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Piotr Mittelstaedt
Vortrag des Bürgermeisters von Kulm/Chelmno


Die Kontakte von Polen und Deutschen im Kulmer Land und in der Stadt Kulm reichen bis in das 13. Jahrhundert zurück, als das Kulmer Land dem Deutschen Orden (Polnisch: Kreuzritterorden) von Konrad von Masowien übereignet wurde. Das wichtigste historische Faktum in jener Zeit war die Verleihung der Stadtrechte an Kulm durch die Ordensbrüder. Das Kulmer Recht stützte sich auf das Magdeburger Recht und bestimmte unter anderem, daß Kulm die Hauptstadtrechte haben sollte im Verhältnis zu anderen umliegenden Orten. Die folgenden Jahrhunderte brachten der Stadt Kulm Zeiten, die man durchaus als stürmisch bezeichnen könnte oder als Zeiten der gegenseitigen Feindschaft, aber es gab auch Zeiten, in denen sich das Leben auf die Grundlagen gegenseitiger Achtung und eines gegenseitigen Wohlwollens stützte.

Das 20. Jahrhundert brachte den Deutschen und den Polen, die in Kulm lebten, neue politische und auch gesellschaftliche Entwicklungen. In den Jahren unmittelbar vor Ausbruch des 2. Weltkrieges spielten gegenseitige Voreingenommenheiten und Feindschaften nur eine geringe Rolle. In Kulm und seiner Umgebung lebten nebeneinander polnische und deutsche Familien. Es gab keine feindschaftlichen Aktivitäten und keine öffentlichen Anzeichen von Intoleranz der einen Nation gegen die andere.

Die Machtübernahme der Faschisten in Deutschland eröffnete ein neues, tragisches Zeitalter in der Geschichte der Stadt. Die Demagogie der Führer des III. Reiches, häufig aber auch die Angst bewirkten, daß viele deutsche Familien mit einem gewissen Unwillen die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung, also die Polen, zu behandeln begannen.

Sogleich nach dem Einmarsch der Hitlerfaschisten begannen die Verfolgungen. Ein Höhepunkt dieser Ereignisse war die Erschießung von rund zweieinhalb Tausend Bewohnern der Stadt und ihrer Umgebung im Herbst 1939. Dieses Ereignis legte sich wie ein Schatten über die polnisch-deutschen Kontakte in den folgenden Jahren und auch noch nach

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dem Krieg. Dies wurde geschickt von den kommunistischen Machthabern genutzt. Ohne Rücksicht auf alles, was geschehen war, bestärkte man die Ansicht, daß der Deutsche ein Feind sei. Doch betraf dies vor allem die Deutschen aus der alten BRD. Die Deutschen aus der DDR waren immer Freunde. Eine solche Politik konnte nicht anders wirken, als daß sie bestimmte Haltungen bei einer Reihe von Generationen junger Polen hervorgerufen hat, die im Geiste von Haß und Falschheit erzogen worden sind.

Die Nachkriegsjahre haben das Bild des kapitalistischen Deutschen lanciert, der ungeachtet seines Alters und seiner Überzeugungen an den hitlerschen Verbrechen Schuld trägt. Diese Deutschen stellte man als Nationalitätengruppe dar, die jederzeit bereit ist, unsere Gebiete einzunehmen, als Folge von unterschiedlichsten Aktivitäten. Mit einem besonderen Interesse umwarb der Sicherheitsapparat polnische Familien, die Kontakte mit der BRD unterhalten haben. Die Notwendigkeit, Kontakte zwischen unserer Stadt und irgendeiner Stadt in der BRD zu knüpfen, wurden nicht akzeptiert. Man verschwieg auch die Tatsache, daß Kulm die Stadt ist, in der so bekannte Deutsche wie Hermann Löns, Kurt Schumacher und Heinz Guderian geboren sind. Man sieht anhand der hier erwähnten Namen, daß es keine Rolle spielte, ob es sich um einen Dichter, um einen Befehlshaber aus der Zeit des Hitlerschen Nationalsozialismus oder einen bedeutenden Funktionär der SPD und Insassen des Konzentrationslagers handelte.

Die Stadtverwaltung, welche in den ersten demokratischen Wahlen zur Selbstverwaltung nach dem 2. Weltkrieg gewählt worden war – diese Wahlen fanden am 27. Mai 1990 statt – kam zu dem Entschluß, daß in der Außenpolitik eine Garantie für freundschaftliche Beziehungen mit dem westlichen Nachbarn darin besteht, enge Kontakte mit einer deutschen Stadt zu knüpfen. Wir kamen zu der Überzeugung, daß dieser Schritt es möglich machen müßte, gegenseitige Voreingenommenheiten zu beseitigen.

Im Oktober 1990 haben in Kulm die damalige stellvertretende Präsidentin des Bundestages, Annemarie Renger, und der Bürgermeister der Stadt Kulm, Piotr Mittelstadt, eine Gedenktafel enthüllt, die Kurt Schumacher gewidmet ist. An der Feierlichkeit nahmen unter anderem der Vorsitzende der Friedrich-Ebert-Stiftung, Holger Börner, und der Bot-

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schafter der Bundesrepublik Deutschland, Günter Knackstaedt, teil. Dank der Vermittlung der Vertreter der FES, insbesondere aber durch die Vermittlung von Peter Schneider, haben wir Kontakte mit der Stadt Hann. Münden geknüpft. Heute verfügen wir bereits über zweijährige Erfahrungen aus dieser Städtepartnerschaft. Vielen Aktivitäten lag die feste Absicht zugrunde, den polnisch-deutschen Beziehungen eine neue Form zu verleihen. Die Stadt Hann. Münden war von Anfang an der Meinung, daß man auch Reizthemen und für beide Seiten tragische Ereignisse in den gegenseitigen Kontakten nicht übergehen sollte. Ich denke dabei einerseits an die Verbrechen des faschistischen Staates, andererseits an die Leiden, die mit der Umsiedlung verbunden waren.

Dies fand auch seinen Widerhall in den Inhalten des Partnerschaftsvertrages. Gemeinsam kamen wir zu dem Schluß, daß es notwendig ist, allmählich die Bewohner von Kulm zu überzeugen, daß die Deutschen unsere Freunde sein können. Damit dies aber möglich wird, waren und sind konkrete Aktivitäten nötig. Ein großes historisches Ereignis war die Kranzniederlegung durch die Stadtverwaltung der Stadt Hann. Münden im Juni 1991 auf den Gräbern der Opfer von 1939. Im Juli dieses Jahres, nach der Unterzeichnung des Partnerschaftsvertrages, nahmen die Vertreter beider Städte und mit ihnen der Botschafter der Bundesrepublik Deutschland in Polen sowie der Generalkonsul in Danzig an einem ökumenischen Gottesdienst teil, der an jenem Ort stattfand, wo die Opfer ihre ewige Ruhe gefunden haben.

Dies sind ungeheuer wichtige Ereignisse, denn wir haben es hier einerseits mit Menschen zu tun, die ihre Nächsten verloren haben, andererseits mit denen, die sich verantwortlich fühlen für die Taten ihrer Landsleute aus der Vergangenheit. Symbolische Bedeutung erhält in diesem Zusammenhang die Tatsache, daß im Namen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland ihr Botschafter den Ermordeten seine Ehrerbietung erwies, und nur wenige Schritte hinter ihm stand, mit einem bescheidenen Blumenstrauß, doch in der gleichen Reihe, ein Mann, der hier seinen Vater verloren hatte. Dies ist nur ein Symbol, aber ein wichtiges in unserer gemeinsamen Geschichte.

Außer den vielen symbolischen Gesten unterstützt die Stadt Hann. Münden auch materiell einige Investitionsaufgaben in Kulm. Solche Aktivitäten haben für die Stadtverwaltung von Kulm nicht nur eine

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ökonomische Bedeutung, sondern auch einen zusätzlichen politischen Effekt, der für uns sehr notwendig ist, um die Richtigkeit unserer Standpunkte in der Beziehung zur befreundeten Stadt zu beweisen.

Natürlich gibt es auch Themen, die es erschweren, gegenseitige Voreingenommenheiten zu beseitigen. In Kulm herrscht die Meinung vor, zumindest unter einem Teil der Bewohner, daß die ehemaligen Bürger von Kulm, die jetzt in der BRD leben, ihr Vermögen, das sie vor dem Krieg besessen hatten (Häuser, Land, Landgüter) zurückverlangen werden. Tatsache ist, daß solche Menschen Kulm besuchen. Unserer Meinung nach sind das aber unbegründete Befürchtungen, die vor allem aus den Vorstellungen der letzten Jahrzehnte in Polen entstanden sind. Teilweise werden unsere Mitbürger in diesen Ansichten durch manche unausgewogene Formulierungen von Menschen, die ihre ehemaligen Heimatgebiete besuchen, bestärkt. Redewendungen wie "unser Rathaus", "unser Haus", "unsere Gebiete", dargeboten von solchen Menschen, erleichtern weder Kulm noch Hann. Münden die Verwirklichung der beschlossenen Politik.

Wir haben bereits fest umrissene Errungenschaften und die bedeutendsten darunter sind Freundschaften, die weit über den Bereich des Jugendaustauschs oder der amtlichen Kontakte hinausreichen. Wir fühlen uns in den Häusern unserer Freunde wie in der Familie und hoffen, daß auch sie sich so fühlen, wenn sie in unseren Häusern zu Gast sind. Es gibt zur Zeit keinen Ausdruck von Feindseligkeiten gegeneinander in unseren Städten. Es gibt negative Ereignisse, die man aber an den Fingern einer Hand aufzählen könnte.

Ich möchte hier nicht verallgemeinern, denn dies würde die Wirklichkeit nicht widerspiegeln. Wir haben eine Arbeitsweise akzeptiert, die darin besteht, Aktivitäten zu schaffen, gestützt auf Tatsachen, die wir durch unsere alltägliche Arbeit hervorbringen. Wir sind uns bewußt, daß es die einzige Methode ist, die auf längere Sicht zu dem Ziel führt, das unserer Meinung nach heißen sollte: "Leben in gegenseitiger Toleranz, gegenseitiger Achtung und Freundschaft." Den Erfolg solcher Pläne und Absichten garantieren Menschen, die auf sich die Verantwortung für die Bewußtseinslage der Gemeinschaften unserer Städte nehmen.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | Februar 2002

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