlichen sich im Untersuchungszeitraum kaum verändert hat.

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Tabelle 5: Einstellungen zu Ausländern – radikale Parolen

1991

1993

Radikale Parolen

zutreffend

nicht zutreffend

stimmt völlig oder teilweise

stimmt kaum oder nicht


in %

in %

In %

In %

Deutschland den Deutschen -Ausländer raus.

41.7

30.9

46.8

53.2

Die Ausländer muß man aufklatschen und raushauen.

31.5

41.9

27.9

72.1


Das aufgefundene radikal-ausländerfeindliche Drittel unter den brandenburgischen Jugendlichen läßt sich auch in der Diskussion um Asylbewerber wiederfinden. 37,6% der Jugendlichen setzen sich nach eigenen Angaben hier verbal klar oder tendenziell gegen Asylbewerber ein, weitere 40,7% beteiligen sich nicht an solchen Diskussionen und nur 21,8% setzen sich klar oder tendenziell für Asylbewerber ein. Die vorgetragenen Zahlen legen nun die Frage nahe: "Was würden brandenburgische Jugendliche real tun, wenn Rostock sich in Potsdam wiederholen würde?"

Wir haben die Jugendlichen selbst danach gefragt. Prophylaktisch möchte ich hinzufügen, daß uns auch bekannt ist, daß eine verbal bekundete Handlungsbereitschaft keinen Handlungszwang in der Realsituation begründet, jedoch fanden wir methodisch keine andere Möglichkeit, zu landesrepräsentativen Aussagen zur Gewaltbereitschaft Jugendlicher zu gelangen.

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Tabelle 6: Gewaltbereitschaft gegenüber Asylbewerbern

"Wenn ich dabei gewesen wäre ..."

Anteil der Jugendlichen
in %

Ich hätte selbst mitgemacht.

9.9

Ich hätte nur zugesehen, selbst nicht eingegriffen.

16.9

Ich hätte mich schnellsten von diesem Ort entfernt.

20.0

Ich hätte die Polizei informiert.

20.8

Ich hätte mich schützend vor die Ausländer gestellt.

2.5

Darüber habe ich noch nie nachgedacht.

30.0


Wir stellen fest, daß neben der Gruppe der Ignoranten die Zahl derjenigen Jugendlichen dominiert, die staatliche Gewalt herbeigerufen hätten. Abgesehen davon, daß dazu ein Einziger genügen würde, wissen wir heute auch, daß dies zumindest in Mecklenburg-Vorpommern nicht geholfen hätte.

Es kann also, wie es unser Justizminister ausdrückte, tatsächlich noch keine "Entwarnung" gegeben werden. Die Tatsache, daß derzeit weniger spektakuläre Aktionen gegen Asylbewerberheime stattfinden, dürfte eher auf die jahreszeitlich bedingten Witterungsunbilden, die den Gewalttourismus und diesbezügliche Freiluftveranstaltungen behindern, als auf die Wirkung der Lichterketten zurückzuführen sein. Es ist höchste Zeit, der drohenden Gefahr der Gewalteskalation gegen Ausländer ein effizientes Präventions- und Interventionsprogramm entgegenzusetzen. Dies wiederum setzt eine differenzierte Analyse der Ursachenstrukturen von Fremdenfeindlichkeit voraus, für die wir im Punkt 2 Anregungen geben wollen.

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2. Was sind die spezifischen Ursachen für die im Vergleich mit den alten Bundesländern höhere Fremdenfeindlichkeit von ostdeutschen Jugendlichen?

Obwohl es bereits aus der Fragestellung hervorgeht, möchte ich noch einmal hervorheben, daß ich Fremdenfeindlichkeit im europäischen Maßstab weder für ein deutsches oder gar ostdeutsches Problem noch für ein Jugendproblem halte. So gibt es nach dem repräsentativen Eurobarometer 37 beispielsweise bei unseren europäischen Nachbarn Griechenland und Belgien größere Vorbehalte gegen Ausländer, als in Deutschland.

Weiterhin wurden im Rahmen der Allgemeinen Bevölkerungsumfrage der Sozialwissenschaften ALLBUS im Juni 1992 repräsentative Zufallsstichproben von 2.400 Westdeutschen und 1.100 Ostdeutschen u.a. nach ihren Einstellungen zu Asylbewerbern befragt. Man stellte insgesamt eine vergleichsweise eher niedrigere Asylbewerberfeindlichkeit in Ostdeutschland gegenüber Westdeutschland fest. Allerdings ist diese Asylbewerberfeindlichkeit in den Altersgruppen ungleich verteilt: Im Westen erfaßt sie eher die ältere Generation, im Osten die jüngere.

Wir müssen also nach spezifischen Ursachen für die Fremdenfeindlichkeit unter brandenburgischen Jugendlichen suchen, und zwar im Rahmen ihres bisherigen Sozialisationskontext und ihrer aktuellen Lebensbedingungen. Um Orientierungshilfen für die Suche zu erhalten, haben wir die Jugendlichen, die sich in Diskussionen gegen Asylbewerber einsetzen, nach ihren Gründen gefragt.

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Tabelle 7: Gründe für asylbewerberfeindliche Einstellungen

Ich setze mich gegen Asylbewerber ein weil:

stimmt völlig

stimmt teilweise

stimmt kaum

stimmt nicht


in %

in %

in %

in %

... sie auf Kosten Deutschlands gut leben wollen.

49.1

36.7

8.0

6.2

... sie schnell zu Gewalt und Kriminalität neigen.

23.2

53.3

16.5

7.0

... die meisten faul sind.

31.1

46.5

17.6

4.6

... die meisten dreckig und körperlich ungepflegt sind.

26.8

49.0

19.5

4.6

... sie mich schon mehrmals belästigt haben.

19.1

28.2

21.6

31.1

... sie uns die Arbeitsplätze wegnehmen.

33.4

40.5

19.7

6.4

... sie die Wohnungssituation weiter verschärfen.

46.1

39.0

11.9

3.0

... sie im Vergleich zu uns Deutschen minderwertig sind.

24.6

28.4

24.9

22.1


Neben Vorurteilen zeigt sich hier als Hauptursache Sozialneid. Dieser richtet sich gegen Asylbewerber, eine gleichfalls sozial und finanziell schlecht gestellte Gruppe, die als Konkurrenzklientel der Sozialpolitik wahrgenommen und mit Hinweis auf ihre Andersartigkeit ausgeschlossen werden soll. Der empfundene Mißbrauch der Solidargemeinschaft "Nation" durch sogenannte Wirtschaftsasylanten paart sich offensichtlich mit einem in der DDR lange staatlich unterdrückten und deshalb überzogenen Nationalgefühl, das sich in nationalistischen Einstellungen verfestigt und den Geist von Dachau und Auschwitz reanimiert.

Dieser Geist zeigt sich insbesondere im letzten Item, daß mit seinem beschämendem Ergebnis dringenden Handlungsbedarf signalisiert.

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Woraus resultieren nun diese sozialen Ängste um Arbeitsstellen und Wohnungen, die doch auf den ersten Blick angesichts der Zahl der Asylbewerber und der Modalitäten ihres Aufenthalts so irrational erscheinen, und welche Bewältigungsstrategien stehen den Jugendlichen zur Verfügung? Meine Antworten möchte ich Ihnen orientiert an Thesen anbieten.

These 1:

Die Jugendgeneration ist durch die Wendefolgen besonders stark betroffen.


Die Jugendarbeitslosigkeit liegt im August 1992 in Brandenburg mit knapp 20% (Umfrage Info GmbH) wesentlich höher, als die allgemeine Arbeitslosenrate von ca. 14%. Die Städte mit den höchsten Zahlen an männlichen Arbeitslosen unter 25 Jahren sind Anfang 1992 übrigens auch die Brennpunkte der Jugendgewalt: Cottbus (768), Fürstenwalde (540), Oranienburg (518), Eberswalde (452), Frankfurt/Oder (450) (Landesarbeitsamt 1992). Fest steht:

Jugendliche werden häufiger entlassen oder nach Lehre oder Studium nicht ins Arbeitsverhältnis übernommen, weil ihnen aufgrund ihres Alters und geringerer familialer Verpflichtungen mehr berufliche Mobilität und Disponibilität bzw. Flexibilität in der Umschulung zugemutet wird.

Unter DDR-Bedingungen ordnungsgemäß erworbene berufliche Abschlüsse werden mit Hinweis auf fehlende Berufserfahrung nicht anerkannt oder besondere Nachqualifikationen gefordert. Gegen derartige Benachteiligungen sind Jugendliche oft machtlos, da es in Gewerkschaft oder Personalrat, falls diese überhaupt arbeiten, kaum Vertreter von Jugendinteressen gibt.

Auch viele Schüler kennen nach unserer diesjährigen Studie die Arbeitslosigkeit aus Erfahrungen in der Familie und sind damit unmittelbar davon betroffen: 5% der Väter und 12% der Mütter sind arbeitslos und suchen einen Job, weitere jeweils ca. 6% haben mehr oder minder glücklich die hauptamtliche Führung des Haushalts übernommen und weitere jeweils ca. 5% der Väter und 10% der Mütter befinden sich in Umschulung, ABM oder Kurzarbeit. Insgesamt 41,2% der Jugendlichen haben die Arbeitslosigkeit der Eltern erlebt oder erleben sie noch, und

[Seite der Druckausg.: 62]

17,3% aller Jugendlichen wurden oder werden davon nach eigenen Angaben stark oder sehr stark seelisch belastet.

Folgerichtig fanden wir bereits 1991, daß im Landesmaßstab und unabhängig vom Ausbildungsstand mehr als ein Viertel aller Jugendlichen immer oder oft unter der Angst leidet, nach der Schule oder Lehre keine Lehr- oder Arbeitsstelle zu bekommen, oder darüber nachdenkt, wegen der düsteren Perspektiven in den Westen zu gehen. 1993 stimmen sogar 63,7% der Jugendlichen der Aussage "Ich zweifle daran, eine Lehr- bzw. Arbeitsstelle zu erhalten" völlig oder partiell zu, und knapp die Hälfte denkt darüber nach, in den Westen zu gehen.

Man muß bei der Interpretation dieser Zahlen bedenken, daß die Jugendlichen in einer geschlossenen Gesellschaft wie der der DDR, in der die Arbeitsstelle meist zu den Menschen kam, sich nicht mit beruflichen Risiken auseinandergesetzt und deshalb auch keine Bewältigungsstrategien und Kompetenzerwartungen für diesbezüglichen Streß erworben haben.

Vor diesem Hintergrund wandeln sich die von Politikern genährten, ehemals überzogenen Erwartungen an die Marktwirtschaft in anhaltende Resignation oder Aufbegehren. Der Anteil der Skeptiker hinsichtlich des Slogans "Soziale Marktwirtschaft bedeutet Wohlstand für alle" ist mit ca. 40% 1991 und 1993 konstant geblieben. Hielten 1991 noch weniger als 60% der Jugendlichen die Aussage "Wessis bescheißen die Ossis, wo sie nur können" für zutreffend, stimmen ihr 1993 aber über 75% völlig oder partiell zu. Die Gründe für diese Feststellung reichen von den Treuhandaktivitäten bis hin zu der Tatsache, daß mit hohem sozialen Status und Verdienst verbundene berufliche Positionen mehrheitlich auch in Brandenburg von West-Bewerbern eingenommen werden (vgl. Umfrage BISS, 1992).

Ein Skinhead bringt es für sich auf den Punkt: "Det heutige System finde ich genauso schlimm und verlogen wie früher. Bloß heute iss et offensichtlicher. Wat nützt dir die Freiheit, wenn de keene Arbeit kriegst. Früher konntste nach der Lehre inne Abteilung weiterarbeiten, jetzt machste deine Lehre und dann ist Pumpe. Ob et danach irgendwie weitergeht, ist wie'n Quiz."

[Seite der Druckausg.: 63]

Eine zweite Folge der Wende ist, daß das zweifellos uniforme und politisch doktrinäre, aber quantitativ breite und weitgehend kostenfreie Jugendfreizeitangebot der DDR weggebrochen ist, was als Abwertung der Interessen Jugendlicher empfunden wird. Im Landesmaßstab waren 1992 über 80% der Jugendlichen völlig oder teilweise mit den schulischen Freizeitangeboten unzufrieden und die Zahl der kommunalen Jugendeinrichtungen ist beispielsweise im Kreis Oranienburg zwischen 1988 und 1991 auf ein Drittel zurückgegangen. Besonders schwer ist davon die ländliche Jugend betroffen. Auch 1993 fühlen sich zwei Drittel aller Jugendlichen durch fehlende Jugendeinrichtungen und Freizeitangebote oft oder manchmal in ihrer Freizeitgestaltung beschränkt.

Die Defizite an jugendgemäßen Freizeitangeboten produzieren Langeweile, die in Alkoholmißbrauch und Gewalttätigkeit mündet. Opfer solcher Gewalttätigkeiten sind häufig die leicht auffindbaren sozialen Außenseiter oder eben Ausländer, für deren Drangsalierung sich manchmal auch noch öffentlicher Applaus erzielen läßt. 20,6% aller Jugendlichen sind nämlich völlig und weitere 49,5% partiell davon überzeugt, daß Erwachsene bei Gewaltaktionen gegen Ausländer auf der Seite der Jugendlichen stehen.

Lassen wir abschließend wieder einen Skinhead zu Wort kommen:

"Am Tage jibts keene Gewalt, aber wenn et abends dunkel wird und du sitzt inne Kneipe und weeßt nich, wat de machen sollst, dann werden die Jungs doch ganz schön juckig. Dann kriegen sie eben doch nen bißchen mehr Mut, und dann geht dat rund. Ick glaube kaum, dat et nen Gewalttäter gibt, der nüchtern iss."

Fassen wir zusammen:

Von Jugendlichen werden also heute häufig, gerade mit Bezug auf ihr Alter, hohe Anpassungsleistungen gefordert. Sie sollen nun risikofreudig Manager und Promoter ihrer Berufskarriere werden, und ihre Freizeit kreativ und selbstbestimmt moderieren.

Und am besten sollen sie auch noch unsere neugewonnene, aber noch nicht so richtig funktionstüchtige Demokratie gegen extremistische Gruppierungen verteidigen, die ihnen für den Verlust an sozialem Prestige und sozialer Wärme in der DDR eine neue Identität als Kämpfer

[Seite der Druckausg.: 64]

und eine zunächst voraussetzungsfreie Kameradschaft bieten. Wie wurden sie darauf vorbereitet?

These 2:

Die Jugendgeneration ist auf die aktuellen Anforderungen des Lebens nach der Wende schlecht vorbereitet und wird bei ihrer Bewältigung gesamtgesellschaftlich wenig unterstützt.


Betrachten wir also die einzelnen Sozialisationsinstanzen und ihre diesbezüglichen Beiträge genauer. Beginnen wir bei der Familie und den Erziehungszielen. Die folgenden Zahlen basieren auf Befragungen von ca. 140 Eltern in NRW (1986) und Sachsen-Anhalt (1989). Wir ließen Eltern auf einer 5-stufigen Skala die Bedeutung von Erziehungszielen einschätzen.

Tabelle 8:

Rangreihe der Erziehungsziele (Mittelwerte x)

"*" signifikante Mittelwertunterschiede, A < 0.05;
"**" hochsignifikante Mittelwertunterschiede, A < 0.001

Rang Item

Sturzbecher

Paetzold


x

X

Rang

Im Osten höherbewertet:




4. * Verantwortungsbewußtsein

4.29

4.01

9

5. ** Höflich sein

4.26

3.87

13

6. * Hilfsbereit sein

4.23

3.97

11

7. ** Sauber sein

4.18

3.65

21

9. ** Liebevoll sein

4.14

3.71

18

9. ** Familiensinn haben

4.14

3.62

72

14. ** Ordentlich sein

4.04

3.69

20

22. * Gehorchen

3.81

3.57

24

25. ** Ehrgeizig sein

3.74

3.30

27


Im Westen höher bewertet:




9. ** Selbständig sein

4.14

4.34

3

13. * Selbstbewußt sein

4.13

4.33

4

15. * Aufgeschlossen sein

4.01

4.11

7

20. * Kritisch sein

3.89

4.09

8

(5 – sehr wichtig, 1 – unwichtig)




[Seite der Druckausg.: 65]

Wir finden also, daß ostdeutsche Eltern Erziehungsziele, die auf soziale Wärme und auf Konformität gerichtet sind, wesentlich bedeutsamer einschätzten, als westdeutsche Eltern.

Dagegen waren die elterlichen Erwartungen an das Selbstbewußtsein der Kinder sowie ihre Selbständigkeit, Aufgeschlossenheit und Kritikfähigkeit signifikant geringer als im Westen ausgeprägt.

Die Wunschkinder des Ostens scheinen also in einer Ellenbogengesellschaft die schlechteren Karten zu haben, ihnen fehlt wahrscheinlich Eigeninitiative und Selbstbewußtsein, dafür sind sie sozial beziehungsbedürftiger und angepaßter. Ob letzteres aber beispielsweise nach dem Wegfall DDR-üblicher Arbeits- und Lehrstellenvermittlungsmechanismen und der damaligen Kündigungsresistenz hilft, einen Job in einer Konkurrenzsituation und durch Selbstdarstellung zu erkämpfen und zu behaupten, ist zweifelhaft.

Aber vielleicht erhalten diese, wie wir gerade gehört haben, auf Familiensinn orientierten Jugendlichen mehr Hilfe durch ihre Eltern in dieser traditionell schwierigen jugendlichen Lebensphase, die gegenwärtig zusätzlich durch einen gesellschaftlichen Wertewandel gekennzeichnet ist. Das ist zu bezweifeln, denn viele Eltern haben selbst ihre berufliche Existenz verloren und suchen nach neuen Lebensmustern, bilden sich weiter und schulen sich um für den Kampf auf dem Arbeitsmarkt, wollen eine eigene Existenz aufbauen, sind also in Bezug auf ihre Lebenskarriere im gleichen Stadium wie ihre Kinder. Damit geht häufig der Verlust ihrer Orientierungsfunktion sowie ihrer Unterstützungsbereitschaft einher, das Familienklima wird repressiver. Dafür fanden wir Belege bei einer Befragung von 76 Magdeburger Kindern, die 1990 gegenüber 1989 über deutlich weniger Unterstützung und Trost durch die Eltern bei Problemen und mehr Unnachgiebigkeit bei Konflikten in der Familie berichteten.

Um meine Argumentation zur These 2 zu vervollständigen, bleibt zu zeigen, daß die genannten Defizite der Familienerziehung nicht anderweitig kompensiert wurden. Schmidt oder auch Schaarschmidt, führende Psychologen der DDR, stellten dazu 1991 fest, daß sich in Kindergarten und Schule die gleiche Überbetonung von Disziplin und Wohlverhalten wie in der Familie und darüber hinaus unzureichend dif-

[Seite der Druckausg.: 66]

ferenzierte Bildungsangebote finden lassen. Statt auf Selbständigkeit und Kreativität bei der Problemanalyse und -bewältigung im intellektuellen und sozialen Bereich lag der pädagogische Schwerpunkt auf der Vermittlung eines im Alltag kaum anwendbaren Wissens und dem Einüben kollektivistischen Verhaltens, d.h. letztlich auf reproduktiven Leistungen bei Individualitätsverzicht.

Dies gilt auch und vor allem für die politische Bildung unter DDR-Verhältnissen. Sie war geprägt durch Tabu-Themen und die Ausgrenzung politisch Andersdenkender. Die Schule war kein Freiraum, in dem orientierungssuchende Kinder und Jugendliche angstfrei auch provokante Positionen vortragen bzw. sich mit ihnen auseinandersetzen konnten. Hier wurde der antifaschistische Bildungsauftrag unzulässig pädagogisch verkürzt, der Lehrer zum Regisseur propagandistischer Reproduktionsleistungen, statt zum Initiator politischer Kommunikations- und Bildungsprozesse.

Das damit erzeugte diffuse Klima der Mißbilligung gegenüber Wohlstandschauvinismus, Rassismus und Faschismus hält heute der Realität und den von ihr ausgelösten psycho-sozialen Belastungen und Ängsten nicht stand. Neben einer raumgreifenden Resignation und Sättigungseffekten führen bei vielen Erwachsenen und Jugendlichen heute auch fehlende Fähigkeiten, einen politischen Willen zu artikulieren, zu diskutieren und durchzusetzen, zu Politikverdrossenheit und politischer Ignoranz. Dieses Defizit an politischer Kommunikations- und Handlungsfähigkeit, an Fähigkeiten, andere Sichtweisen und Einstellungen zu erkennen und zu tolerieren, ist dem uniformen und repressorischen gesellschaftlichen System der DDR geschuldet, zu dem auch die Schule beitrug. Dieses Defizit läßt sich auch anhand der Ergebnisse unserer diesjährigen Jugendbefragung zeigen. Wir ließen die Jugendlichen ihre politischen Fähigkeiten einschätzen und fragten u.a. nach der Akzeptanz und Beeinflußbarkeit der Landes- und Kommunalpolitik.

[Seite der Druckausg.: 67]

Tabelle 9: Bewertung der eigenen politischen Fähigkeiten und der Beeinflußbarkeit von Politik (Angaben in %)

Item

stimmt völlig

stimmt teilweise

stimmt kaum

stimmt nicht

Selbsteinschätzung politischer Fähigkeiten

"In der Bewertung politischer Sachverhalte bin ich unsicher"

28.2

46.8

17.9

7.1

"Ich verstehe nicht genug von Politik"

24.9

41.6

22.2

11.3

"Die Teilnahme an Diskussionen über politische Themen fällt mir leicht"

14.2

36.0

27.8

22.1

Beeinflußbarkeit und Akzeptanz der brandenburgischen Politik

"Ich kann zusammen mit anderen Entscheidungen der brandenburgischen Regierung beeinflussen"

6.2

19.6

24.9

49.3

"Die Probleme der Jugend finden in Brandenburg genügend Aufmerksamkeit"

7.5

23.4

38.2

31.0

Beeinflußbarkeit und Akzeptanz der Kommunalpolitik

"Was in meinem Kommunalparlament entschieden wird, kann ich beeinflussen"

7.6

18.0

24.5

49.9

"Unsere Kommunalpolitiker bewegen nichts Entscheidendes für die Jugend des Ortes"

44.9

37.4

11.7

6.1

"Unsere Kommunalpolitiker sollten unverzüglich die Lebenssituation der Jugend verbessern"

72.4

20.4

5.5

1.8

[Seite der Druckausg.: 68]

Hinsichtlich der Selbsteinschätzung politischer Fähigkeiten ist anzumerken, daß es bei allen drei Items hochsignifikante Unterschiede zwischen Jungen und Mädchen gibt. In jedem Falle schätzen die Mädchen ihre Kompetenz für politisches Handeln wesentlich geringer ein, wobei für uns nicht zu entscheiden ist, ob dieser geschlechtsspezifische Unterschied auf eine tatsächliche Diskrepanz oder inadäquate Selbstreflexionen zurückzuführen ist.

Das hier zutagetretende Mißtrauen in die Funktionalität der demokratischen Mechanismen in Ostdeutschland zeigt sich denn auch darin, daß Jugendliche die von ihnen erfahrene Demokratie nicht für erstrebenswert halten oder zunehmend terroristische Formen politischen Handelns billigen.

Tabelle 10:

Einstellungen zu Demokratie und Terrorismus
(Angaben in %)


1991

1993

Item

zutreffend

nicht zutreffend

keine Meinung

stimmt völlig

stimmt teilweise

stimmt kaum

stimmt nicht

"Die Demokratie ist die beste Staatsform"

31,5

10,2

58,3

21.1

51.3

19.2

8.3

"Nur die Terroristen haben die richtigen Ziele und Methoden"

4,7

70,1

25.2

5.8

14.9

28.9

50.4


Fassen wir zusammen: Es läßt sich vermuten, daß es vielen Jugendlichen in Brandenburg heute an Eigeninitiative, Selbstbewußtsein, Kompetenz und sozial-kommunikativen Fähigkeiten mangelt, ihre Probleme und auch den diesbezüglichen Streß konstruktiv bzw. mit gesellschaftlich akzeptierten Mitteln zu bewältigen. Diese Probleme resultieren aus dem Prozeß der "Individualisierung und Pluralisierung der Lebenslagen

[Seite der Druckausg.: 69]

junger Menschen" der sich im Osten Deutschlands durch die Besonderheiten der deutschen Einigung explosionsartig vollzieht und auf den die Jugendlichen nicht vorbereitet sind. Dieser Prozeß vervielfältigt und differenziert zwar die beruflichen, ökonomischen, sozialen und kulturellen Entwicklungschancen des Einzelnen, erhöht aber auch seinen Entscheidungs- und Mobilitätszwang und zerstört die einfache Nachlebbarkeit tradierter Lebensmuster weitgehend.

Die Jugendlichen werden schlagartig von Verhältnissen und Bedingungen abhängig, die sich ihrem Einfluß entziehen und teilweise undurchschaubar sind. Sie werden arbeitsmarktabhängig, abhängig von sozialrechtlichen Regelungen und Versorgungen, von Freizeitangeboten freier Träger usw., die von ihnen kaum aktiv beeinflußt werden können.

Vereinzelung, Handlungsunsicherheit und Ohnmacht sind daraus resultierende Erfahrungen, die viele Jugendliche im Zuge des beschriebenen Modernisierungsprozesses machen. Stabilität und Gewißheit suchen Jugendliche in dieser Situation oft im Rückgriff und Bezug auf Gruppen bzw. Einheiten, deren gewissermaßen "natürliche" Merkmale niemand bestreiten kann ("Nation" oder "Rasse"), und auf "natürliche" Hierarchien ("Der Stärkere setzt sich durch!"). Die gewalttätige Äußerung, der individuelle Terrorismus wird, obwohl aus Hilflosigkeit geboren, zur Möglichkeit, Aufmerksamkeit zu erringen und Handlungsfähigkeit zu demonstrieren. Gewalt wird als Verhaltensalternative immer stärker akzeptiert und praktiziert. Dazu wieder empirische Ergebnisse.

[Seite der Druckausg.: 70]

Tabelle 11: Akzeptanz von Gewalt

stimmt völlig

stimmt teilweise

stimmt kaum

stimmt nicht


in %

in %

in %

in %

Im Zusammenleben der Menschen wird letztlich alles über Gewalt geregelt.

10.2

52.8

25.1

11.9

Ich bin in bestimmten Situationen durchaus bereit auch körperliche Gewalt anzuwenden, um meine Interessen durchzusetzen.

9.7

18.2

28.1

43.9

Man muß zu Gewalt greifen, weil man nur so beachtet wird.

6.2

19.3

25.6

48.9

Über Gewalttätigkeiten schaffen Jugendliche klare Verhältnisse. Die Erwachsenen reden nur herum.

18.2

40.6

23.8

17.5


Bevor ich nun noch kurz auf Möglichkeiten der Prävention und Intervention gegen Fremdenfeindlichkeit eingehe, sei mir noch eine selbstkritische Bemerkung gestattet. Meine Darstellung der Ursachenstrukturen für Fremdenfeindlichkeit ist stark makrosoziologisch ausgerichtet, die Gründe werden vorrangig in den gesellschaftlichen Strukturbedingungen bzw. ihrer dynamischen Veränderung gesehen. Das heißt jedoch nicht, daß man ausländerfeindliche Aktionen auf bewußte politische Proteststrategien oder unbewältigte Anpassungsforderungen reduzieren kann.

Im Einzelfall sind bei ausländerfeindlichen Aktionen natürlich immer auch individuelle Merkmale des Akteurs und Besonderheiten seiner nahen sozialen Umgebung zu beachten. Es gibt darüber hinaus weitere Gründe für fremdenfeindliche Gewalt, die häufig vernachlässigt werden. Dazu gehören Eskalationsdynamiken von Massenaktionen wie in Rostock. Und dazu gehören Interaktionsprozesse in der Gruppe wie das Festigen oder Verbessern des sozialen Status eines Mitgliedes durch

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spektakuläre Aktionen, durch das Brechen von Tabus. Zu den Tabus der DDR-Gesellschaft gehörte die Respektierung der Ausländer und der Naziopfer. Tabus zu brechen ist nicht nur unter Jugendlichen "in", denken wir an manche eilige Straßenumbenennung.

Ich stehe aber trotzdem zu der von mir vorgebrachten makrosoziologischen Akzentuierung bei der Suche nach Ursachen für die Fremdenfeindlichkeit unter ostdeutschen Jugendlichen. Neben den bereits vorgetragenen Argumenten dafür gibt es noch einen weiteren Grund. Wenn wir uns auf die Position zurückziehen, daß Gewalt gegen Fremde und Außenseiter immer Bestandteil des jugendlichen Selbstfindungsprozesses in der menschlichen Gesellschaft war, daß die häufig von Jugendtätern geäußerten politischen und psychosozialen Motivationen nur Ergebnis des Bestrebens sind, kriminelle Energie rational zu veredeln, was bliebe dann an Interventionsmöglichkeiten außer Gegengewalt? Trotzdem möchte ich der Vollständigkeit halber anmerken, daß ca. 10% der gewaltausübenden Jugendlichen, Gewalt gegen Ausländer eingeschlossen, nach eigenen Angaben jeweils ohne besonderen Grund oder ausschließlich aus Spaß handeln.

Kommen wir abschließend zu einigen Schlußfolgerungen für Interventionsmaßnahmen.

Im Mittelpunkt von Interventionsmaßnahmen gegen Fremdenfeindlichkeit muß m.E. das Problem einer Umstellung von einer sehr stark uniformierten, homogenen gesellschaftlichen Öffentlichkeit auf die Pluralität von kulturellen und politischen Orientierungen sowie einer Vielfalt privater Lebensweisen stehen. Es ist den Jugendlichen, und das gilt nicht nur für Jugendliche und nicht nur für den Osten, zu vermitteln, daß sich in einem demokratischen Rechtsstaat öffentlicher Konsens wie Konflikt über die Beteiligung einer Vielzahl von konkurrierenden Interessen und Deutungen konstituiert. Der geistige wie der wirtschaftliche Wettbewerb oder die Vielfältigkeiten von Alltagswelten und Kulturen gehören konstitutiv zu dieser Ordnung dazu und können nicht als vermeintliche Unordnung und Unnormalität diskreditiert werden.

Ausgehend von den Problemen vieler Jugendlicher bei der Alltagsbewältigung, scheint Bildungsarbeit, die sich auf die Vermittlung von Wissen über die Ideen der Aufklärung, der Menschenrechte, der Ver-

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fassungsordnung und die Visionen der "Multikulturalität" beschränkt, ihr Ziel zu verfehlen. Stattdessen wird es nötig sein, den enormen Orientierungsbedarf in der Bewältigung der eigenen Biographie als eine Quelle der Ressentiments gegen alles Heterogene und "Unnormale" anzuerkennen, und nicht sozial- und gesellschaftspolitisch entstandenen Verunsicherungspotentiale und jugendtypische Übergangsphänomene oberflächlich als "Rechtsextremismus" zu qualifizieren.

Vielmehr müssen Schule und Jugendsozialarbeit miteinander und mit Angeboten politischer Bildung verzahnt werden. Im Rahmen dieser Angebote müssen das Grundrecht auf die Gewährung von Asyl, Quotenregelungen für einreise- und aufenthaltswillige Ausländer und vieles andere aufgegriffen und diskutiert werden.

Darüber hinaus sollten Ausländer im Rahmen solcher Angebote stärker in die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen einbezogen werden. Hier bieten sich Möglichkeiten, eigene Verhaltensorientierungen wie Einstellungen, Werte, Traditionen, Gewohnheiten aus anderer Perspektive sehen zu lernen, zu hinterfragen und in Richtung Toleranz zu relativieren. Indem Ausländer auch ihre Erfahrungen von Diskriminierung und daraus resultierender Angst weitergeben, werden Gewalt und Angst partiell zur eigenen Erfahrung von Heranwachsenden. Hier sind Möglichkeiten, das durch die Medien abgestumpfte Bild der vielfältigen Erscheinungsformen von Gewalt aus ungewohnter Perspektive und mit emotionalem Hintergrund neu zu vermitteln.

Für den Kampf gegen Fremdenfeindlichkeit ist es entscheidend, daß unbürokratische Bemühungen, Begegnungen mit Ausländern zu organisieren, an die Stelle des Lamentierens über "Jugendprobleme" und komplizierter "Fördermittelvergaberichtlinien" treten. Denn Fremdenfeindlichkeit wie Jugendgewalt und dahinter verborgene ungestillte dramatische Bedürfnisse nach "action" resultieren allesamt zumindest partiell aus einem Defizit an selbstgewonnenen, intensiven sozialen Erfahrungen.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | September 2002

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