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TEILDOKUMENT:
[Seite der Druckausg.: 113] Walter Schmid
1. Einleitung Was kann das Interesse sein, sich mit der Schweiz, dem kleinen Land an der Südgrenze der Bundesrepublik Deutschland, das mit seinen sechs Mio. Einwohnern nicht größer als Baden-Württemberg ist, zu beschäftigten? Zunächst einige Besonderheiten: Die Schweiz ist viersprachig, sie ist kein eigentlicher Nationalstaat, sondern eine Willensnation; sie ist verhältnismäßig reich, sie hat neben Luxemburg mit 20 % den höchsten Ausländeranteil in Europa, und sie ist nicht Mitglied der Europäischen Gemeinschaft. Sie kennt die direkte Demokratie; das Volk kann also sowohl zu Asylgesetzen wie auch zu Ausländergesetzen seine Meinung an der Urne kundtun. Die Distanz zwischen Regierenden und Regierten ist etwas weniger groß als anderswo. Sie ist überdies ausgesprochen föderalistisch strukturiert. Sie hat im Gegensatz etwa zu Frankreich, oder den Niederlanden keine koloniale Vergangenheit, was für die Ausländer- und Asylpolitik nicht ohne Belang ist. Im folgenden werde ich die Ausländerpolitik und die Asylpolitik mit kurzen Pinselstrichen skizzieren, um dann auf einige neue konzeptionelle Ansätze zu sprechen zu kommen. Abschließend will ich mich ein paar besonderen Fragen widmen, die für unsere Diskussion von Interesse sind. 2. Ausländerpolitik Die Schweiz war bis Mitte des letzten Jahrhunderts wie die meisten europäischen Staaten ein Auswanderungsland. Söldnerdienste im Ausland waren bis zur Französischen Revolution die wichtigste Devisenquelle unseres armen Landes. Im Zuge des Industrialisierungsprozesses begann sich das Blatt zu wenden. Kurz vor dem Ersten Weltkrieg betrug der Ausländeranteil an der Bevölkerung 15 %, - ein Höchststand. Was es vorher nicht gab: Ausländerkontrollen wurden eingeführt, fremdenpolizeiliche Vorschriften erlassen. Ausweispapiere kreiert und Bürokratien geschaffen. [Seite der Druckausg.: 114] Die Jahre der Wirtschaftsdepression und des Zweiten Weltkrieges führten später zu einer erheblichen Verringerung des Ausländeranteils. Weder politisch noch wirtschaftlich waren damals die Voraussetzungen für eine anhaltende Immigration gegeben. Erst in der Nachkriegszeit setzte in der Schweiz wie auch in Deutschland eine günstige Wirtschaftsentwicklung ein, welche die Nachfrage nach zusätzlichen ausländischen Arbeitskräften förderte. Eine liberale, fast ausschließlich nachfrageorientierte Zulassungspraxis führte dazu, daß der Ausländeranteil wieder zunahm und bis 1970 auf 17 % anstieg. [Seite der Druckausg.: 115] Von breiten Bevölkerungskreisen wurde dieser konjunkturbedingte Anstieg des Ausländeranteils als bedrohlich empfunden. Wahrscheinlich war es weniger die Zahl effektiv anwesender Ausländer, die erschreckte, als vielmehr das Gefühl, die Entwicklung entgleite jeder Kontrolle. Insgesamt sieben mal wurden Volksintitiativen gegen die sogenannte Überfremdung mit zum Teil sehr radikalen Inhalten ergriffen, welche regelmäßig mit kleineren oder größeren Mehrheiten verworfen wurden. Aus der Balance zwischen der Zuwanderung im wirtschaftlichen Interesse der Schweiz einerseits und Forderungen nach Begrenzung aus der Bevölkerung andererseits entwickelte sich in den 60er Jahren und danach das Konzept einer schweizerischen Ausländerpolitik, die im wesentlichen über 30 Jahre bis heute Gültigkeit hat. Die wesentlichen Ziele dieser Ausländerpolitik lassen sich mit folgenden Stichworten umschreiben:
Mit Ausnahme der Integration ansässiger Ausländerinnen und Ausländer sind die Ziele weitgehend wirtschaftlicher Natur. Es ist deshalb auch nicht verwunderlich, daß die Ausländerpolitik bis heute von der Wirtschaft und den Verbänden als eine Arbeitsmarktpolitik verstanden wird. [Seite der Druckausg.: 116] Zur Illustration dieses Sachverhalts bedarf eine Besonderheit der Erwähnung: Die Schweiz kennt das sogenannte Saisonnierstatut. Saisonniers sind Ausländer, die längstens während neun Monaten im Jahr in der Schweiz arbeiten dürfen und danach für mindestens drei Monate ins Ausland zurückkehren müssen. Sie haben kein Recht auf Familiennachzug; sie haben jedoch die Möglichkeit, ihre Saisonbewilligung nach vier Jahren in eine Jahresaufenthaltsbewilligung umzuwandeln. Der Saisonnier ist aus Sicht der Wirtschaft die ideale Arbeitskraft, weil sie billig ist und wenig soziale Kosten verursacht. Auch aus Sicht der Verwaltungen sind Saisonniers angenehm, weil sie die Statistik der ständigen ausländischen Wohnbevölkerung nicht belasten. Versuche, dieses menschlich und sozial problematische Statut abzuschaffen, sind bisher gescheitert. Möglicherweise wird also erst ein Beitritt zur EG oder die Ratifizierung des Vertrages über den [Seite der Druckausg.: 117] Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) dieses Statut beseitigen, denn vor dem Recht der Europäischen Gemeinschaft wird dieses keinen Bestand mehr haben. Damit ist ein gravierendes Defizit des heutigen Ausländerrechts angesprochen: Die geltende Ordnung wird im Falle einer Annäherung der Schweiz an die Europäische Gemeinschaft gründlich revidiert werden müssen. Neben dem Saisonnierstatut ist es vor allem das Prinzip des freien Personenverkehrs, welches übernommen werden müßte und zu erheblichen Veränderungen führen dürfte. Die Prognosen über die Auswirkungen der Freizügigkeit gehen auseinander. Sie variieren von einer Nullzuwanderung bis zu mehreren 100.000 Personen in den nächsten 10 Jahren. Man spricht in der politischen Klasse auch nicht gerne darüber, denn die erforderlichen Anpassungen in der Ausländerpolitik gehören zu den heißen Eisen bei der bevorstehenden Abstimmung über eine Ratifizierung des EWR-Vertrages bzw. eines allfälligen Beitritts zur EG. Zu den Tabus gehören in den letzten 10 Jahren, daß die angestrebten Stabilisierungsziele in der Ausländerpolitik nie erreicht wurden. Die ausländische Wohnbevölkerung wuchs in den 80er Jahren kontinuierlich auf einen historischen Höchststand im letzten Jahr von über 20 %. Jeder fünfte Einwohner ist Ausländer und jeder vierte Arbeitsplatz wird von einem Ausländer besetzt. In der Schweiz leben demnach bei gut sechs Mio. Einwohnern etwa 1,3 Mio. Ausländer. In den letzten Jahren war der Zuwachs vorwiegend auf Familiennachzüge sowie Umwandlungen von Saisonnier-bewilligungen in ordentliche Aufenthaltsbewilligungen zurückzuführen. Der Spielraum für die sogenannte aktive Arbeitsmarktbewirtschaftung nahm ständig ab. Neben Luxemburg ist die Schweiz heute das europäische Land mit dem größten Ausländeranteil. Die restriktive Einbürgerungspraxis spielt dabei eine Rolle. Zu den großen Herausforderungen der schweizerischen Ausländerpolitik gehört einerseits die schrittweise Anpassung des Ausländerrechts an jenes der Europäischen Gemeinschaft und andererseits die Suche nach einer kohärenten Antwort auf den wachsenden Migrationsdruck. [Seite der Druckausg.: 118] 3. Asylpolitik Das Stichwort Migrationsdruck führt direkt zum nächsten Thema, zur Asylpolitik. Hier können wir uns vergleichsweise kurz fassen: Mit Ausnahme der Situation im Zweiten Weltkrieg, als die Schweiz zum Refugium für Tausende wurde, welche der Schreckensherrschaft in Deutschland entflohen, welche Opfer der gräßlichen Beschlüsse wurden, die hier in nächster Nähe gefaßt wurden; mit Ausnahme dieser Jahre, in denen die Schweiz ängstlich zwischen Widerstand und Anpassung lavierend auch zahlreiche Verfolgte an ihrer Grenze abwies, gibt es sehr viel Vergleichbares in der Asylpolitik der alten Bundesländer und der Schweiz. Mit einer kurzen Verzögerung begann Anfang der 80er Jahre die Zahl der Asylgesuchsteller in der Schweiz sprunghaft anzusteigen von 2.000 bis 3.000 Gesuche pro Jahr zu Beginn auf 41.000 Gesuchsteller im letzten Jahr. Diese Entwicklung war selbstverständlich wie überall begleitet von harten politischen Auseinandersetzungen über die richtige Asylpolitik, von vier Änderungen des Asylgesetzes, insbesondere der Verfahrensbestimmungen, von einem [Seite der Druckausg.: 119] Ausgabenwachstum der öffentlichen Hand von wenigen Dutzend Millionen auf gegen eine Milliarde Schweizer Franken heute. Umfangreiche Unterbringungsstrukturen wurden aufgebaut. Allein für den Kanton Zürich unterhält unser Amt zur Zeit 3.200 Unterbringungsplätze und beschäftigt etwa 450 Mitarbeiter, welche sich mit Asylbewerbern befassen. Allerdings: Mit 41.000 Asylgesuchstellern war die Schweiz pro Kopf gerechnet mit Abstand das meistbelastete Land in Europa. Auf deutsche Verhältnisse übertragen, würde dies bei der heutigen Bevölkerungszahl etwa einer halben Million Gesuchsstellern entsprechen. Diese sehr große Zahl von Asylbewerbern hat zumindest eine positive Wirkung gehabt. Für jedermann wurde erkennbar, daß wir es hier mit einem existentiellen Problem zu tun haben, das nicht für politische Spiegelfechtereien mißbraucht werden sollte. Das Thema ist zu ernst. Die Parteien machten einen wichtigen Lernprozeß durch. Nach Jahren der politischen Polarisierung war es ab etwa 1990 möglich, parteiübergreifend asylpolitischen Ziele zu formulieren und Maßnahmen zu verabschieden. Dazu gehörte namentlich eine Straffung des Asylverfahrens, die Schaffung einer unabhängigen Beschwerdeinstanz, die Einführung des höchst problematischen Konzepts der "safe countries" und die Bereitstellung der für die Betreuung erforderlichen Mittel. Anzeichen für einen überparteilichen Kompromiß gibt es heute angesichts des Problemdruckes auch in der Bundesrepublik. Die Erfahrung der Asylpolitik als existentielle Frage hat auch bewirkt, daß es heute nicht mehr so viele Tabus gibt wie früher. Man kann heute über Quantifizierungen der Asylpolitik sprechen, ohne deswegen in Verruf zu geraten. Verfolgten den Schutz versagen zu wollen. Man kann auch über die Probleme der sozialen Integration sprechen, ohne deswegen ein Sakrileg zu begehen. Vor allem aber scheint der Zusammenhang zwischen dem Nord-Süd-Gefälle und der Migration aus den armen Ländern in die reichen Länder des Nordens weiten Bevölkerungskreisen bewußt geworden zu sein. Immer dringender wird deshalb die Entwicklungszusammenarbeit mit der Dritten Welt als Überlebensstrategie nicht nur des Südens, sondern auch des Nordens verstanden. Welches sind heute die Herausforderungen: Noch vor vier Monaten hätte ich gesagt, die zentrale Herausforderung sei es, die Zahl der Asylgesuche zu stabilisieren oder zu reduzieren, ohne zu repressiven und rechtsstaatswidrigen Mitteln zu greifen. In den letzten drei Monaten Jedoch - in der Asylpolitik gibt es [Seite der Druckausg.: 120] nichts, was es nicht gibt - sind die Gesuchzahlen in der Schweiz derart zurückgegangen, daß wir uns ernsthaft fragen, wie wir unser Personal in diesem Sommer beschäftigen können und wieviele Personen wir entlassen müssen. Wir gehen davon aus, daß sehr viele Asylsuchende, die sonst in die Schweiz gekommen wären, heute in der Bundesrepublik Deutschland zu finden sind. Wir rechnen deshalb auch damit, daß restriktive Maßnahmen der Bundesrepublik bald dazu führen werden, daß wieder Asylsuchende in die Schweiz abgedrängt werden. Gerade unser kleines Land hat in der Vergangenheit erlebt, wir stark wir von Entwicklungen in den Nachbarländern abhängen. [Seite der Druckausg.: 121] 4. Neue konzeptionelle Ansätze Der wachsende Migrationsdruck, das Ausmaß der illegalen Wanderung und die Stellung der Schweiz im Vorhof der Europäischen Gemeinschaft haben in den letzten Jahren zu intensiven politischen Diskussionen über die Notwendigkeit zur Ausgestaltung einer schweizerischen Migrationspolitik geführt. Starke politische Strömungen verlangen, daß die Asyl- und Ausländerpolitik auch in Zukunft klar auseinandergehalten wird und weiterhin in separaten Gesetzen geregelt bleibt. Beim Asyl gehe es um Menschenrechtsaspekte, die nicht mit anderen Gesichtspunkten vermengt werden dürften; andererseits habe die Ausländerpolitik arbeitsmarktlichen Interessen zu entsprechen und keine humanitären Aufgaben wahrzunehmen. Weite Teile der Wirtschaft vertreten aus einsichtigen Gründen diese Auffassung; aber auch Asylaktivisten sind dieser Meinung, denn sie befürchten, die Anerkennungspraxis für Flüchtlinge könnte innerstaatlichen Interessen untergeordnet werden. Die Vertreter einer völligen Trennung der beiden Politikbereiche verkennen m.E. jedoch gewisse Realitäten: Zum Beispiel die, daß ein enger Zusammenhang besteht zwischen politischen und wirtschaftlichen Motiven, welche die Asylgesuchsteller dazu bewegen, in Europa ein Gesuch zu stellen. Je restriktiver die ordentliche Zulassungspflicht, desto intensiver die illegale Wanderung oder desto höher die Asylgesuchszahlen. Die Zusammenhänge springen ins Auge. Für die Schweiz gilt zudem, daß die Asylsuchenden inzwischen schon ein beachtliche Faktor auf dem Arbeitsmarkt geworden sind und daß gewisse Gewerbebranchen in echte Schwierigkeiten kämen, wenn ihnen die Asylbewerber alle auf einen Schlag verloren gingen. Verkannt wird oft auch, wie stark heute bereits nationale Interessen die Asylpolitik und Asylpraxis beeinflussen. Ein Vergleich der Anerkennungsquote von Flüchtlingen in den verschiedenen europäischen Ländern kann zu der provokativen These verführen, daß die Anerkennungsquote kaum etwas mit der Gefährdungssituation in den jeweiligen Herkunftsländern zu tun habe, sondern umgekehrt proportional zur Zahl der Gesuchsteller sei. Je größer also die Asylbewerbergruppe, desto kleiner die Anerkennungsquote. Der Bundesrat (die Exekutive) hat im Frühjahr 1991 in einem Bericht zur Ausländer- und Flüchtlingspolitik ein Modell vorgestellt, das unter dem Namen [Seite der Druckausg.: 122] "Drei Kreise Modell" bekannt wurde. Anstelle der bisherigen Ausländerpolitik soll gemäß diesem Bericht in den 90er Jahren mit neuen Zulassungskategorien versucht werden, ein ausgewogenes Verhältnis zwischen Schweizern und Ausländern beizubehalten, den Migrationsdruck zu bewältigen, die Vorteile des Wirtschaftsstandortes Schweiz zu erhalten und die Einbettung der Schweiz im europäischen Umfeld zu garantieren. Gemäß dem Modell werden die Länder drei Kreisen zugeordnet:
Dieses Modell ist auf starke Kritik gestoßen, weil es zu pragmatisch die heute geltende, fast ausschließlich auf die wirtschaftlichen Interessen ausgerichtete Ordnung festzuschreiben versucht und dieser ein neues konzeptionelles Kleid überstülpt. Zu durchsichtig sind die Interessen und zu fadenscheinig das Konzept. Wenn schon Kreise, dann nur zwei, nämlich Freizügigkeit gegenüber EFTA und EG und Begrenzungspolitik gegenüber den übrigen Ländern, war die Meinung weiter Kreise der Gegnerschaft. Mit dem Auseinanderbrechen Jugoslawiens, welches eigentlicher Anlaß für die Bildung eines zweiten Kreises war, weil die Schweiz in den letzten 20 Jahren zahlreiche Saisonniers dort rekrutiert hatte, ist das Modell inzwischen schon fast wieder obsolet. Ein dritter konzeptioneller Ansatz schließlich, der diskutiert wird, ist eine integrierte Migrationspolitik. Er geht von der Realität aus, daß die Schweiz ein Einwanderungsland ist und fragt nach den effektivsten Steuerungsmechanismen. Die Idee wurde erstmals in einem Bericht der Verwaltung (Strategie für eine Flüchtlings- und Asylpolitik der 90er Jahre) 1989 entwickelt. Asylpolitik und Ausländerpolitik wären demnach zu einer einheitlichen Migrationspolitik zu- [Seite der Druckausg.: 123] sammenzufassen. Gleichzeitig wird postuliert, daß für die totale Einwanderung Höchstgrenzen festzulegen sind. Da die Aufnahme von Flüchtlingen wegen internationaler Verpflichtungen zahlenmäßig nicht abschließend festgelegt werden kann, muß die Ausländerpolitik den Ausgleich garantieren. Werden viele Flüchtlinge anerkannt bzw. sind viele Asylgesuche noch pendent, so ist die Zahl der ordentlichen Einwanderer entsprechend zu beschränken. Voraussetzung für eine integrierte Migrationspolitik ist allerdings ein politischer Grundkonsens, der sich darauf verständigt, daß die verschiedenen nationalen Interessen an der Migration einen demokratischen Ausgleich finden müssen. Die wirtschaftlichen Interessen, die humanitären, die kulturellen, die wissenschaftlichen, die sozialen sind zu gewichten. Das Modell geht von einem umfassenden Ausländerbegriff aus und schlägt Regelungsmechanismen vor, welche die Gesamtzahl der ausländischen Wohnbevölkerung steuern. Dem Migrationssaldo käme ein wichtige Bedeutung zu. In periodischen Entscheiden würde der Bundesrat (eventuell das Parlament) migrationspolitische Leitplanken setzen. Die Idee einer integrierten Migrationspolitik ist vor zwei Jahren von verschiedensten Seiten kritisiert worden. Politisch fand sie keine Gnade. Die Idee war zweifellos zu innovativ und rüttelte zu stark an liebgewordenen Vorstellungen und handfesten Interessen. In der Zwischenzeit aber ist die Zahl jener gewachsen, welche die engen Zusammenhänge zwischen Ausländer- und Asylpolitik sehen, und weit über die Parteigrenze hinaus wird heute eine umfassende Einwanderungspolitik und ein Einwanderungsgesetz verlangt. Die Verpflichtungen aus der Genfer Flüchtlingskonvention und dem dazu gehörenden Protokoll werden dabei nicht in Frage gestellt. So ist es deshalb nicht ausgeschlossen, daß langfristig dieser dritte konzeptionelle Ansatz die schweizerische Flüchtlings- und Asylpolitik mehr prägen wird als das im letzten Jahr von der Regierung verabschiedete Modell der drei Kreise. 5. Besondere Fragen Hat die Schweiz als viersprachiges, vielkulturelles Land überhaupt Probleme mit Ausländern? Ja. Die Schweiz hat zwar als Willensnation das friedliche Zusammenleben der verschiedenen Volksgruppen gelernt. Die Respektierung der kulturellen und sprachlichen Autonomie sowie die überproportionale Vertretung der Minderheiten in der Politik sorgen für das Gleichgewicht. Das Geheimnis [Seite der Druckausg.: 124] liegt jedoch in der Segregation begründet. Die Landesteile sind klar voneinander getrennt. Kaum, daß in den letzten Jahrzehnten eine Gemeinde ihre sprachliche Zugehörigkeit durch Zuzüge geändert hätte. Die vier Kulturen prägen in hohem Maße das Selbstverständnis der Schweiz. In den letzten Jahren sind jedoch schleichend wichtige Veränderungen passiert. Nicht mehr das Rätoromanische, sondern "Jugoslawisch" ist die viertmeist gesprochene Sprache in unserem Land. Die drittgrößte Religionsgemeinschaft sind die serbisch-orthodoxen Christen, und nicht etwa die Altkatholiken, welche die dritte der drei offiziellen Landeskirchen bilden. Die Schweiz entwickelt sich vom vier- zum vielkulturellen Land, doch hat sie dies noch nicht bewußt wahrgenommen. Das Land lebt im Heute mit dem Selbstverständnis von Gestern. Diese Entwicklung wirft die Frage nach der Integration der Ausländer auf. Zweifellos darf festgehalten werden, daß es in der Schweiz in einem überdurchschnittlichen Maße gelungen ist, die ausländische Wohnbevölkerung zu integrieren. Ghettos gibt es in der Schweiz nicht; dazu ist das Land auch zu kleinräumig. Die Integrationspolitik ist aber nach wie vor fast ganz auf das alte ausländerpolitische Konzept ausgerichtet, welches im Ausländer einen südeuropäischen Arbeitnehmer sieht und die Integration über die Arbeit vorsieht. Erst nach und nach wird uns bewußt, daß die Integration der Asylsuchenden und neuen Einwanderer neue Antworten verlangt. Oft sind diese nur unzureichend in den Arbeitsprozeß eingegliedert; oft kommen sie aus Kulturkreisen, die uns sehr fern stehen, oft haben sie gar nicht die Absicht, sich näher auf die Schweiz und unsere Kultur einzulassen. Seit längerem wird die Regierung angemahnt, neue integrationspolitische Initiativen zu lancieren, welche gezielt auf diese neuen Einwanderungsgruppen ausgerichtet werden. Bisher noch mit wenig Erfolg. Zu befürchten ist, daß weiteres Zuwarten die sozialen Kosten später erhöhen wird. Auch wenn es in der Schweiz zu Anschlägen auf Asylbwerber-Unterkünfte kommt, auch wenn in der Schweiz Asylbewerber Opfer von Gewalttaten sind, ist anzunehmen, daß die Schweiz nicht ausgeprägt fremdenfeindlich ist. Der Umstand, daß die Schweiz einen Ausländeranteil von gut 20 % aufweist, ohne daß es zu massiven sozialen Spannungen gekommen wäre, zeigt, daß die Integrationsfähigkeit vergleichsweise groß ist. Fremdenfeindlichkeit artikuliert sich denn meistens auch auf dem Hintergrund sozialer Probleme, wie sie nun mit einem wachsenden Reichtumsgefälle auch in der Schweiz vermehrt vorkommen. Selbstverständlich gibt es auch in der Schweiz Kampagnen gegen Rassis- [Seite der Druckausg.: 125] mus, doch unterscheiden sie sich in der Tonart von ausländischen Vorbildern. Es wird weniger mit moralischen Appellen operiert, als vielmehr der Frage nach Ursachen der Fremdenfeindlichkeit nachgegangen. In der Tat erscheint es mir wesentlich erfolgversprechender, den Gründen für ein fremdenfeindliches Verhalten auf die Spur zu kommen und die dahinter liegenden Konflikte anzusprechen, statt zu verdrängen. In diesem Sinne sind in der Schweiz in letzter Zeit verschiedene Initiativen entstanden, welche im Kampf gegen die Fremdenfeindlichkeit den Kulturkonflikten und den real existierenden Konkurrenzsituationen zwischen Ausländern und Schweizern, neuen Einwanderern und alteingesessenen Ausländern nachspüren. Abschließend: Vielleicht, weil die Schweiz klein ist, vielleicht, weil sie über eine Regierung verfügt, in der alle größeren Parteien eine Koalition bilden, vielleicht, weil die Migrationsfrage für unser Land gerade im Hinblick auf unseren Zugang zur Europäischen Gemeinschaft von entscheidender Bedeutung ist, vielleicht, weil wir unter erheblichen Druck geraten sind, gelang es in den letzten Jahren, zahlreiche Tabus aufzubrechen und Probleme in ihrer ganzen Tiefe anzusprechen. Zum Beispiel das Verhältnis der Schweiz zur Dritten Welt und unsere Mitschuld an den Ursachen für die Migration; oder die Frage, inwiefern nicht unser Lebensstil Migrationen auslöst, weil er letztlich stets nur einer Minderheit der Weltbevölkerung vorbehalten bleiben kann, wenn es nicht zum ökologischen Aus kommen soll, oder die Frage nach den negativen Auswirkungen der Migration auf die Herkunftsländer, oder die Frage nach den Grenzen der Aufnahmefähigkeit oder die Frage nach den Menschenrechten und ihrer angeblichen Universalität. Vieles ist in unserem Land in Gang gekommen. Wenn trotzdem auch in unserem Land weitherum Ratlosigkeit herrscht, so unter anderem auch, weil wir zur Zeit im Bannkreis der Europäischen Gemeinschaft stehen, welche uns historische Entscheidungen abverlangt - jedem von uns als Stimmbürger und Stimmbürgerin. Die Einsicht in die komplexen Zusammenhänge der Ausländer- und Asylpolitik haben darüber hinaus auch zu einer gewissen Resignation geführt, und mehr und mehr Leute stellen sich die Frage, ob die Probleme denn überhaupt zu lösen seien. [Seite der Druckausg.: 126 = Leerseite] © Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | September 2001 |