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TEILDOKUMENT:
[Seite der Druckausg.:7]
1. Vor der Herstellung von Demokratie in Polen und in ganz Deutschland konnten die Voraussetzungen für die von gutwilligen Politikern, Publizisten, Intellektuellen, Kirchenleuten und anderen Engagierten gewünschte partnerschaftliche Verständigung zwischen Deutschen und Polen nur ansatzweise geschaffen werden. Über vierzig Jahre war in Polen die politische Legitimation der Herrschaft zweifelhaft. Der zwanzig Jahre alte "Normalisierungsprozeß" betraf das Verhältnis zwischen dem westdeutschen Teilstaat und Polen. Zwischen der DDR und Polen herrschte "Klassenbrüderschaft", die gegenseitige Abgrenzung und Mißtrauen nur mühsam kaschieren konnte. Wirkliche Verständigung mit Polen konnte auf DDR-Seite nur von Nichtangepaßten gesucht werden. Die Folgen des Kalten Krieges und der Spaltung Deutschlands und Europas haben die offene Begegnung in einer wirklichen Nachbarschaft und Partnerschaft bis vor kurzem systembedingt verhindert. 2. Auch nach der Aufhebung der politischen Teilung Europas sind nicht alle Hindernisse für deutsch-polnische Verständigung beiseite geräumt. Die Zukunft der deutsch-polnischen Beziehungen wird weitgehend durch die wirtschaftliche, zivilisatorische und sozio-kulturelle Hinterlassenschaft des alten Systems und durch die Umstände des Systemzusammenbruchs im ganzen östlichen Europa (einschließlich des östlichen Teils der heutigen Bundesrepublik Deutschland) bestimmt. 3. Desintegrationstendenzen kennzeichnen nicht nur die internationalen Beziehungen "Ost"-Europas, sondern auch die innere Entwicklung der einzelnen Länder Ost-, Ostmittel- und Südosteuropas. Zugleich kehrt Deutschland als politische Macht in die europäische Politik zurück, integriert in politische, wirtschaftliche und militärische Bündnisse, deren Existenz nicht gefährdet erscheint, die eher neuer Konzeptionen bedürfen. Das Wechselspiel von Desintegration und In- [Seite der Druckausg.: 8] tegration in der Mitte Europas beeinflußt die politischen und geistigen Eliten in den neuen Demokratien. Das Schlagwort von der "Rückkehr nach Europa" und Ängste vor Vereinnahmung, Identitätsverlust, Ausverkauf und Kolonialisierung konkurrieren miteinander. 4. Die "Rückkehr nach Europa" wird entscheidend durch die Perzeption der geographischen, wirtschaftlichen, kulturellen und politischen Brückenfunktion Deutschlands nach Westeuropa präjudiziert sowie durch die Wahrnehmung dieses Deutschlands als einer dominanten Macht. Die Wahrnehmung der singulären Rolle Deutschlands in Polen und anderswo hat zur Folge, daß historische und sozialpsychologische Faktoren die Artikulierung von politischen und wirtschaftlichen Interessen in den Entscheidungsprozessen der politischen Eliten erschweren, Raum für Manipulation und populistische Demagogie entsteht. 5. Zwei Entwicklungsmodelle stehen scherenschnittartig dargestellt für Polen und die anderen postkommunistischen Demokratien nach dem Zusammenbruch der europäischen Nachkriegsordnung zur Wahl: "Europäisierung" im Sinne der Übernahme der Standards der politischen Kultur und technischen Zivilisation Westeuropas bzw. Abwehr des politischen und ökonomischen Modells, nationale Abschottung und Chauvinismus mit autoritären Tendenzen und den Folgen einer weiteren technisch-zivilisatorischen und politisch-kulturellen Abkopplung von Westeuropa. 6. Ungeachtet dieser bisweilen als schicksalhaft angenommenen Ungleichzeitigkeit der Entwicklung "West"- und "Ost"-Europas hängt die weitere europäische Entwicklung in Richtung kooperativer Strukturen entscheidend von bewußten Weichenstellungen und phantasievoller Politikgestaltung ab. Die Regierungen des demokratischen Polen und des vereinigten und demokratischen Deutschland haben sich für eine europäische Politik und angesichts harter Notwendigkeiten für eine qualitativ neue Nachbarschaft von Polen und Deutschland ausgesprochen. 7. Die erste Solidarnosc-Regierung hatte im Herbst 1989 den Umbruch in den deutsch-polnischen Beziehungen verkündet und einer Aussöhnung zwischen Deutschen und Polen das Wort geredet. Schon seit Jahren war in der demokratischen Opposition eine neue Deutschlandpolitik gefordert worden, die von der Prämisse ausging, die Freiheit [Seite der Druckausg.: 9] Polens sei auf Dauer ohne die Freiheit der Nachbarn im Westen (die Deutschen) und im Osten (die Russen) nicht denkbar. Der rasche Weg Deutschlands in die Einheit überraschte die neuen politischen Entscheidungsträger dann doch ebenso wie die anderen Akteure der internationalen Politik. Der Ballast künstlich geschaffener und aufrechterhaltener Freundschaften und Antagonismen wog schwerer als es sich die erste demokratische Regierung Polens selbst eingestehen wollte. Deutschlandpolitik über Deutschland hinweg wurde der polnischen Außenpolitik von Kritikern im Frühjahr 1990 vorgeworfen. In einem Boot mit den erfolglosen Verzögerern der deutschen Einheit, Frankreich und Großbritannien, zu sitzen, konnte sich für Polen jedoch nicht auszahlen. So fand die demonstrative Hinwendung zum vereinigten Deutschland im November 1990 in dem Treffen der Regierungschefs Kohl und Mazowiecki in Frankfurt/Oder und Slubice ihren Ausdruck. Bei dieser Gelegenheit wurde die Unterzeichnung des deutsch-polnischen Grenzvertrags am 14. November 1990 angekündigt. 8. Mit dem Grenzvertrag sollten die Probleme der Nachkriegsnachbarschaft zu den Akten gelegt werden. Die vertragliche Ausgestaltung der Zukunft war einem Vertrag über gute Nachbarschaft und freundschaftliche Zusammenarbeit vorbehalten. Die Botschaft des "Großen Vertrages" sollte die Wahrnehmung der historischen Chance für eine wirkliche Verständigung und "politische Freundschaft" zwischen Deutschland und Polen in einer revolutionär veränderten europäischen Situation sein. Die Felder der Zusammenarbeit sollten vorbildlich für Europa erschlossen werden. Zugleich mußte der Vertrag die neuen Gefahren ansprechen, die mit dem Zusammenbruch der alten Ordnung und der neuen Nachbarschaft des reichen und politisch stabilen Deutschland mit dem zwar demokratischen, aber wirtschaftlich (und damit politisch) instabilen Polen auftauchen. Eine Präventionsstrategie war gefordert. Tatsächlich spiegelt der Vertragstext die weit über das Bilaterale hinausgehende europäische Funktion der Ausgestaltung der deutsch-polnischen Beziehungen und die europäische Stellvertreteraufgabe der Bundesrepublik Deutschland wider. 9. Bereits die Präambel des Vertrages vom 17. Juni 1991 nimmt auf die wirtschaftliche Zusammenarbeit als notwendiges Element beim Abbau des Entwicklungsgefälles Bezug und betont die Bedeutung der [Seite der Druckausg.: 10] Bundesrepublik Deutschland bei der Heranführung Polens an die EG. Eine Novität in den deutsch-polnischen Beziehungen ist die Bezeichnung der Minderheiten als "natürliche Brücken zwischen dem deutschen und dem polnischen Volk". Der regionalen und grenznahen Zusammenarbeit wird im Vertrag breiter Raum gegeben. Sie soll die Nachbarschaft mit Leben füllen. Eine Vielzahl von grenzüberschreitenden Projekten wird derzeit auf den Weg gebracht. 10. Wenn für Polen womöglich die vertragliche Verankerung der EG-Perspektive eine Kernangelegenheit im Vertragswerk war, dann war es für die deutsche Seite die ausführliche Festlegung der Rechte der deutschen Minderheit in Polen. Die Minderheitenregelung im deutsch-polnischen Vertrag entwickelt sich schon zu einem Vorbild für ähnliche Regelungen, die Polen mit seinen östlichen Nachbarn anstrebt. 11. Der deutsch-polnische Partnerschaftsvertrag stellt das umfangreichste und konkreteste Vertragswerk in der Reihe der neuen Freundschaftsverträge zwischen einem "westeuropäischen und einem "osteuropäischen Land dar. Er verdeutlicht damit, daß die politischen Rahmenbedingungen für qualitativ neue deutsch-polnische Beziehungen noch nie so günstig waren wie heute. Der Vertrag reflektiert zugleich die Gefahren der Desintegration in den postkommunistischen Demokratien und der Asymmetrie der europäischen Nachkriegsentwicklung, denen es gegenzusteuem gilt, wenn die Chancen einer friedlichen Neuordnung Europas nicht rasch vertan werden sollen. Mit dem "Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Polen über gute Nachbarschaft und freundschaftliche Zusammenarbeit" vom 17. Juni 1991 brachten die politischen Entscheidungsträger in beiden Ländern zum Ausdruck, daß sie in einer dramatisch veränderten Lage in Europa die Beziehungen der Nachbarn an Oder und Lausitzer Neiße auf einer neuen Ebene entwickeln wollen. © Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | Februar 2002 |