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TEILDOKUMENT:


[Seite der Druckausg.: 11]



Albrecht Lempp
"West-östliche Bilder"


Zbigniew Herbert:
"Betrachtungen zum Problem des Volkes"
Aus der Tatsache, daß wir die gleichen Flüche
und ähnliche Liebesschwüre gebrauchen,
werden zu dreiste Schlüsse gezogen.
Auch die gemeinsame Schullektüre
reicht als Prämisse nicht aus,
um zu töten.
[...]
Ich möchte endlich erfahren,
wo die Verblendung endet
und die Verbindung beginnt,
ob wir infolge erlebter Geschichte
nicht seelisch verstümmelt wurden
und nun auf Fakten mit der Gesetzmäßigkeit von Hysterikern
reagieren.
[...]
[Aus dem Polnischen von Karl Dedecius.]

Wenn mir dieser kurze Text eher zu einem "Appell in kritischer Zeit" gerät, dagegen weniger zur höheren Erkenntnis über das Polenbild der Deutschen beiträgt, dann liegt das vielleicht nicht nur an den kritischen Zeiten und an meinen Vorbehalten gegenüber dem Instrumentarium, mit dem wir uns den nationalen Stereotypen nähern, sondern auch daran, daß es ein deutsches "Polenbild" oder ein polnisches "Deutschenbild" schlechthin nicht gibt.

Die Vorstellung, es gäbe aussagefähige Bilder über ganze Völker, muß aus der Zeit stammen, als Livingstone durch den afrikanischen Busch irrte. Während wir nicht sicher sein können, ob es die Spanier oder die Polen gibt, können wir sicher sein, daß wir über sie reden, als ob es sie gäbe. Und so werde auch ich es hier nolens volens tun.

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Aber weil wir so tun, muß ja wohl etwas dran sein. "Kein Rauch ohne Feuer", sagt der Berliner Polonist Heinrich Olschowsky, und da hat er sicher recht: Selbst wenn wir die Bilder, die man voneinander hat, "für einen Ausdruck falschen Bewußtseins hält, muß man einräumen, daß sie einen Kern Wahrheit enthalten". [Olschowsky, Heinrich: Das deutsche Polenbild. Vortrag gehalten am 14.11.1991 in Köln. Manuskript S. 12.] Was also ist dran, wenn wir dauernd von den Franzosen, den Türken oder den Polen sprechen. Dran ist, daß wir nicht über die Franzosen, Türken oder Polen sprechen, sondern über pauschale Bilder, die in unserem Kopf ein zähes Eigenleben führen, gespeist aus Märchen, Witzen, Fragmenten von Kolportiertem, Gelesenem und Extrapoliertem. Harmlos und weitverbreitet sind Ansichten wie die in den "Häresien und Paradoxa" von Aleksander Swietochowski aus dem Jahre 1884, der schreibt:

    "Machte man eine Mischung aus dem Fleiß eines Deutschen, der Findigkeit eines Franzosen, der Rechtschaffenheit eines Schweizers, der Besonnenheit eines Engländers und der Phantasie eines Polen – käme ein vollkommener Mensch zustande".

Mögen alle guten Geister uns vor einem solchen Menschen bewahren! Immerhin, das ist der Rauch. Wo aber ist das Feuer? Das Feuer, hier wird es bequem, wird meist tatsächlich gar nicht gesucht.

Bei nationalen Stereotypen, Bildern, Vorurteilen und Gemeinplätzen handelt es sich tatsächlich häufig um negative Eigenschaften, die wir dem Andern, dem Fremden zuschreiben. Und darin eben liegt die Funktion dieser Bilder: Wir wollen uns selbst schmeicheln, indem wir den Andern mit uns vergleichen - und ihn abwerten. Das hat Tradition und tut meist weiter nicht weh. Die Andern, die Fremden, das waren immer die Barbaren, die Lallenden und Stammelnden. Der eigne Stamm dagegen, das waren die "Menschen". Hans-Magnus Enzensberger hat in seinem schönen Büchlein "Die große Wanderung. 33 Markierungen" ein paar solcher Bezeichnungen aufgelistet und es mir dadurch erspart, in schlauen Büchern nachzuschlagen: "Die Nahua-Indianer nannten ihre Nachbarstämme popolaca = 'Stammler' und mazahua = 'die wie die Hirsche röhren'". Und weiter: "Für die Ainus ist ihr Stammesname iden-

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tisch mit dem Wort für 'Menschen', wohingegen die Japaner sie emishi = 'Barbaren' nennen." [Enzensberger, Hans Magnus: Die Große Wanderung. 33 Markierungen. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1992, S. 19.]

Gerne wird in diesem Zusammenhang auch das slavische niemiec angeführt, was in seinen verschiedenen Variationen soviel wie "der Deutsche" aber auch "der Stumme" heißt. Doch aus dieser den fremden Stamm abgrenzenden Bezeichnung ein Negativbild herzuleiten und es (wie verschiedentlich geschehen) in eine Reihe mit den Bildern zu stellen, die sich Polen aufgrund seiner Erfahrungen mit Friedrich II., Bismarck und Hitler gemacht hat, das geht dann doch am Kern der Sache vorbei und scheint mir wenig hilfreich. Aber es paßt eben so schön.

Und was paßt, hat Bestand. Stereotypen sind ungeheuer zählebig. Kürzlich ging eine Untersuchung über die Sexgewohnheiten der Franzosen durch die Presse. Derzufolge sind die französischen Liebesgewohnheiten weit entfernt vom (diesmal eher positiven) Bild des galanten Betthelden, der häufig durch unsere Köpfe geistert. Ich glaube jedoch nicht, daß sich nach dieser Untersuchung am allgemeinen Bild, die Liebe in Frankreich sei besonders schön, etwas ändern wird. Genauso wenig wie die Deutschen, und hier besonders die Ostdeutschen, das Image preußischer Tugendbolde so schnell verlieren werden, obwohl doch gerade sie, die Ostdeutschen, durch ihr für alle Beobachter überraschendes Aufbegehren die Mauer zu Fall gebracht haben. Das Vorurteil vom Kadavergehorsam der Deutschen ist langlebiger als die Mauer.

Ich persönlich habe großen Respekt vor dem Mut der Meinungsforscher, aus den von ihnen geführten Interviews gültige "Meinungsbilder" herauszufiltern. Mir selbst kommen jedoch häufig Zweifel an den Aussagen, die da von Fachleuten, aber vor allem von Laien, gezogen werden. Zu sehr scheinen mir die Befragungen an der Einschränkung des "eigenen Blickwinkels" zu leiden.

Im Herbst 1991 veröffentlichte der SPIEGEL eine der wenigen Umfragen, die in größerem Maßstab die Einstellungen beider Völker zueinander untersuchen. Sie wurde vom Bielefelder Emnid Institut und dem Warschauer Pentor Institut durchgeführt. Bezeichnend scheint mir bereits, welches Ergebnis das Nachrichtenmagazin an den Anfang seiner

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Berichterstattung stellt: "Jeder vierte Pole würde wohl nach Deutschland überwechseln und dort arbeiten, wenn sich eine Gelegenheit böte", heißt es da. Erst im Nachsatz wird eingeschränkt: "nur wenige für immer, die anderen entweder für einige Jahre oder alljährlich für ein paar Monate". [DER SPIEGEL 36/1991, S. 48.] Es ist die Krux differenzierter Umfrageergebnisse, daß sie sich nicht in ein paar griffige Formeln pressen lassen. Daher wohl der Rückgriff auf das ominöse Wörtchen "wohl" gleich zu Anfang und den die Aussage mehrfach einschränkenden Nachsatz. Was beim flüchtigen Anlesen des Artikels hängenbleibt – und das ist wohl beabsichtigt – ist der Eindruck, daß 10 Millionen Polen (nämlich jeder vierte von rund 40 Millionen) gerne nach Deutschland "überwechseln" wollen. Was immer das heißen soll: "übersiedeln" ist nicht gesagt, aber wird sprachlich suggeriert, obwohl genau diese Aussage durch die Umfrageergebnisse widerlegt wird. Denn "übersiedeln" wollten 1991 der Umfrage nach exakt 2 Prozent, nicht 25 Prozent.

So gesehen liest sich das Ergebnis sehr viel positiver, aber eben weniger reißerisch: Positiv ist nämlich, daß immerhin 40 Prozent der Polen während eines Deutschlandbesuchs bereits Gelegenheit hatten, ihr kolportiertes Bild von Deutschland mit eigenen Erfahrungen zu vergleichen und eventuell zu korrigieren. Dagegen waren nur 10 Prozent der Westdeutschen jemals in Polen. Die meisten Polen hatten allerdings nicht Westdeutschland, sondern die DDR besucht, aus der wiederum rund 75 Prozent der Bevölkerung schon einmal in Polen waren. Möglicherweise ist das einer der Gründe, weshalb das ostdeutsche Urteil über die Polen in dieser Umfrage insgesamt deutlich positiver ausfiel als das der Westdeutschen. Vielleicht bildet Reisen eben doch.

Am stärksten prägend ist zweifellos die direkte Erfahrung. Dies bestätigt auch eine neue Umfrage [Durchgeführt vom Zentrum für Europäische Bildungsforschung Berlin und dem Warschauer Instytut Badan Edukacyjnych im Frühjahr 1992. Zitiert nach POLITYKA 43/1992 vom 24.10.1992, S. 10.] zum heute so aktuellen Thema des Umgangs mit Fremden im eigenen Land. Danach nimmt eine negative Einstellung gegenüber Fremden deutlich zu, je weniger direkte Erfahrungen die Befragten mit Ausländern im eigenen Land haben.

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Doch zurück zur SPIEGEL-Umfrage: Was heißt denn nun positiv und negativ in solchen Untersuchungen? Laut Umfrage wurden 16 positiv-negativ Eigenschaftspaare angeboten. Warum die Eigenschaft "aufs Geld bedacht", die sich Polen, Ostdeutsche und Westdeutsche wechselseitig zuschrieben, gerade als positiv gilt, könnte diskutiert werden, ohne daß sich die Bewertung der Ergebnisse dadurch verändern würde. Wohin es jedoch führt, wenn man sein eigenes Wertesystem zum Nabel der Welt erhebt, zeigen die ach so positiven Eigenschaften "gründlich" und "diszipliniert". So nämlich werden die Deutschen von den Polen gesehen, während Ost- wie Westdeutsche 1991 die Polen eher für "oberflächlich" und "disziplinlos" hielten. Das ist nicht weiter überraschend.

Überraschend ist, daß niemand die Befragten zu fragen scheint, ob denn "diszipliniert" und "gründlich" auch in der polnischen Werteskala als positive Eigenschaften gelten. Auch die deutschen KZ-Schergen in Auschwitz, die SS in Krakau oder sonstige berufenen und unberufenen subalternen Exekutivorgane des deutschen Reichs im besetzten Polen waren sehr "diszipliniert" und "gründlich" bis zur Menschenverachtung. Diese Erfahrungen haben viele noch lebende Polen gemacht und sicher an ihre Kinder weitergegeben. Ob sie auch weitergegeben haben, daß diese Eigenschaften als positiv zu bewerten seien, mag ich bezweifeln.

Bestätigt wird dies durch die Ergebnisse einer Umfrage an deutschen und polnischen Schulen. Dort heißt es: "Die Deutschen werden von den Polen als arbeitsame, sparsam wirtschaftende, saubere, ordentliche, tatkräftige Organisationstalente gesehen. Diese fast einstimmige Meinung wird nur von wenigen als positiv gewertet. " [Gruszczynski, Piotr: Szkolne wyobrazenia. In: Res Publica 1-2/1992, S. 11-17; hier S. llf.]

Ein ähnliches Beispiel wird in einer Untersuchung unter Westberliner Schülern, die 1988/89 durchgeführt wurde, genannt: "Berliner Schüler einer 12. Klasse diskutieren ihre Erfahrungen mit dem deutsch-polnischen Schüleraustausch. Jenseits der üblichen Topoi imponiert dabei vor allem die Verblüffung der Schüler über ein in Polen wie in Berlin beobachtetes Phänomen, daß nämlich die polnischen Altersgenossen

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auffällig oft – nichts tun. Die weitere Diskussion dient vornehmlich dazu, dieses offensichtlich irritierende Phänomen wegzuerklären: In Polen mangelt es an Gelegenheiten zur Betätigung, in Berlin handelt es sich um eine Art Totstellreflex infolge von Reizüberflutung. Niemand kommt auf den Gedanken, daß solches Nichtstun eine eigene Form sein kann, die auf ein anderes, kulturell vermitteltes Verhältnis der Menschen zur Zeit verweist und die für uns typische Rastlosigkeit, das dauernde Beschäfigtsein, anschaulich in Frage stellt. [...] Es ist kein Gegenstand der Reflexion, daß der 'Langeweile' ihre negativen Konnotate erst auf der Folie eines (Selbst-)Bildes zugeschrieben werden [...] Erst recht kann nicht reflektiert werden, daß 'Langeweile' für den polnischen Gast vielleicht 'Muße' bedeuten könnte [...]." [Dämmert, Ingo; Norbert H. Weber: Ferne Nachbarn. Über das Polenbild Westberliner Schüler. In: Internationale Schulbuchforschung, Jg. 14,1/1992.]

Und nochmals zurück zur großen SPIEGEL-Umfrage: Gleich zu Anfang heißt es in dem interpretativen Teil: "'Sehr stolz' darauf, ein Pole zu sein, ist mehr als die Hälfte der dortigen Bevölkerung. 'Sehr stolz', Deutsche zu sein, sind nicht mal halb so viele Bundesbürger."

Was dem Leser suggeriert werden soll, ist dies: Die Polen waren und sind stolze Nationalisten. Sieht man sich die Umfrageergebnisse genauer an, so zeigt sich, daß immerhin 67 Prozent der Westdeutschen und 66 Prozent der Ostdeutschen damals "stolz" (nämlich "sehr stolz" und "ziemlich stolz") waren, Deutsche zu sein. Nach demselben Maßstab waren 88 Prozent der Polen "stolz", Pole zu sein. Das ist tatsächlich deutlich mehr als bei den Deutschen, doch von "nicht mal halb so viele" kann keine Rede mehr sein. Die Tendenz stimmt, aber in der Pointierung liegt der Fehler, und dieser Fehler hat Methode: Womöglich soll sich das bestätigen, was "man" sowieso für wahr hält.

Macht man sich dann noch die Mühe, ein bißchen in der Geschichte zu bohren und zu fragen, was bedeutet Nationalstolz für einen Polen, dessen Nation sich über Jahrhunderte qua Literatur, Sprache, Kirche und Oppositionsgefühl gegenüber ungeliebten Fremdherrschern und als fremd empfundenen Systemen manifestiert hat, und was bedeutet dagegen Nationalstolz für Deutsche, die, kaum daß sie Zeit hatten, sich klar

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zu werden, was es heißt, einer deutschen Nation anzugehören, sich und andere stolz in zwei Weltkriege stürzten, die, kaum daß ihnen gesagt werden konnte, sie hätten das mit dem Nationalstolz mißverstanden und übertrieben, zerteilt wurden und wenig Chancen hatten, ein Gefühl für ein nationales Wir-Gefühl zu entwickeln, macht man sich also diese Mühe, dann zeigt sich schnell, daß hier Birnen mit Äpfeln in einen Korb geworfen werden. Was daraus gepreßt wird, mag trinkbar sein, doch eine Aussage darüber, in welchem Volk die Nationalisten "steifer aufgerichtet" (so die ursprüngliche Bedeutung von "stolz") sind, ist es nicht.

Wäre es nicht erhellender, einmal – ganz allgemein – nach den Eigenschaften zu fragen, die dafür verantwortlich sind, wenn ein Volk keinen Krieg anzettelt? Vielleicht stünden dann die deutschen Meinungen über die Polen, sie seien "faul", "disziplinlos" und "entscheidungsschwach" nicht auf der Soll-Seite, sondern unter der Rubrik "kontemplativ", "unbefangen gegenüber der Obrigkeit" und "gelassen" auf der Haben-Seite. Warum dies so nicht geschehen wird, ist klar: Die Wertung von Eigenschaften richtet sich nach dem Erfolg, und zwar dem wirtschaftlichen. Die Fremden, das sind die Armen, lautet die bündige Definition des Ausländers bei Enzensberger. "Wo die Konten stimmen, versiegt wie durch ein Wunder der Fremdenhaß." [Enzensberger, Hans Magnus: Die Große Wanderung. 33 Markierungen. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1992, S. 37.]
Wo die Konten nicht stimmen, sind die Meinungsbilder negativ.

Das Positive bleibt Folklore: Gastfreundschaft und menschliche Wärme werden übereinstimmend von fast allen Deutschen an den Polen gerühmt, die einmal dort zu Besuch waren. Für einen Moment scheint in solchen Fällen das eigene ganz auf Wohlstand und materielle Befriedigung ausgerichtete Wertesystem ins Schwanken zu geraten, doch letztlich werden Gastfreundschaft und Offenheit in den direkten Kontakten schnell wieder zu zwar schönen, aber letztlich nebensächlichen Eigenschaften abgewertet.

In der noch zu DDR-Zeiten erschienenen Gedichtanthologie "Zwei Ufer hat der Strom" bringt es ein Gedicht von Heinz Kahlau auf den Nenner:

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    Der
    fuhr nach Polen
    um einzukaufen.
    Das Beste,
    was er heimbrachte,
    war die Erfahrung:
    Man kann weniger haben
    und trotzdem
    besser leben.
    Das war seiner Frau
    zu wenig.
    [Zwei Ufer hat der Strom. Deutsch-polnische Beziehungen im Spiegel deutschsprachiger Dichtung aus 150 Jahren. Hrsg. von Ulrich Grasnick. Berlin: Verlag der Nationen 1988, S. 216.]

Doch nicht einmal die folkloristische Wertschätzung kann den Polen in Zukunft sicher sein, denn kapitalistisches Marktgebaren macht heute auch dort den Faktor "Zeit" zu einem Gut, mit dem streng hausgehalten werden muß: Nach einer Umfrage, die im Januar 1992 in der polnischen Tageszeitung GAZETA WYBORCZA veröffentlicht wurde, hatte die Mehrheit der Befragten im neuen System weniger Zeit und weniger Freunde als früher. Vorbei die Zeiten der Gemütlichkeit.

Eine, und eine erfreuliche, Aussage läßt sich jedoch aus den großen und kleinen Umfragen dieser Zeit herausfiltern: "Die Meinungsunterschiede sind bei allen Fragen zum deutsch-polnischen Verhältnis zwischen Jüngeren und Älteren weit größer als zum Beispiel je nach Schulbildung, nach politischer oder religiöser Einstellung." Die Art des Umgangs miteinander ist "eindeutig vor allem ein Generationsproblem". [DER SPIEGEL 36/1991, S. 57.]

Doch vorläufig ist das Bild geprägt von Desinteresse und Unwissen; genauer: Es ist ein Negativbild aus Desinteresse und Unwissen. Denn auffällig ist doch, daß alle Schülerberichte über Klassenfahrten nach Polen ein positives Polenbild widerspiegeln. Und meist folgt das kleinmütige bis überraschte Eingeständnis: Hätte ich vorher gewußt, wie Polen ist, wäre ich schon viel früher hingefahren.

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Nicht das Negativbild an sich, sondern das Fehlen eines begründeten Bildes über Polen ist das Erschreckende. Polen ist und bleibt für viele eine terra incognita oder eher ein schwarzes Loch. Um dieses schwarze Loch macht man lieber einen Bogen, denn dahinter lauern Schuldgefühle und die Schrecken des Holocausts. Die Instrumentalisierung deutscher Schuld und Kriegsverbrechen, die Isolierung im "Ostblock", die parteipolitische Emotionalisierung der Themata Polen, Oder-Neiße-Grenze und deutsche Ostgebiete, all dies hat Polen zu etwas gemacht, dem sich nur die Motivierten, die Engagierten freiwillig nähern, jedenfalls im Westen Deutschlands.

In der DDR war die Situation teilweise anders. Man sah einander nicht unbedingt positiver, aber man war einander näher. Die Gemeinschaft im sozialistischen Block bewirkte bei den Deutschen aus der DDR und den Polen, trotz aller Vorbehalte, Sym- und Antipathien, ein Gemeinschaftsgefühl. Das, so Olschowsky, "drückte sich aus in denselben politischen Witzen und gleichen Nöten des praktischen Alltags. Wir kennen einander einfach etwas besser und sollten das in Zukunft nutzen". [Ebenda.]

Ein Blick in die deutschsprachige Literatur bestätigt diese Einschätzung: Die Liste der westdeutschen Schriftsteller, die sich mit dem Thema Polen beschäftigen, besteht zu 90% aus Personen, die aus den deutschen Ostgebieten stammen oder in ihren Biographien sonstige Bezüge zu Polen haben. Fast immer ist das eigentliche Thema in diesen Büchern deshalb eher die deutsche Geschichte, nicht die polnische. Und wenn denn Enzensberger über Polen schreibt oder Reto Hänny, dann sind es Reportagen, Berichte aus einem fernen Land, das die Autoren unter der Obhut eines Cicerone, eines Eingeborenen besucht haben, ethnographische Studien bei den sprichwörtlichen Buschnegern. Anders in der DDR. Dort war Polen, gerade in der Dichtung, viel mehr ein Thema als im Westen. Wohl nicht zuletzt auch deshalb, weil Polen für manche ostdeutschen Intellektuellen wegen der relativen Freiheit, die sie dort fanden, besonders reizvoll war.

Eine Chance? Sicher. Doch angesichts der rechtsradikalen Gewaltbereitschaft ist eher zu befürchten, daß hier eine Chance bereits vertan wurde. Bereits jetzt gibt es Absagen von polnischen Schulklassen, die

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sich zum Besuch in Deutschland angemeldet hatten. Absagen aus Angst, daß ein Aufenthalt in Deutschland zu gefährlich werden könnte. Das ist eine Situation, wie wir sie aus Krisengebieten, aus dem Libanon während der vergangenen Jahre, aus Bosnien in diesen Tagen, kennen. Die Folge dieser Zustände sind eine weitere nationale Abkapselung, eine Stärkung aller rechts-nationalen Bewegungen, die Europa und alle europäischen Nachbarn zum Teufel wünschen und in ihrer Selbstüberschätzung und Blindheit uns allen schaden.

Wonach suchen wir "Anwender" in all diesen Studien eigentlich? Wohl doch nach einer Antwort auf die Frage, wie sich das Miteinander besser gestalten ließe. Kurzschlüssig und mit den Ergebnissen solcher Umfragen nicht in Deckung zu bringen, ist allerdings das Herbeireden einer Parallelität deutsch-polnischer und deutsch-französischer Verständigung.

Alle, die dies wider besseren Wissens "schönzureden" versuchen, scheinen die entscheidende Feststellung jeder Umfrage nicht begriffen zu haben: Die Einstellung der Polen gegenüber den Deutschen war 1991 gekennzeichnet durch "eine Mischung aus Furcht, Neid und Respekt", wie der SPIEGEL einen polnischen Fachmann zitiert. Wichtiger jedoch: "Das Vertrauen der Deutschen zu den Polen und ihr Wille zur Verständigung mit diesen Nachbarn [ist] unterentwickelt, weil Geringschätzung und sogar Verachtung noch weit verbreitet sind." [Ebenda.] Im Klartext: Es ist Arroganz und Überheblichkeit, was auf deutscher Seite die Verständigung mit Polen erschwert. (Daß es auch Erschwernisse auf polnischer Seite gibt, ist unbestritten.)

Wenn eine große deutsche Presseagentur Anfang November 1992 einen Bericht über ihre Ticker schickt, daß es in Polen jetzt erstmals einen Zweimillionen-Zloty-Schein gibt und daß dies der höchste Geldschein in Polen sei, er aber nur den Gegenwert von DM 2 darstelle, und wenn große Zeitungen diesen Bericht unbesehen übernehmen, dann spiegelt sich darin mehr als nur ein schlampiger Umgang mit Nachrichten. Darin spiegelt sich die Erwartung, daß Polen immer noch eine hochinflationäre Wirtschaft hat (was nicht stimmt) und daß polnisches Geld keinen echten Wert besitzt (was auch nicht stimmt). Niemand in den Redak-

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tionen hat offenbar eine Ahnung von den Verhältnissen in Polen. Muß er auch nicht haben, doch er kann es in jedem aktuellen Datenlexikon nachschlagen. Doch man macht sich nicht die Mühe, weil das kolportierte Bild die Erwartungen bestätigt und das Unwissen unendlich hoch ist. (Als Fußnote sei angemerkt, daß 2 Millionen Zloty umgerechnet ca. DM 200 sind.)

Ähnlich ist es in der Typographie. Sie hat in den letzten Jahren enorme Fortschritte gemacht, wenn es darum geht, ohne großen Aufwand auch für den Laien verfügbar allerlei fremde Sprachen und fremde Alphabete über den PC auf Druckern oder im Lichtsatz auszugeben. Aber es hat Jahre gedauert, bis große Software-Firmen, die längst Schriftsätze für Dänisch, Portugiesisch mit der Variante Brasilianisch-Portugiesisch im Programm hatten, auch das polnische Alphabet anboten. Wie wenig Aufmerksamkeit sie diesem Alphabet allerdings schenken, zeigt sich, wenn eines der führenden Textverarbeitungsprogramme diese Zeichen zwar anbietet, die dazugehörigen Druckertreiber jedoch so fehlerhaft sind, als hätte ein Anfänger hier seine ersten Programmierversuche gemacht. Das ist zuerst einmal die Folge der geringen Bedeutung des betreffenden Marktes für ein Produkt. Aber es ist genau diese Geringschätzung aus wirtschaftlichen Gründen, die Arroganz erzeugt. In der emotionslosen Direktheit, mit der die Wirtschaft die Chancen und damit den Aufwand, den sie für einen Markt betreibt, kalkuliert, liegt aber bereits wieder eine Chance.

Die Fremden, das sind die Armen, sind die wirtschaftlich Schwächeren. Die Wirtschaftsdaten für Polen sehen derzeit nicht schlecht aus. Sie sind sogar besser, als die allgemeine Stimmung glauben macht. Wäre Polen bereit, ausländisches Kapital in größerem Umfang ins Land zu holen, wäre es wahrscheinlich schneller "europäischer Partner", als wir alle dies vorhersehen möchten.

Doch nochmals zurück zur Parallelität deutsch-polnischen und deutschfranzösischen Miteinanders. Es ist ja nicht so, daß diese nicht erstrebenswert wäre. Doch die Voraussetzungen dazu fehlen, und eine Gleichheit läßt sich nicht erzwingen. Die deutsch-französischen Beziehungen sind und waren im Guten wie im Bösen ziemlich gleichberechtigt. Darüber hinaus kennzeichnet sie in vielen Bereichen die Langeweile der Normalität. Allein deshalb, weil sich die Politiker dies-

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und jenseits des Rheins gut verstehen, es fertigbringen, ihre Interessen gemeinsam zu formulieren, ihre Konflikte via Dolmetscher zu diskutieren, heißen die Beziehungen gut. Und vielleicht ist das tatsächlich das Maximum an Nähe, das im vereinten Europa zwischen den Völkern möglich sein wird. Deutsche und Franzosen liegen einander nicht begeistert in den Armen. In beiden Ländern ist Englisch die am häufigsten gewählte Fremdsprache, nicht etwa Deutsch in Frankreich oder Französisch in Deutschland. Wer könnte von uns auf Anhieb fünf zeitgenössische französische Schriftsteller nennen, deren Bücher er gelesen hätte? Wer kann die aktuelle politische oder philosophische Diskussion wiedergeben, die in Frankreich geführt wird? Und was fällt uns zu Dänemark, Holland oder Portugal ein? Ein Schriftsteller? Ein Philosoph? Ein Manager oder Wissenschaftler? Kaum. Können wir die Sprachen? Selten.

Wo stehen diese Völker auf der Beliebtheitsskala in Umfragen? Bestimmt oben oder in der Mitte. Warum? Was braucht es, um "zu Europa" zu gehören? Was braucht es, um nicht als Fremder diffamiert zu werden? Geld? Bestimmt. Abwesenheit? Wahrscheinlich. Die westeuropäischen Ausländer sind in Deutschland scheinbar abwesender als die Polen, weil sie nicht so häufig als Straßenhändler und Bittsteller und überhaupt nicht als Aus- oder Umsiedler vorkommen.

Das deutsche Desinteresse gilt den Polen in Polen. Das deutsche Interesse gilt den Polen in Deutschland. Obwohl es zahlenmäßig weniger sind als die deutsche Minderheit in Polen, werden vor allem sie wahrgenommen und prägen das Bild, das man sich in Deutschland von Polen macht. Der Fremde im eigenen Land stößt auf Ablehnung. Schuld an dieser Malaise hat nicht zuletzt die Politik, wenn sie sich sträubt, Deutschland als das zu sehen, was es längst ist: ein Land, das geprägt ist durch die Anwesenheit und Kultur einer Vielzahl von Ausländern.

Die "Meinungsträgheit" ist enorm, und das ist nicht überraschend. Die "kognitive Dissonanz" wurde 1957 als Theorie formuliert und mag sie auch längst durch neue Beschreibungsmodelle abgelöst sein, so bleibt der Tatbestand: Ständig unterdrücken wir Informationen, wenn sie dem zu widersprechen scheinen, wovon wir überzeugt sind; und umgekehrt: dauernd bevorzugen wir Informationen, wenn sie das zu bestätigen scheinen, woran wir sowieso schon glauben. Übertragen wir diese

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Erfahrung auf die Bilder, mit denen wir täglich umgehen, wird schnell klar, warum es so schwierig ist, eine einmal gefaßte Meinung über Franzosen, Holländer oder Polen zu ändern. Es zeigt gleichzeitig, daß jemand, der sich in einem Umlernprozeß für den Spanier, den Tschechen oder den Schweden entschieden hat, dieses positive Bild möglicherweise auch offensiv und wider bessere Argumente verteidigen wird.

Das heißt, der "Polenfreund" läuft schnell Gefahr, alle negativen Informationen über die Polen zu ignorieren, so wie der "Polenfeind" nur die negativen Informationen speichern wird. Beides ist gleichermaßen unfruchtbar für eine sachliche Diskussion und ein klares Bild.

Die Entscheidung eines Autokäufers wird sich umso leichter von Sachargumenten beeinflussen lassen, je weniger Vorwissen und damit Vorlieben er hat. Genauso bei den nationalen Stereotypen: Hat jemand bereits von Kindesbeinen an ein Negativbild von Polen eingeimpft bekommen, so wird es viel schwieriger sein, ihn zu einer Korrektur dieser Meinung zu überreden. Und wer sollte es tun? Die Medien sind dazu kaum im Stande, da sie eher eine Negativverstärkung bewirken. Die Schule wird dazu nicht beitragen, solange sie einfach zu wenig Informationen bietet. Die Literatur kann, wenn sie denn gelesen wird, langfristig schon eher etwas erreichen. Noch mehr kann eine kleine Lobby von Überzeugungstätern erreichen, die durch Sachinformation und stete Aufklärung wirkt. Die größte Chance aber hat die direkte Erfahrung, die schnell aus jedem Saulus einen Paulus machen kann. Das positive Erlebnis muß allerdings so stark sein, daß es die Meinungsträgheit, die von der kognitiven Dissonanz beschrieben wird, überwindet.

Platt, aber wahr: Einen deus ex machina gibt es nicht. Vorurteile abbauen ist genauso mühsam wie Wissenslücken füllen. Die Medien sind daran interessiert, ihre Auflagen zu steigern oder zumindest zu halten. Zwangsläufig berichten sie deshalb eher über den Ausnahmefall denn über den Regelfall. Die Tatsache, daß 99 Prozent der Bevölkerung Europas (gegenwärtig leider unter Abzug der sich auf dem Balkan Bekriegenden) in friedlichem Desinteresse oder interessierter Friedfertigkeit nebeneinander und miteinander leben, rückt völlig in den Hintergrund vor der rasanten Berichterstattung über die Ausnahmen, die von einem Prozent angerichtet werden. Bedenklich ist deshalb nicht nur die

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Unbelehrbarkeit, Intoleranz und Arroganz einer Minderheit, sondern auch das Desinteresse und die Provinzialität des Denkens der Mehrheit.

Die Euro-Strategen, wie sie martialisch sich selbst gerne nennen oder genannt werden, haben daran nicht selten selbst Schuld. Ihnen geht es in erster Linie um wirtschaftliche und politische Fragen. Der Grundgedanke der europäischen Idee nach dem Zweiten Weltkrieg aber war bestimmt von der Hoffnung "Nie wieder wollen wir die Waffen gegeneinander erheben". Doch nicht das friedfertige Miteinander, sondern das profitable Handeln bildet den gedanklichen Treibstoff der europäischen Einigung. Die geistige Vereinigung wurde sträflich vernachlässigt. Sie wurde im übrigen genauso sträflich vernachlässigt, als sich Deutschland vereinte. Für den geistigen Umbau Europas gibt es keinen Einigungsvertrag und keine Treuhand. Das ist, wird mancher sagen, nur gut; doch gut ist nur, daß das geistige Zusammenwachsen nicht wie bei der Treuhand abgewickelt wird. Daß es jedoch ohne ausreichende Hilfestellungen, ohne Strukturen und ohne Mittel stattfinden soll, ist schlecht.

Mit der Wende ist vielen das Feindbild und manchen das Vorbild abhanden gekommen. Für den Westen war es relativ angenehm, als Feindbild ein System und Regierungen zu haben, denn damit wurden in der Regel nicht die Bürger dieser Staaten getroffen. Im Gegenteil: Ihnen wurde ein Mitleidsbonus zugestanden; sie badeten stellvertretend die Unzulänglichkeit der Welt, ja das Böse schlechthin aus. Dafür wurden sie geehrt, geliebt, aber eben auch alleingelassen. Die Polenbegeisterung im 19. Jahrhundert und zur Geburtsstunde der Solidarnosc Anfang der achtziger Jahre hatte ähnliche Hintergründe. Von sicheren Logenplätzen aus ließ sich das – wie allgemein angenommen wurde – hoffnungslose Aufbegehren gegen den Feind beobachten.

Die Frage heute ist nicht, wie schaffen wir eine Welt ohne Feindbilder. Auch nicht: Wie erreichen wir es, daß der Stellvertreterfeind nicht Polen wird, denn damit schieben wir den schwarzen Peter nur einer anderen Gruppe zu, den Roma und Sinti, den Juden, den Türken oder (wie es ein phantasievoller SPIEGEL-Essayist zu sagen wagte:) den Bankern. [Vgl. den Essay "Die wehrhafte Demokratie" von Rolf Lamprecht. In DER SPIEGEL 45/1992, S. 24-25.]
Die Aufgabe vielmehr ist: Wie schaffen wir Bedingungen, daß 1. das sub-

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jektive Sicherheitsgefühl des Einzelnen groß genug ist, damit er seine latenten Feindbilder nicht aktivieren muß, und daß 2. die vorhandenen Feindbilder eher auf Systeme und Strukturen denn auf die davon betroffenen Menschen gerichtet sind.

Für eine kurze Zeit hatte es so ausgesehen, als könnten "Umweltsünder" (wie es so schön biblisch heißt), als könnte alles, was die Harmonie einer ökologisch gesunden und politisch gemäßigten Welt bedroht, zum kollektiven Feindbild erklärt werden; als könnte in einem weltweiten Völkerfrühling das Böse ausgemerzt werden und der friedliche Dialog über eine rosige Zukunft neu beginnen. Es hat nicht sollen sein. Nach Westen hin ist derzeit die Brüsseler Europaverwaltung das Feindbild; nach Osten hin sind es die bereits eingereisten oder vor der Grenze andrängenden Menschen, die auch einen Platz im Enzensbergerschen Bahnabteil haben wollen.

Das individuelle Sicherheitsgefühl kann nur durch sozial-, finanz- und wirtschaftspolitische Maßnahmen, die von einer Wertediskussion begleitet werden, hergestellt werden. Derartige Ansätze sind aber derzeit nicht zu erkennen. Bei keiner Partei, keiner Gewerkschaft, keiner Kirche.

Mental hinkt die Menschheit den durch die elektronische Kommunikation gegebenen Möglichkeiten um Jahrhunderte hinterher. Wir denken in Kategorien des letzten Jahrhunderts und kolportieren diese Gedanken mit Mitteln des ausgehenden zwanzigsten Jahrhunderts. Wir sprechen von Nationen und erregen uns über den südamerikanischen Tropenwald und japanische Walfängerschiffe. Wir halten die Nationalfahnen hoch und erwarten vom Supermarkt an der Ecke, daß er Lebensmittel aus aller Welt auf Lager hält. Wir haben erfahren, daß die Welt ein Dorf ist, aber wir handeln nicht danach.

Es ist absurd. Die Deutschen hängen der Fiktion einer Nation an, die so alt nicht ist und die so viele Elemente enthält, daß ein Blick zurück in die eigene Familie schnell zeigen würde, daß Deutschsein eine recht internationale Angelegenheit ist. Natürlich gibt es so etwas wie einen Volkscharakter, den gemeinsamen Code. Es sind die zu Meinungen und Verhaltensmustern gewordenen kollektiven Erfahrungen und gleichen geschichtlichen Bezüge einer Gruppe. Eine solche Erfahrung ist der

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Zweite Weltkrieg. Der Zweite Weltkrieg, der von der polnischen veröffentlichten Meinung bewußt in die Tradition von Kreuzritter und Teilung gestellt wurde, ist ein so extremes Ereignis, daß es vermutlich auch ohne die politische Instrumentalisierung noch lange nachwirken würde.

So gesehen gibt es Anlaß zu gedämpftem Optimismus, daß über 67 Prozent der polnischen Jugendlichen von heute meinen, "das Unheil, das die Deutschen den Polen angetan haben, darf man nicht vergessen, aber man sollte es verzeihen". [Jonda, Bernadette: Die Deutschen und die beiden deutschen Staaten in der Sicht der Jugendlichen in Polen. Zitiert nach: Materialien 8 der 2. GEW-Solidarnosc-Konferenz vom 1. Sept. 1992 in Szczecin, S. 7.]
Während in derselben Umfrage weniger als 13 Prozent der Befragten meinten, dieses Unheil müsse den Deutschen immer vorgehalten werden. Wieder eine Chance. Doch es bleibt die deutsche Wahrnehmungslücke gegenüber Polen. Und sie bleibt wohl so lange, bis dereinst die Deutschen vom hohen Roß herunterkommen und in Polen einen gleichberechtigten, europäischen Partner sehen wollen.

Tatsächlich waren die Chancen, einen Neuanfang wagen zu können, seit langem nicht mehr so günstig: Der deutsch-polnische Nachbarschaftsvertrag hat weitreichende Perspektiven eröffnet; und er wird von einer überwältigenden Mehrheit der Ostdeutschen, Westdeutschen und der Polen positiv bewertet. Typischerweise ist die positive Einschätzung bei den Ostdeutschen deutlich höher als bei den Westdeutschen (laut SPIEGEL-Umfrage sind es 85 Prozent bei den Ostdeutschen gegenüber 70 Prozent bei den Westdeutschen).

Die ostdeutschen Initiativen für einen Dialog mit Polen, wie wir sie heute in Frankfurt/Oder, in Görlitz und Dresden erleben, weisen in die richtige Richtung. In den neuen Bundesländern sind die Potenz und die Kompetenz vorhanden, um im deutsch-polnischen Dialog eine wichtige Rolle zu spielen. Ich kann nur hoffen, daß diese Chance genutzt wird: trotz fehlender Mittel, trotz fehlender Unterstützung, trotz der Anfeindungen und Steine, die diesen Ansätzen in den Weg gelegt und vor die Stirn geworfen werden.

Die Bilder, die Deutsche und Polen voneinander in den Köpfen tragen, sind nicht immer freundlich und oft weit entfernt von der Wirklichkeit. Es liegt einzig an uns zu zeigen, wo sie falsch sind.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | Februar 2002

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