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TEILDOKUMENT:


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Dietrich Thränhardt
Ein Zuwanderungskonzept für Deutschland am Ende des Jahrhunderts


1. Zur Charakteristik Deutschlands als Zuwanderungsland

"Tatsächlich ist die Bundesrepublik Deutschland heute ein Einwanderungsland;

sie unterscheidet sich von klassischen Einwanderungsländern lediglich dadurch, daß die Einwanderung ungeregelt und nicht kontingentiert erfolgt. Gerade diese Tatsache löst in der deutschen Bevölkerung Angst aus, die wiederum die Politiker hindert, klare politische Ziele zu formulieren." [Fn_1: Liselotte Funcke, Bericht der Beauftragten der Bundesregierung für die Integration der ausländischen Arbeitnehmer und ihrer Fanlilienangehörigen, Bonn 1991, S. 45. Vgl. zu einer Gesamtcharakteristik der Situation vor der Wiedervereinigung und dem Zusammenbruch des Ostblocks Dietrich Thränhardt, Die Bundesrepublik Deutschland - ein unerklärtes Einwanderungsland, in: Aus Politik und Zeitgeschichte B 24/1988, S. 3-13.]

Mit diesen Worten hat Liselotte Funcke in ihrem letzten Bericht als Ausländerbeauftragte die Lage charakterisiert. Inzwischen sind die angesprochenen Probleme noch drängender geworden - die Regelung der Einwanderung selbst und noch mehr die Kontroversen um sie, die Kampagnen, Ängste, Feindbilder und Gewalttaten. Die von Politikern und Medien ausgelösten Ängste haben ein demokratiegefährdendes Niveau erreicht. Dies mag andererseits eine Wende erleichtern, zumal einige Kampagnenteilnehmer inzwischen als "betrogene Betrüger" (Lessing) dastehen. [Fn_2: Das scheint inzwischen selbst im Bundestag unstrittig zu sein. Der FDP-Abgeordnete Kleinen fand keinen Widerspruch, als er in der Bundestagsdebatte vom 30.4.1992 "den beteiligten christlichen Kräften" in bezug auf ihren Wahlkampf in Baden-Württemberg im Frühjahr 1992 Psalm 57, Vers 7, vorhielt: "Sie graben eine Grube mir und fallen selbst hinein." (Das Parlament 42/20, 8.5.1992, S. 6). "Auch die CDU/CSU profitiert nicht von der Asyldiskussion", sagte Innenminister Seiters am 13. August 1992 (SZ 187, 14.8.1992), während wenige Tage vorher der CSU-Generalsekretär Huber forderte. Asylpolitik müsse im Herbst 1992 wieder ins Zentrum der Debatte rücken.]
Analysiert man die Bundestagsdebatte vom 30. April 1992, so läßt sich ein prinzipieller Konsens über eine neue Zuwanderungs- und Asylpolitik erkennen, ein nachdenklicher Pragmatismus, der die Erhaltung des politischen Asyls einschließlich tragfähiger juristischer Garantien und den Übergang zu einer planmäßigen Politik beschränkter Zuwanderung ein-

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schließt. Zwar sind die Akzente zwischen CDU einerseits und SPD und FDP andererseits unterschiedlich verteilt - die einen präferieren mehr den Artikel 116 Grundgesetz (GG), die anderen den Artikel 16 (GG) - aber die Übereinstimmung geht bis hin zur Diskussion von Quotensystemen und neuen Staatsangehörigkeitsregeln durch den CDU-Fraktionsvorsitzenden Schäuble. [Fn_3: Gelegentlich scheint die Überzeugung aber mit der Geographie zu wechseln. Vgl. die Rede des CDU-Fraktionsvorsitzenden Wolfgang Schäuble vor der Jungen Union in Bayern, in der wieder die Forderung nach Änderung des Grundgesetzes im Vordergrund stand (Süddeutsche Zeitung 114,18.5.1992).]
Kritisch zu diesem Pragmatismus stehen Abgeordnete aus dem Bündnis 90 und der PDS, die eine Gesinnungsethik vertreten und prinzipiell für die Öffnung des Landes eintreten. Die Bundesversammlung der Grünen hat diese Haltung ebenfalls mehrheitlich bestätigt und sich gegen die Beschränkung der Zuwanderung ausgesprochen - allerdings gegen den Willen der Politiker, die Regierungsverantwortung tragen und diese Haltung als "moralischen Rigorismus", als "politisch folgenlos und politisch schädlich" bezeichnet haben. Auf der anderen Seite außerhalb des Konsensus stand in der Debatte die CSU, die für die Abschaffung der individuellen Asylgarantie eintrat. [Fn_4: Außerhalb des Bundestages treten einige ihrer Spitzenrepräsentanten verbalradikaler auf als die eigentlichen rechtsradikalen Parteien - man denke nur an Innenminister Stoibers Versuch der Einführung des Begriffs "durchrasst", das Wort von Ministerpräsident Streibl von der "multikriminellen Gesellschaft" oder das von Staatssekretär Riedl von der "asylantenfreien Zone".]

Versuchen wir, die wesentlichen Charakteristika unserer Einwanderungssituation zu erfassen:

1.1 Größe der Zuwanderung

Das westliche Deutschland, die "alte" Bundesrepublik, hat in den Jahren seit 1989 mehr Zuwanderung aufgenommen als jedes andere europäische Land. Per saldo waren es 1989 900.000 Zuwanderer und 1990 und 1991 jeweils 1,1 Millionen. [Fn_5: Elmar Hönekopp, Einwanderung aus Osteuropa - Ursachen und Perspektiven und Auswirkungen auf die Arbeitsmarktsituation in der EG und in Deutschland, unveröff. Papier, Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung der Bundesanstalt für Arbeit, Nürnberg, S. S. Die Datenlage in bezug auf die Zuwanderung ist in den letzten Jahren verschlechtert worden. Die Bundesregierung hat nur sehr zögernd Zahlen veröffentlicht, allerdings mit Ausnahme der Asylbewerberzahlen, die wiederum aus politischen Gründen überhöht angegeben werden. So werden Zweit- und Drittanträge, zu denen die Behörden vielfach ermutigen, der Gesamtzahl zugerechnet. Abgänge werden statistisch nicht angegeben.]
Dies bedeutete für 1990 und 1991 in absoluten Zahlen mehr Zuwande-

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rer als in den USA. Auch wenn angesichts der Grauzonen am Rio Grande und anderswo derlei Zahlen nicht sehr verläßlich sein mögen, zeigt der Vergleich mit den USA, einem Land mit vielfach größerer Einwohnerzahl und siebenunddreißigmal größerer Fläche [Fn_6: Im Vergleich zur "alten" Bundesrepublik. Im Vergleich zu Gesamtdeutschland sind es sechsundzwanzig Mal mehr Fläche und mehr als dreimal so viele Einwohner.], daß das westliche Deutschland sich seit 1989 einen erheblichen Einwanderungsstoß beschert hat, und zwar wohlgemerkt ganz überwiegend politisch gewollt und zunächst mit Begeisterung aufgenommen. Quantitativ waren dabei die Aussiedler und die innerdeutschen Übersiedler am wichtigsten. Die politischen Flüchtlinge und Asylbewerber machten nur etwa 20 % aus (Schaubild 1).





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Über die Zuwanderung aus den traditionellen Quellen hinaus - innerdeutsche Übersiedler, Volksdeutsche Aussiedler, EG-Zugehörige, Familiennachzug aus der Türkei und anderen Ländern, Flüchtlinge - hat die Bundesregierung von den Instrumenten des neuen Ausländerrechts Gebrauch gemacht und neue Anwerbungen organisiert. 1991 wurden 63.000 "Werkvertragsarbeitnehmer" zugelassen. Daneben gab es 130.000 Saisonkräfte - allein dies entspricht einem halben Prozent des westdeutschen Arbeitsmarktes.

Diese quantitativen Größen sind kein einmaliger Höhepunkt anläßlich der Wiedervereinigung gewesen. Vorher gab es drei wichtige Zuwanderungswellen. Zwischen 1945 und 1950 kamen zwölf Millionen Flüchtlinge und Heimatvertriebene, in den folgenden Jahren flohen weitere drei Millionen aus der DDR. Als das Ulbricht-Regime mit dem Mauerbau diesen Zustrom unterband, begannen die Anwerbungen im Mittelmeerraum, mit denen per Saldo wiederum drei Millionen Italiener, Spanier, Portugiesen, Jugoslawen, Griechen und Türken, Marokkaner und Tunesier in die Bundesrepublik kamen. In allen diesen Wellen war die Bundesrepublik in quantitativer Hinsicht der Spitzenreiter bei der europäischen Immigration. 1939 wohnten im Gebiet der alten Bundesrepublik etwa 43 Millionen Einwohner, heute sind es 63 Millionen. Der Nettozuwachs beträgt also 20 Millionen, und wenn man das Geburtendefizit seit 1971 berücksichtigt, 21 Millionen. Auch diese Zahl - für die Netto-Zuwanderung - ist höher als die irgendeines anderen Landes der Welt. Die Bruttozuwanderung war noch höher, denn es fand in dieser Zeit, vor allem in den ersten Jahrzehnten, auch Auswanderung statt. Schon diese grobe quantitative Betrachtung weist darauf hin, daß es bei der Diskussion um "Einwanderungsland" oder "Einwanderungsgesetz" nicht darum gehen kann, ein Mehr an Einwanderung vorzuschlagen. Im Gegenteil: es geht um eine bessere Planung, um eine bessere Vermittlung zwischen den Interessen der Einwanderer und denen des Einwanderungslandes, um weniger Chaos und mehr Konzept.

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Schaubild 2:





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1.2 Politisch übersteuerte Wanderungszyklen und ihre negativen Folgeerscheinungen

Im Gegensatz zur Politik traditioneller Einwanderungsländer, in denen eine gleichmäßige Zuwanderung im Einklang mit den Eigeninteressen des Landes angestrebt wird, hat die Einwanderungspolitik der Bundesrepublik eine starke Diskontinuität der Wanderungsbewegungen hervorgebracht, und zwar über die konjunkturellen Bewegungen hinaus, die sich aus den Veränderungen auf dem Arbeitsmarkt ergeben. Dies gilt nicht nur für die Folgen des Zweiten Weltkriegs, sondern insbesondere auch für das letzte Jahrzehnt (Schaubild 3).

Dabei war Folgendes zu beobachten: Aufgrund der von der CDU/CSU in der Oppositionszeit 1979-82 geweckten Erwartungen einer starken Verringerung der Zahl der Ausländer versuchte die neue Mehrheit, mit dem Rückkehrförderungsgesetz 1984 die Rückwanderung von Nicht-EG-Angehörigen anzureizen. Die geweckte Erwartung, die Zahl der Ausländer werde sich verringern, ergab einen zusätzlichen Auswanderungsdruck, der sich in den Betrieben bemerkbar machte. Die Ankündigungen einer entscheidenden Verringerung der ausländischen Bevölkerung gingen damit zwar keineswegs in Erfüllung. Die Zahl der Türken, gegen die sich die Kampagnen zwischen 1979-82 gerichtet hatten ("Es gibt kein Ausländerproblem, sondern nur ein Türkenproblem"), wuchs in der zweiten Hälfte der achtziger Jahren wieder an und überschritt den Stand von 1982. Zeitweise entstand gleichwohl ein Knick in der Bevölkerungsentwicklung. Für einige Jahre sank die Bevölkerung von mehr als 62 auf weniger als 61 Millionen Einwohner. Diese zeitweiligen politikbedingten Rückwanderungen riefen problematische Folgewirkungen hervor. Gleichzeitig ging ja die Schrumpfung der Bevölkerung mit deutscher Staatsangehörigkeit weiter. Die Doktrin, "kein Einwanderungsland" zu sein, schien es auszuschließen, eine weitgehende Ersetzung der abzusehenden indogenen Schrumpfung durch exogene Quellen in Rechnung zu stellen. In vielen Politikbereichen zeigten sich Folgewirkungen, die insgesamt zu der vielbeklagten Investitionsschwäche im Deutschland der achtziger Jahre wesentlich beitrugen (Im Gegensatz dazu war ein bedeutender Teil des neuen Wachstums 1990/91 im westlichen Deutschland durch die Bevölkerungsvermehrung bedingt). [Fn_7: Nach einer Studie des Rheinisch-Westfälischen Industrie-Instituts haben die 3,6 Millionen Zuwanderer der Jahre 1988-91 im Jahr 1991 fast 30 Mrd. DM an Steuern und Abgaben gebracht, aber nur 16 Mrd. an Aufwendungen beansprucht. Die aus dem durch sie induzierten Wachstum entstandenen Steuern und Abgaben setzt das RWI mit 50 Mrd. DM, die zusätzlichen Ausgaben dagegen nur mit 20 Mrd. an. Für die Jahre 1988-91 insgesamt errechnet es insgesamt ebenfalls eine Entlastung der Haushalte (Süddeutsche Zeitung Nr. 207,8.9.1992).]

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Schaubild 3:





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Am einschneidendsten war die Entwicklung in der Wohnungspolitik. Die Wohnungswirtschaft, die einen zusätzlichen Schock durch die Leerstände in den großen Wohnblocks der Ballungszentren erhielt, nahm keine Neuinvestitionen mehr vor. Die Versicherungswirtschaft, traditionell Großinvestor im Geschoßwohnungsbau, zog sich aus dem Wohnungsbau weitgehend zurück. Als sich dann seit 1989 die große, von der Politik und der Öffentlichkeit zunächst leidenschaftliche begrüßte Einwanderungswelle ergab, war der soziale Wohnungsmarkt auf Null gefahren worden. Die Bundesregierung hatte die finanzielle Förderung des sozialen Wohnungsbaus 1986 ganz eingestellt und es wird lange Zeit in Anspruch nehmen, um ihn im notwendigen Ausmaß wieder anzukurbeln. Dies ist keineswegs nur eine Frage der finanziellen Ressourcen, sondern der Einstellung aller Beteiligten. Begreiflicherweise haben die Städte und Gemeinden keine großen Flächen für die Bebauung vorgehalten - nach den Erwartungen einer Bevölkerungskontraktion wäre dies unsinnig gewesen und hätte sogar zu aufsichtlichen Maßnahmen des Staates geführt. [Fn_8: Vgl. zur Wohnungspolitik in den achtziger Jahren insgesamt Wolfgang Jaedicke/ Hellmut Wollmann, Wohnungspolitik und Regierungswechsel, in: Bernhard Blancke/ Hellmut Wollmann (Hrsg.), Die alte Bundesrepublik, Leviathan-Sonderheft 12/1991, S. 420-436.]
Hinzu kommt die Abwägung nach ökologischen Kriterien.

1.3 Katastrophen-Gefühle statt Zuversicht

In der ökonomischen Diskussion wird Einwanderung heute ganz überwiegend als positiver Entwicklungsfaktor betrachtet, vor allem wegen der Mobilität und Einsatzbereitschaft von Einwanderern. Dies prägt trotz aller xenophoben oder rassistischen Begleiterscheinungen, die es immer wieder gegeben hat, grundsätzlich das positive Bild von Einwanderung in den klassischen Einwanderungsländern. Auch die Einstellung in Frankreich ist lange von dieser Sicht bestimmt gewesen.

In Deutschland herrscht in dieser Hinsicht traditionell Pessimismus. Historisch mag das mit der eher ethnisch-sprachlichen Definition der deutschen Nation zusammenhängen. Die pessimistischen Folgerungen daraus kann man schon in der bekannten Antrittsvorlesung Max Webers nachlesen. Auch mag der anscheinend tief in der deutschen Kultur verankerte Kulturpessimismus mitspielen, mit dem selbst auf unerwartete Geschenke wie die Wiedervereinigung mit

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Weinerlichkeit reagiert wird. Für die letzten Jahre entscheidend ist aber die Diskrepanz zwischen Beteuerung und politischem Handeln in der Einwanderungspolitik, eines Gegensatzes, den ich vor zehn Jahren als "stabilen Widerspruch" bezeichnet habe. [Fn_9: Dietrich Thränhardt, Ausländer als Objekte deutscher Interessen und Ideologien, in: Hartmut M. Griese (Hrsg.), Der gläserne Fremde. Bilanz und Kritik der Gastarbeiterforschung und der Ausländerpädagogik, Opladen 1984, S. 128-29.]
Während faktisch Einwanderungspolitik betrieben wurde, wurde die Illusion erweckt, man könne all dies wieder rückgängig machen. In mehreren Wellen - 1966, 1979-82, 1986, 1989 und 1991/92 - wurde schließlich immer wieder Panikstimmung geweckt, wurden Agressionen geschürt. Dies half zeitweise den Parteien, die dies betrieben. Es war eine Haupttriebkraft bei der Ablösung der sozialliberalen Koalition 1982 und es hat noch im Herbst 1991 wieder einen Klimaumschwung zugunsten der CDU/CSU gebracht. In letzter Konsequenz lief es allerdings auf die Wahl rechtsradikaler Parteien hinaus, da die CDU/CSU in ihrer Demagogie nicht glaubwürdig war, als sie sie zum wiederholten Male betrieb, ohne ihre Versprechen zu verwirklichen. [Fn_10: Es ist bezeichnend, daß der Landeswahlkampfleiter der Republikaner in Baden-Württemberg 1992 schlicht mit Bild-Zeitungsartikeln arbeiten konnte (Wulf Reimer, Generalstabsmäßig der Toleranz den Boden entziehen. Süddeutsche Zeitung 89, 15.4.1992). Er arbeitete dabei mit einem Extrakt von Stereotypen, die in den Jahren vorher angehäuft worden waren und in direkter Kontinuität zu den erfolgreichen Wahlkämpfen der Ministerpräsidenten Filbinger und Späth steht (vgl. dazu Karl-Heinz Meier-Braun, "Freiwillige Rotation". Ausländerpolitik am Beispiel der baden-württembergische Landesregierung, München 1979).]

1.4 Caritas und Furcht statt wohlverstandenem Eigeninteresse

Es ist klar, daß die Beschäftigung von "Gastarbeitern" ebenso wie der Beitritt der Bundesrepublik zu dem Netzwerk der internationalen und supranationalen westeuropäischen Verträgen eigenen Interessen entsprang, einerseits dem ökonomischen Bedarf an belastungsfähigen und genügsamen Arbeitskräften, andererseits außenpolitischen Erwägungen, vor allem den Wunsch, Respektabilität wiederzugewinnen. Gleichwohl ist die Ausländerpolitik immer wieder als karitativer Akt dargestellt worden, selbst in ihren restriktivsten Aspekten. [Fn_11: Man vergleiche etwa die Argumentationsfiguren des baden-württembergischen Ministerpräsidenten Filbinger zur "Entwicklungshilfe", zur "Rückkehrförderung", zum "Schweizer Modell" etc. (Meier-Braun 1979).]

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Die Ausländer in Deutschland wurden als unmündig und unselbständig betrachtet, zuständig für sie sind bis heute die karitativen Verbände. Durchgängig - und zum Teil in guter Absicht - sind sie immer wieder als "Problem", "Belastung" und "Kostenfaktor" dargestellt worden, als einer eigenen "Ausländerpädagogik" bedürftig. [Fn_12: Jürgen Puskeppeleit/ Dietrich Thränhardt, Vom betreuten Ausländer zum gleichberechtigten Mitbürger. Perspektiven der Beratung und Sozialarbeit, der Selbsthilfe und Artikulation und der Organisation und Integration der eingewanderten Ausländer aus den Anwerbestaaten in der Bundesrepublik Deutschland, Freiburg 1990.]
Ihre eigene Kompetenz, ihre Organisationen, ihre Talente wurden in der Öffentlichkeit kaum wahrgenommen. Das Arbeitsverbot für Asylbewerber hatte entsprechende Auswirkungen. Damit wurde einerseits ein Negativstereotyp des Ausländers und später des Asylanten geschaffen, andererseits vielfach ein Gegenstereotyp des edlen Ausländers in der Tradition Rousseaus und der Exotik dagegen gesetzt. Beide haben mit der Realität nicht viel zu tun und verstellen die Diskussion um die Optionen, die die deutsche Einwanderungspolitik hat.

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2. Vier Hypotheken der bundesrepublikanischen Zuwanderungspolitik

2.1 Aufhäufung von Hypotheken I: die "Gastarbeiter "-Politik

Die von deutschen Stellen durchgeführte Anwerbung von Ausländern zwischen 1955 und 1973, die Tolerierung und partielle Förderung der Niederlassung der ausländischen Familien bei gleichzeitiger Kultivierung der Illusion von Provisorium und Rückkehr und weitgehender Ablehnung und Verweigerung der Einbürgerung hat eine Situation entstehen lassen, in der eine ökonomisch weitgehend integrierte, sozial weitgehend stabile Bevölkerung mit ausländischer Staatsangehörigkeit in Deutschland lebt. Trotz erster Schritte in Richtung Einbürgerung im neuen Ausländergesetz von 1991 ist nicht abzusehen, daß sich dieser Zustand entscheidend ändert und die Folgeprobleme für die politische und soziale Kohärenz der Gesellschaft gelöst würden. Auch in der dritten Generation bleiben die "Anwerbe-Ausländer" zwischen den Welten. In einigen Städten der Bundesrepublik hat ein Viertel der Bevölkerung kein Wahlrecht. Die neuen Anwerbevereinbarungen mit den mittel- und osteuropäischen Länder bergen die Gefahr, das diese Geschichte sich wiederholt.

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2.2 Aufhäufung von Hypotheken II: die Asylpolitik

Seit dem Asylbegehren von zweitausend Chilenen, die unter direkter Lebensgefahr standen, im Jahr 1973 ist die Asylpolitik in der Bundesrepublik ideologisiert und als Gegenstand politischer Polemik verwendet worden. [Fn_13: Im einzelnen zu dieser Entwicklung anhand der Bundestagsdebatten Simone Wolken, Das Grundrecht auf Asyl als Gegenstand der Innen- und Rechtspolitik in der Bundesrepublik Deutschland, Bern 1988.]
Seit 1980 hat diese Kontroverse immer wieder im Mittelpunkt der deutschen Politik gestanden - auch schon zu Zeiten, als es keineswegs um große Zahlen ging. Dabei hat vor allem in der Amtszeit des Innenministers Zimmermann eine Strategie der Konfrontation darin bestanden, die Zahlen aufzublähen, um Schrecken vor "Fluten", "Wellen", Dammbrüchen" etc. zu erzeugen. Auch heute sind die damals geschaffenen administrativen Arrangements nach wie vor intakt und die Öffentlichkeit wird immer wieder mit Hilfe von fehlerhaften und lückenhaften Zahlen in Aufregung versetzt, beispielsweise indem Doppelzählungen einberechnet oder Abgänge verschwiegen werden. Auch auf lokaler und regionaler Ebene ist diese Taktik immer wieder anzutreffen, so etwa in München im Frühjahr 1992. Zusätzlich ist durch überraschende Zuweisung großer Gruppen von Asylbewerbern an Gemeinden oder durch Aufstellung von Baraken an prominenter Stelle (etwa auf der Oktoberfestwiese in München) immer wieder versucht worden, Bürgerzorn zu wecken. Willkürliche Umverteilungen, gegen die sich Bürger und Gemeinden in einigen Fällen interessanterweise gewehrt haben, hatten den gleichen Effekt, ob intendiert oder nicht. Schließlich muß konstatiert werden, daß der Asylantrag als eine Art Überlaufgefäß für alle Einwanderungsbedürfnisse verwendet worden ist, da es - abgesehen von den Aussiedlern - kaum andere Möglichkeiten gab, um legal nach Deutschland zu gelangen. Dies taten nicht nur - verständlicherweise - die Antragsteller selbst, auch Behörden gaben immer wieder entsprechende Ratschläge.

Durch schleppende Bearbeitung wurde schließlich ein Bearbeitungsstau geschaffen und es besteht keine Aussicht, ihn in den nächsten Jahren aufzulösen. Im Gegenteil: im Frühsommer 1992 wächst er noch immer. "Über 317.000 Asylanträge liegen unerledigt in den Aktenschränken des Zimdorfer Amtes". [Fn_14: Heribert Prantl, Der Gesetzgeber hat nur den Tachometer ausgewechselt, in: Süddeutsche Zeitung 187,14.8.1992.]
Sachkundige Beamte, die gegen die überbordende Verkomplizierung der

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Regelungen protestieren, werden abgelöst und ersetzt. [Fn_15: Heribert Prantl, Der Chef kommt zum Asylrecht wie die Jungfrau zum Kind, in: Süddeutsche Zeitung 185,12.8.1992.]
Auch die Beschleunigungsnovelle, die seit dem 1. Juli 1992 gültig ist, scheint den Apparat jedenfalls zunächst weiter zu verwirren. [Fn_16: Beschleunigungsgesetz führt zu Verzögerungen, in: Süddeutsche Zeitung 207,8.9.1992.]

2.3 Aufhäufung von Hypotheken III: der Aussiedlerstau

In bezug auf die Aussiedler ist die Bundesregierung dabei, ein ähnliches Problem zu schaffen wie für politische Flüchtlinge und Asylbewerber. Da dies nicht in Deutschland geschieht, sondern in Kasachstan, Rußland, Kirgystan, Polen, Rumänien und anderen Ländern, tritt es nicht ins Bewußtsein der Öffentlichkeit. Aber schon gibt es - ganz in Analogie zum Asylbürokratismus - "Vertriebenenausweisbewerber", abgelehnte Vertriebenenausweisbewerber und "Altfälle" - die Opfer eines ebenfalls langen, undurchsichtigen und von wenig objektivierbaren Entscheidungen abhängigen Verfahrens. Es gibt menschliche Tragödien und eine abgehobene bürokratische Entscheidungspraxis, was sich dann auch in Vorurteilen umsetzt. [Fn_17: Nach einer Untersuchung des Instituts Polis betrachten immer weniger Bürger Aussiedler als Deutsche, 55 % sprachen sich dafür aus, daß die Aussiedler in ihren Herkunftsländern bleiben. Ein Quotenverfahren befürworteten 58 Prozent (Frankfurter Allgemeine 188,14.8.1992).]
Auch von Aussiedlungsmißbrauch und von falschen Deutschen ist schon die Rede.

In öffentlichen Erklärungen der Bundesregierung wird das uneingeschränkte Bekenntnis zum Einwanderungsrecht deutscher Volkszugehöriger aus Osteuropa nach wie vor aufrechterhalten. Eine Hauptbegründung dafür ist allerdings inzwischen die Furcht vor einer Torschlußpanik. Faktisch wird aber schon heute sowohl die reduzierende Ausgrenzung von Bewerbern mit Hilfe schärferer Kriterien ebenso betrieben wie die Verlangsamung mit administrativen Mitteln, vor allem über lange Bearbeitungszeiten. Im Ergebnis kommt dies einer zynischen Variante der Quotenregelung gleich, indem die Zahl der Einreisenden reduziert wird. Diese Tatsache wird immer wieder als Erfolg reklamiert - in bezeichnendem Gegensatz zu den Erklärungen früherer Jahrzehnte, in denen hohe Ausreisequoten begrüßt und sogar durch hohe Zahlungen erkauft worden sind (Milliardenkredit an Polen, Kopfgeldzahlungen an Rumänien). Ferner wird mit

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administrativen Erschwerungen gearbeitet, vor allem einem neuen Fragebogen, der Anforderungen an die Aussiedler stellt, denen sie im allgemeinen nicht nachkommen können (Unter anderem geht es um Dokumente, die angesichts der stalinistischen Verfolgung meist nicht vorliegen). Das Verfahren ist dreistufig. Die Aussiedler erhalten im Ausreiseland nur einen vorläufigen Aufnahmebescheid, der dann bei der Einreise in einen Registrierschein umgeschrieben wird. Die endgültige Entscheidung wird erst nach der Einreise von deutschen Landesbehörden getroffen. Dabei sind die Kriterien ebenso heterogen und widersprüchlich wie beim Asylverfahren. Jüngst wurde dies besonders deutlich, als über ein Zwillingspaar mit identischen Voraussetzungen unterschiedliche Entscheidungen gefällt wurden: einmal angenommen, einmal abgelehnt. Da die Aussiedler vor der Einreise ihre Existenz abbrechen, besteht für sie - ganz abgesehen von den psychischen und materiellen Kosten - keine realistische Rückkehrmöglichkeit. Auf diese Weise wird eine neue Kategorie des geduldeten Aussiedlers oder De-Facto-Aussiedlers geschaffen, vielfach wird Staatenlosigkeit die Folge sein. Die Betroffenen werden aber zweifellos in Deutschland bleiben. Nicht zu Unrecht haben die Kirchen in diesem Zusammenhang nach der Glaubwürdigkeit der Bundesregierung gefragt. [Fn_18: Erschütternde und absurde Fälle in: Stellungnahme zur derzeitigen Aufnahmesituation von Aussiedlern (schriftliche Unterlage eines Gesprächs von Landesbischof i.R. D.v. Keler, Weihbischof Pieschl, Caritas-Präsident Puschmann und der Vertreter der Kirchen bei der Bundesregierung mit Innenminister Seiters). Zum Verfahren siehe auch Ernst Liesner, Rechtliche Probleme im neuen Aussiedleraufnahmeverfahren, in: Caritas, 92. Jg. 1991, S. 265-68.]

Das Überprüfungsverfahren hat ähnlich absurde und perverse Züge wie das Asylverfahren. Das Bekenntnis zu einer Nation, dem nach demokratischem Verständnis im Kern immer auch eine Willensentscheidung zugrunde liegt, wird von einer Bürokratie geprüft, die Daten interpretiert, die sich für diese Entscheidung kaum eignen. Der Verfolgungszusammenhang gerät ebenso wie bei den politischen Flüchtlingen immer mehr außerhalb des Gesichtskreises. Wie bei der verspäteten Anerkennung der Oder-Neiße-Linie durch die Regierung Kohl wird hier eine Entscheidung verschleppt, was negative Folgewirkungen für alle Beteiligten hervorruft, der Bundesregierung jedoch zunächst eine gute Presse bringen soll. Dies gilt insbesondere für die verständlicherweise zunehmende Fixierung der Deutschen in der ehemaligen Sowjetunion auf die Auswanderung ins "Land der Väter", wie auch für das Risiko einer Massenwanderung, sobald entweder die administrativen Ausreisehemmnisse fallen, die noch

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aus dem Systemzusammenhang des Sowjetstaates stammen oder andere Ereignisse eintreten, die eine Massenflucht hervorrufen würden. Wie im Fall der Asylbewerber werden Menschen durch diese Politik sozusagen zwischengelagert. Sie können keine realistische Lebensperspektive entwickeln. Die Bundesregierung versucht gleichzeitig, die Zahlen geheimzuhalten, inzwischen sickern sie allerdings durch. Nach dem zitierten Papier der beiden Kirchen und ihrer Wohlfahrtsverbände gibt es zur Zeit 775.000 unerledigte Aussiedleranträge, täglich gehen 2.000 weitere ein. In knapp zwei Jahren seit der Einführung des neuen Verfahrens wurden demgegenüber ganze 160.000 Aufnahmebescheide und 30.000 Ablehnungen ausgesprochen. 75 Prozent der Antragsteller warten auf einen Bescheid. Rechnet man diese Zahlen hoch, so werden im nächsten Jahr deutlich mehr als eine Million unerledigte Anträge vorliegen. Eine zahlenmäßige Grenze würde dieser Prozeß erst dann erreichen, wenn alle Deutschen aus Osteuropa ausgereist sind. Der Entschluß zur Ausreise zerstört ja -wie schon heute in Siebenbürgen zu sehen ist - ganze Milieus und erzeugt Folgewirkungen materieller und psychischer Art. Zu denken ist auch an die Familienzusammenführungen, die sich an diesen Prozeß anschließen werden.

2.4 Aufhäufung von Hypotheken IV: Der neue Rassismus

Mit der skizzierten Ausländer- und Asylpolitik sind Negativstereotypen von "Ausländern" bzw. "Asylanten" verfestigt worden, die inzwischen hohe soziale Akzeptanz gewonnen haben. Sie knüpfen deutlich an den traditionellen Rassismus aus der Zeit des Kolonialismus an und sind wie dieser auch in anderen europäischen Ländern verbreitet. In der mobilen und von immer neuen Sensationen lebenden Medienlandschaft des ausgehenden 20. Jahrhunderts werden derartige Stereotypen immer wieder neu akzentuiert und variiert. Funktional können sie ähnlich eingesetzt werden wie der Antisemitismus, die Leitideologie der vomazistischen deutschen Rechten. Diese Negativstereotypen sind inzwischen in der Öffentlichkeit präsent und abrufbar. Aus der Politik sind sie nicht mehr wegzueskamotieren, zumal die klassische Rechte inzwischen vom Verlust von Feindbildern betroffen ist, von denen ihre manichäischen Ausgrenzungskampagnen gelebt haben (Kommunismus, Ost-West-Konflikt, Rote Armee,

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DDR, RAF-Terrorismus). [Fn_19: Dietrich Thränhardt, Geschichte von Feindbildern. Ursachen und Notwendigkeiten, erscheint in: Aktion Sühnezeichen/Friedensdienste, Europa nach dem Kalten Krieg, Berlin 1992.]
Auch der härter und dynamischer gewordene Wettbewerb der Print- und Funkmedien nutzt die Chance einer derart populären Stereotypisierung. Wie die Wahlkämpfe in Bayern 1986, Frankfurt und Bremen 1991 und Schleswig-Holstein und Baden-Württemberg 1992 gezeigt haben, gewöhnen sich weite Teile der Öffentlichkeit daran, daß Ausländern Schuld zugewiesen wird, daß man verbal auf sie einprügelt und daß es dafür Konsens gibt. Bestraft werden nur die fehlgeleiteten Jugendliche, die physische Gewalt anwenden. In vielem ähnelt all dies der Etablierung des politischen Antisemitismus nach der Reichsgründung von 1871 durch Eliten, die selbst nicht an diese Erfindung glaubten, nach einigen Jahrzehnten aber ebenso wie die jüdischen Opfer davon betroffen waren.

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3. Erfolge der bisherigen Einwanderungspolitik

3.1 Die EG als freier Raum für Arbeitskräfte und die Rückgabe der Souveränität an die Menschen

Die Europäische Gemeinschaft funktioniert heute in bezug auf Wanderungsbewegungen weitgehend wie ein großer Nationalstaat. Die Menschen sind frei, sich dort niederzulassen, wo sie wollen: wo sie einen Arbeitsplatz finden, wo sie eine Basis als Selbständiger sehen, lernen, studieren oder als Rentner leben wollen. Trotz großer Disparitäten zwischen den ökonomischen Niveaus der EG-Länder sind durch die Niederlassungsfreiheit keine Massenwanderungen ausgelöst worden. Im Gegenteil: viele "Gastarbeiter" aus den EG-Ländern, die vor 1973 durch deutsche Unternehmen angeworben worden waren, sind zurückgekehrt. Die Zahl der Spanier in Deutschland hat sich zwischen 1973 und 1989 um 56% vermindert, die der Portugiesen um 33%, der Griechen um 28% und der Italiener um 18%. Im Gegensatz dazu ist die Zahl bei allen anderen Anwerbegruppen außer den Jugoslawen (-13%) gestiegen: bei den Tunesiern um 51%, den Türken um 77% und den Marokkanern um 177%. [Fn_20: Selbstverständlich ist nicht nur die Zugehörigkeit zur EG, sondern auch die Geburtenrate, ökonomische Entwicklung und innenpolitische Situation für eine Interpretation relevant. Die Relationen sind aufgrund der Angaben des Statistischen Bundesamtes berechnet worden.]
Ein wesentlicher Grund dafür ist die Offenheit und Stabilität der EG, die eine Revision von

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Schaubild 4:





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Rückkehrentscheidungen jederzeit möglich macht, während Zuwanderer ansonsten zum "Festklammem" (von Breitenstein) gezwungen sind, wenn sie ihre Chance, in einem reichen Land zu leben, erhalten wollen.

Die Wanderungsbewegungen sind zudem nicht einseitig, sondern gleichen sich zwischen vielen Ländern zu einem großen Teil aus. Im Verhältnis mit Spanien und Italien dürfte Deutschland in den letzten Jahren sogar einen leichten Auswanderungsüberschuß verzeichnet haben. Vergleicht man mit den USA, die eine ähnliche Größe wie die EG haben, so muß zudem konstatiert werden, daß die Verschiedenheit der neun EG-Sprachen und der nationalen Tradition eine hemmende Wirkung auf Wanderungsbewegungen ausübt. Für die Auslösung großer Ströme von den armen zu den reichen Ländern wären deswegen Anwerbeprogramme Voraussetzung. Selbst dies ist aber - wie der mißglückte Versuch der Bundesanstalt für Arbeit zur Anwerbung von Bauarbeitern aus Spanien 1989/90 zeigt - nicht immer erfolgreich. [Fn_21: Mündliche Information von Dr. Hönekopp, Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung der Bundesanstalt für Arbeit, Nürnberg.]
Dies hängt damit zusammen, daß sich aufgrund der komparativen Kostenvorteile in Spanien eine rasche wirtschaftliche Entwicklung vollzieht, die in Zukunft durch den Transfer von EG-Mitteln im Rahmen des Kohäsionsfonds unterstützt werden wird. Aber nicht nur im Fall erfolgreicher Wirtschaftsentwicklung, sondern auch bei großen Mißerfolgen wie in Griechenland werden keine große Wanderungen ausgelöst. Die Zahl der Griechen in Deutschland hat auch in den letzten Jahren nur geringfügig zugenommen. [Fn_22: Interessanterweise kann in der Schweiz in den letzten zehn Jahren eine erhebliche Zunahme der Spanier und Portugiesen konstatiert werden, gestützt auf bestimmte Anwerbungsprogramme und ohne die Offenheit der EG.]
Selbst bei Arbeitslosigkeit werden nicht viele Menschen in ein anderes Land ziehen, um Arbeit zu suchen.

3.2 Der Europäische Wirtschaftsraum (EWR)

Mit der Fusion von EWG und EFTA im Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) 1995 werden fast alle Länder des westlichen Europa in diese Mechanismen einbezogen. Zu erwarten ist dann auch eine gewisse Wanderungsbewegung vor allem von Fachkräften aus Ostdeutschland in die Schweiz und nach Österreich. Im ganzen westlichen Europa werden die Menschen die Souveränität über ihre

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Ortswahl zurückerhalten, ohne daß dadurch nennenswerte soziale Probleme zu erwarten sind.

Außerhalb dieses offenen Wirtschaftsraumes verbleiben dann nur noch

  • Polen, Ungarn, die Tschechische und die Slowakische Republik, deren Beziehungen mit der EG sich zusehends entwickeln,

  • Bulgarien, Rumänien, Albanien, Jugoslawien und seine Nachfolgestaaten, Lettland, Estland und Litauen,

  • die GUS-Länder und Georgien,

  • Malta und die Türkei.

3.3 Die Öffnung gegenüber Ostmitteleuropa

Ein zweiter großer Erfolg der Öffnungspolitik der letzten Jahre ist die Einführung der Visa-Freiheit gegenüber Polen, der CSSR und Ungarn, ohne daß die vielerorts, vor allem in den Niederlanden, befürchteten "Ströme" Westeuropa überflutet haben (Großbritannien, ein heute ökonomisch vergleichsweise wenig attraktives Land, hält gleichwohl bis heute am Visumszwang gegenüber Polen fest). Im Gegenteil: die Zahl polnischer Asylbewerber in Deutschland ist fast auf Null zurückgegangen. Gewachsen ist allerdings das Risiko illegaler Einwanderung und Arbeitsaufnahme, wogegen Kontrollen eingeführt worden sind, die anscheinend noch nicht ausreichen. Deutschland und andere EG-Länder haben zudem durch besondere Kontingente für "Werkvertragsarbeitnehmer" aus Polen und anderen ostmitteleuropäischen Ländern flankierende Maßnahmen ergriffen, um Arbeitsmöglichkeiten zu eröffnen. Im Laufe der nächsten Jahre dürfte es schrittweise möglich sein, die Grenzen gegenüber diesen vier Ländern zu öffnen und freie Arbeitsaufnahme zuzulassen. Dies setzt allerdings eine Stabilisierung der wirtschaftlichen Verhältnisse voraus, andernfalls kommt es zu Störungen, wie sie auf dem deutschen Bausektor im Sommer 1992 beklagt worden sind. [Fn 23: Werkverträge treiben Baubetriebe in den Ruin. Handwerkspräsident Späth fordert die Bundesregierung zu schnellem Handeln auf, in: Süddeutsche Zeitung 202,2. 9.1992.]

[Seite der Druckausg.: 145]

3.4 Perspektiven weiterer Öffnung

Wenn und soweit es gelingt, tragfähige politisch-ökonomische Strukturen in Osteuropa zu schaffen, kann schrittweise eine Ausweitung der Freizügigkeit angestrebt werden. Notwendige Bedingungen sind Frieden, d.h. die Abwesenheit von Krieg, Bürgerkrieg und der Ausgrenzung oder Unterdrückung ethnischer Gruppen. Solche Gruppen - Bosnier und Kosovo-Albaner im ehemaligen Jugoslawien, Kurden und Christen aus der Türkei, Roma aus Rumänien und Jugoslawien (aber nicht die 500.000 Roma in Ungarn), Juden und Deutsche in den GUS-Staaten - machen heute die Masse der Flüchtlinge und Auswanderer aus, die ins westliche Europa, vor allem nach Deutschland, Österreich und in die Schweiz kommen wollen. Deutschland ebenso wie die anderen Länder im westlichen Europa haben aus verschiedenen Gründen, vor allem der Sicherheit in jeglicher Hinsicht, ein vitales Interesse an ökonomischer und politischer Stabilität in Osteuropa. Sie sollten daher den Ressourcentransfer, den sie ohnehin werden leisten müssen, zu einem wesentlichen Teil auch an der Integration der ausgegrenzten Gruppen orientieren. Solche Kriterien können einen wichtigen Beitrag leisten, marginalisierte Gruppen aufzuwerten und sowohl materiell wie psychisch in die Gesellschaft zu integrieren oder zu reintegrieren. Es kann, wie es beim Marshallplan der Fall war, auch zu antizipierten Reaktionen kommen, die zum Vertrauen auf die Zukunft im eigenen Land führen.

Erreicht man Stabilität und Integration der bisher ausgegrenzten ethnischen Gruppen, so sind damit die Kardinalprobleme gelöst, die offene Grenzen in Europa verhindern. Für die osteuropäischen Länder und die Türkei wäre eine Öffnung andererseits ein enormer Gewinn. Eine derartige Perspektive könnte Energien und Motivationen freisetzen, um innenpolitische Entspannung und Gleichberechtigung zu erreichen. Von Seiten der europäischen und insbesondere der deutschen Politik verlangt dies allerdings eine langfristige Perspektive, die auf kurzfristige Popularitätsgewinne für den Heimatgebrauch ebenso verzichtet wie auf falsch plazierten Moralismus oder unreflektiertes Eigeninteresse, etwa beim Rüstungsexport. Von den demographischen Gegebenheiten her sind fast alle europäischen Länder heute nicht mehr Zuwachs-, sondern Defizitländer. Nicht einmal mehr Polen, sondern nur Irland, Rumänien und die Türkei haben Geburtenüberschüsse. Bei einer stabilen ökonomischen Entwicklung wäre deshalb nicht nur Westeuropa, sondern Gesamteuropa als Einwanderungszone zu qualifizieren.

[Seite der Druckausg.: 146]

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4. Grundzüge der Einwanderungspolitik

Einwanderungspolitik hat die Aufgabe, die wohlverstandenen Interessen des Einwanderungslandes mit denen der Zuwanderer abzustimmen. Dazu gehört insbesondere eine Verstetigung des Einwanderungsprozesses, der diesen für alle Beteiligten berechenbar macht. In allen klassischen Einwanderungsländern wird dies über Quoten erreicht, die sehr unterschiedlicher Art sein können. Nähe zum Einwanderungsland durch verwandtschaftliche Beziehungen und eine lange Anwesenheit in anderen Rechtsformen werden im allgemeinen als Ausgangspunkte für die Gewährung des Einwandererstatus anerkannt. Gewünschte berufliche Fähigkeiten oder die Bereitschaft zu Kapitalinvestitionen sind ebenfalls relevant. Auch nach dem Ende rassistischer Konzepte werden Einwanderer aus bestimmten Ländern häufig bevorzugt, obwohl universalistische Positionen wichtiger geworden sind.

In Deutschland ist zur Verstetigung der Zuwanderung in den letzten Jahren häufig eine Quote von 300.000-350.000 Menschen pro Jahr genannt worden. Orientiert ist diese Zahl am jährlichen Geburtendefizit der alten Bundesrepublik. Mit der Wiedervereinigung, die zu einer Reduzierung der Geburten im Beitrittsgebiet auf etwa 60 Prozent geführt hat, ist das Geburtendefizit nochmals dramatisch angestiegen. Da die Politik das wiedervereinigungsbedingte Absinken der Geburtenrate nicht zur Kenntnis genommen hat - nicht einmal in all den Debatten um die Änderung des Paragraphen 218 wurde darauf Bezug genommen -, muß davon ausgegangen werden, daß keine Änderung zu erwarten ist. Dies würde bedeuten, daß im Falle einer ökonomischen Normalisierung in Ostdeutschland zusätzlich eine Quote von 75.000 hinzukäme.

Eine derartige Quote wäre nur ein Bruchteil dessen, was in den letzten Jahren an Zuwanderung stattgefunden hat. Faktisch hat sich die Politik angesichts der Zuwanderung von jeweils mehr als einer Million Menschen pro Jahr nach Westdeutschland nach dem Ende der Teilung schon auf Quoten hinbewegt. Dies gilt vor allem für die Zulassungspolitik gegenüber den Aussiedlern, der größten Gruppe von Zuwanderern in den letzten Jahren. In bezug auf die Ostdeutschen wurde dagegen auf die Regelungswirkung der Märkte und der Lebensverhältnisse gesetzt, insbesondere auf den begrenzten Wohnungsmarkt in Westdeutschland.

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Berechnet man Quoten, so muß man allerdings wissen, wie hoch die jetzigen Ausländer- und Einwanderungszahlen sind, wie sie sich entwickeln und mit welchen Bewegungen in der EG zu rechnen ist. Hier gibt es große Defizite, die in den letzten Jahren gewachsen sind. Schon bei der Volkszählung 1987 hat sich gezeigt, daß die Ausländerzahlen (im Gegensatz zu den Wohnungszahlen) wesentlich überhöht angegeben worden waren. Auch in den letzten Jahren dürften derartige Effekte eingetreten sein. Wesentliche Gründen dafür sind:

  • Der triviale Gegensatz zwischen der Notwendigkeit, sich bei der Ankunft anzumelden, aber der weitgehenden Irrelevanz von Abmeldungen.

  • Der Wunsch vieler Nicht-EG-Ausländer, ihr Bleiberecht in der EG aufrechtzuerhalten, auch wenn ins Heimatland zurückkehren.

  • Die Art der Zählung der "Asylbewerber". Es handelt es sich dabei nicht um Zahlen von Menschen, sondern um Zahlen von Anträgen, einschließlich der Zweit- und Drittanträge. Über den "Verbleib" der Asylbewerber ist wenig bekannt. Die Zahl der in Deutschland Anwesenden ist nicht annähernd so hoch wie es die Addition der "Asylbewerber"-Zahlen nahelegen würde.

  • Ein problematischer Eindruck wird auch durch die statistische Ausweisung von Ausländergeburten erzeugt, soweit es sich um Kinder von Inländern mit nichtdeutscher Staatsangehörigkeit handelt. Diese Kinder werden statistisch als Ausländer gezählt, deren Aufenthaltsdauer mit dem Alter identisch ist, was zu falschen Vorstellungen über die Zahl der wirklichen Ausländer führt, vor allem im Vergleich mit anderen Ländern. In den USA wären solche Kinder Amerikaner, in Frankreich würden sie automatisch mit dem 18. Lebensjahr zu Franzosen. Bei Quotenberechnungen sollte jedenfalls die "zweite" und "dritte" Generation ausgeklammert werden, denn sie sind nicht als Einwanderer zu betrachten.

Gleiches gilt für die EG-Unionsbürger, die mit den Verträgen von Maastricht einen Status erreichen, der sie kaum mehr als "Ausländer" definierbar macht. Insbesondere haben sie das Wahlrecht auf europäischer und auf lokaler Ebene, sie können Beamte werden und genießen einen weitgehenden Schutz ihrer Rechte durch den EG-Gerichtshof. Den EG-Unionsbürgern in Deutschland entsprechen zudem Deutsche in den anderen EG-Ländern, wobei die Zahlenangaben mit großen Unsicherheiten behaftet sind, insbesondere was die

[Seite der Druckausg.: 148]

Abmeldungen in Deutschland angeht, die u.U. sogar mit finanziellen Verlusten sanktioniert werden, z.B. beim Kindergeld. Ohnehin hat sich die Bundesrepublik Deutschland ihrer Eingriffsmöglichkeiten in bezug auf EG-Unionsbürger begeben.

Mit dem neuen Ausländergesetz ist ein erster Anlauf gemacht, um die Diskrepanz zwischen fremder Staatsangehörigkeit und Inländer-Eigenschaft zu beseitigen. Da Doppelstaatsbürgerschaften weiterhin nicht akzeptiert werden und auch hier die Verfahren aufgrund der Vorschriften mehrere Jahre dauern, sind positive Wirkungen bisher kaum zu verzeichnen. Im Gegensatz zu den klassischen Einwanderungsländern setzt Deutschland auch in Fragen der Staatsangehörigkeit weder die Interessen der Inländer mit ausländischer Staatsangehörigkeit noch seine eigenen Interessen durch. Dies führt beispielsweise zu türkischen Sondersteuern gegenüber den in Deutschland lebenden türkischen Staatsangehörigen, die andererseits in Deutschland keinen Wehrdienst leisten (Wehrbefreiungsgebühr von DM 15.000 pro Mann, Solidaritätsabgabe bei Einreise in die Türkei, hohe Paßgebühren etc.).

4.1 Kriterien der Aufnahme

4.1.1 Not

Ein erstes wesentliches Kriterium muß nach Artikel l unseres Grundgesetzes und seiner humanen Staatsauffassung die Not von Menschen sein. Dabei kann es um

  • politische Verfolgung oder

  • wirtschaftliche Not gehen.

Beides sind wesentliche und achtenswerte Gründe. Die politische Verfolgung ist ausdrücklich als Asylgrund garantiert. Es ist zudem zweifelhaft, ob im Extremfall einer Streichung der Asylgarantie in Artikel 16 nicht Artikel 1 ebenfalls eine Abschiebung in politische Verfolgung existentiellen Ausmaßes verhindern würde. Aber auch wirtschaftliche Not kann eine wesentliche Motivation für die Aufnahme sein, wenn es nicht gelingt, andere Möglichkeiten zu eröffnen. Insofern ist die Einwanderungs- und Asylpolitik eng mit der wirtschaftlichen Hilfe

[Seite der Druckausg.: 149]

und Kooperation zu koppeln. Die Priorität muß jeweils die Hilfe vor Ort haben, was der Entwicklungs- und Zusammenarbeitspolitik ein wichtiges Kriterium geben kann. In der öffentlichen Diskussion besteht allerdings immer die Gefahr, daß die Alternative Entwicklungspolitik als billige Ausrede benutzt wird.

4.1.2 Bevölkerungspolitik und Wirtschaftssystem

Vom Geburtendefizit, das eine Einwanderungszahl von etwa 400.000 für Gesamtdeutschland nahelegen würde, war schon die Rede. Es setzt sich allerdings nicht direkt und gleichzeitig in ein Bevölkerungsdefizit um. Vielmehr setzt ein Alterungsprozeß ein und für einige Zeit steigt aufgrund der geringeren Kinderzahlen sogar der Anteil der arbeitsfähigen Bevölkerung. Betrachtet man nur die Gesamtzahlen, so könnte man der Meinung sein, die Einwanderung lasse sich noch um einige Jahrzehnte verschieben und inzwischen könne die Arbeitslosigkeit abgebaut werden. In der Realität tauchen aber schon heute Engpässe auf dem Arbeitsmarkt auf, etwa beim Pflegepersonal. Die Frage ist dann nur noch, ob man diese Engpässe von Fall zu Fall auf Kosten schwächerer Länder behebt und dort Notstände auslöst, wie dies gegenwärtig vor allem in Bayern geschieht, oder ob durch eine planmäßige Einwanderungs- und Ausbildungspolitik die Interessen aller aufeinander abgestimmt werden.

Zudem besteht die ökonomische Potenz eines führenden Industrielandes vor allem in einer gut ausgebildeten und vernünftig sozialisierten Bevölkerung. Einwanderung muß daher mit Ausbildung und ökonomischen Chancen kombiniert werden. Eine große Stärke der deutschen Berufsbildungssystems ist die Lehrlingsausbildung, die in jeder Generation durchgeführt werden muß. Dies spricht für eine kontinuierliche Einwanderung, die auf die ökonomischen und sozialen Bedürfnisse sowohl des Einwanderungslandes wie der Einwandernden abgestellt ist. Fast alle Wanderungsbewegungen werden von jungen Menschen am Anfang ihres Berufslebens getragen. Dies gilt in bezug auf Deutschland für die "Gastarbeiter" ebenso wie für die Aussiedler und die Asylbewerber. Dieser Altersgruppe entsprechend sind auch die Kinderzahlen hoch - demographisch die ideale Ergänzung eines alternden Landes.

[Seite der Druckausg.: 150]

4.1.3 Eingliederungsfälligkeit und Kohäsion der Gesellschaft

Wirtschaftlich bietet Zuwanderung dem Aufnahmeland beträchtliche Vorteile, da die Zuwanderer in vieler Hinsicht flexibler einsetzbar sind als die Einheimischen. Dementsprechend ist ökonomische Entwicklung immer mit Wanderungsprozessen verbunden gewesen. Werden die Wanderungsprozesse in einem Rahmen durchgeführt, in dem die Gleichberechtigung am Arbeitsplatz weitgehend gesichert ist (gleiche Löhne, gleiche Rechte, gleiche Sicherheit), so kann auch soziale Kohäsion entstehen. In diesem Bereich ist insbesondere auch die Arbeitsmigration nach Deutschland erfolgreich gewesen. Darüber hinaus kann über die Gewährung gleicher Rechte und Zugangsmöglichkeiten einschließlich von Übergangshilfen auch im sozialen und politischen Bereich eine weitgehende Kohäsion erreicht werden, wie dies vorbildlich in Schweden geschehen ist. Dies steht in absolutem Gegensatz zu der desintegrierenden Wirkung, die sowohl die Asylbewerber-Situation mit Arbeitsverbot als auch die diskriminierende Illegalität (in den USA und anderen Ländern) hervorrufen. Abgesichert kann diese Situation weiterhin durch das Arbeitsplatz- und Lehrstellenprimat der Inländer werden. Zusätzliche Ausländer dürfen also erst dann rekrutiert werden, wenn keine Inländer zur Verfügung stehen. Bei den Lehrstellen muß dieser Primat heute vor allem auch für die Inländer mit nichtdeutscher Staatsangehörigkeit gelten.

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5. Ein Quotenvorschlag

Aus diesen Überlegungen läßt sich folgender Quotenvorschlag ableiten:

  1. Das Asylrecht wird an der Genfer Konvention ausgerichtet, die europa- und weltweit anerkannt ist und als positive Grundlage der Koordination dienen kann. Das deutsche Asylrecht wird entsprechend erweitert, woraus sich eine Vereinfachung ergibt, da auch bisher Flüchtlinge nach der Genfer Konvention in Deutschland bleiben können, aber durch mehrere Verfahren gehen. Die Zahl der anerkannten Flüchtlinge (Asylquote) wird zunächst mit 100.000 angesetzt. Unter- oder Überschreitungen werden im folgenden Jahr auf die Gesamteinwanderung verrechnet.

    [Seite der Druckausg.: 151]

  2. Die Bundesrepublik legt unter Berücksichtigung der Notlagen in der Welt fest, welche weiteren Kontingente zur Verfügung gestellt werden, wie dies unter allgemeinem Wohlwollen gegenüber vietnamesischen Flüchtlinge praktiziert worden ist (Kontingentquote). [Fn_24: Vgl. im einzelnen Fumiko Kosaka-Isleif, Integration südostasiatischer Flüchtlinge in der Bundesrepublik Deutschland und in Japan, Saarbrücken/Fort Lauderdale 1991.]
    Diese Quote wird entweder im laufenden oder im nächsten Jahr berücksichtigt.

  3. Verwandte von deutschen Staatsbürgern können einwandern, wenn ihre ökonomische Eingliederung sichergestellt werden kann. Dies gilt sowohl für in Deutschland geborene Staatsbürger wie auch für deutschstämmige oder andere Eingebürgerte. Es erleichtert die ohnehin bei allen Wanderungsbewegungen feststellbare Tendenz der Kettenwanderung und trägt wesentlich zur Integration und Kohäsion der Gesellschaft bei. Diese Verwandtenquote wird zunächst mit 100.000 festgesetzt, Über- oder Unterschreitungen werden im folgenden Jahr berücksichtigt.

  4. Für Einwanderer aus den GUS-Staaten wird eine Quote von 120.000 vorgesehen, wobei in den ersten fünf Jahren 80 % für Volksdeutsche reserviert werden sollten.

    Diese Regelung trägt dem Vertrauensschutz und der besonders schwierigen Situation der Flüchtlinge in den GUS-Staaten Rechnung. Es wird davon ausgegangen, daß die Rußlanddeutschen auch in der Verwandtenquote breit berücksichtigt werden. Besondere Regelungen für Juden aus der ehemaligen Sowjetunion werden nicht vorgesehen. Zu erwarten ist aber, daß Juden nach einer gewissen Zeit aufgrund ihrer Qualifikationen einen relevanten Teil dieser Quote einnehmen werden. Juden, die sich auf deutsche Familientraditionen berufen, sollen jedoch sofort gleichberechtigt mit Volksdeutschen behandelt werden. Die Überprüfung der Eigenschaft "Volksdeutscher" kann ohnehin nach Ablauf der Übergangszeit entfallen (GUS-Quote).

  5. Für das übrige Osteuropa (Polen, Ungarn, Baltikum, Tschechische und Slowakische Republik, ehemaliges Jugoslawien, Bulgarien, Rumänien) wird

    [Seite der Druckausg.: 152]

    eine Quote von 30.000 festgesetzt, die ebenfalls in den ersten fünf Jahren zu 80 % für Volksdeutsche reserviert werden (Osteuropa-Quote).

  6. Schließlich wird eine weltweit offene Quote von 50.000 eingerichtet, die nach Maßstäben der Qualifikation zu besetzen ist.

    Unter- oder Überschreitungen der Asyl- und der Verwandtenquote oder die Aufnahme von Kontingentflüchtlingen werden im folgenden Jahr auf die übrigen Quoten angerechnet.

  7. Unberührt bleiben die üblichen Aufnahmegenehmigungen für Führungskräfte der Wirtschaft und für Studenten, da davon ausgegangen wird, daß sich dies im Verhältnis mit den Auslandsaktivitäten von Deutschen in etwa ausgleicht und im Übrigen ein erhebliches deutsches Eigeninteresse an der Aufnahme solcher Kräfte besteht. Es sollte auch angestrebt werden, mit den übrigen OECD-Staaten Erleichterungen beim gegenseitigen Zugang zu den Arbeitsmärkten zu vereinbaren. Besondere Verfahren sollten auch für die Ausbildung von Lehrlingen gelten, wobei jedoch die Priorität von Inländern gewahrt bleiben muß. Nach Abschluß der Ausbildung sollte die Möglichkeit der Rückkehr ebenso wie die des Verbleibens in Deutschland offenstehen, wobei eine Anrechnung auf die entsprechenden Quoten erfolgen würde.

  8. Die deutsche Einwanderungspolitik ist mit den anderen EG-Ländern abzustimmen, wobei sich spezielle Beziehungen aufgrund sprachlicher, nachbarlicher oder historischer Zusammenhänge herausbilden können. Wenn auch andere Länder ein Quotensystem ausbilden, könnten die Quoten insgesamt so hoch sein, daß sich ein Gleichgewicht zwischen Auswanderungswunsch und -möglichkeit ergeben würde, wie es heute faktisch schon zwischen den meisten OECD-Ländern der Fall ist. Dies wird insbesondere für die Länder rasch gelingen, deren Geburtenrate niedrig liegt. Ist ein annäherndes Gleichgewicht erreicht, so sollte die Freigabe angekündigt werden und erfolgen, auch unter dem Gesichtspunkt, daß die kontraproduktiven Rückwirkungen von Beschränkungen aufhören. Das Beispiel der südlichen EG-

    [Seite der Druckausg.: 153]

    Länder beweist, daß dies auch bei durchaus unterschiedlichen Pro-Kopf-Einkommen der Fall ist.

    Quoten könnten in einem gewissen Maße auch schon für die folgenden Jahre vergeben werden, sodaß die Lebensplanung erleichtert wird. Mit einer solchen abgestimmten Politik besteht - wenn es nicht zu unvorhersehbaren Verwerfungen aufgrund von Kriegen, Bürgerkriegen oder ökologischen Großkatastrophen kommt - die realistische Chance, daß sich immer mehr und schließlich alle Europäer auf dem ganzen Kontinent und darüber hinaus frei niederlassen können.

[Seite der Druckausg.: 154 = Leerseite]





[Seite der Druckausg.: 155]

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Referenten, Tagungs- und Diskussionsleitung

Gerd Andres, MdB, Vorsitzender der Arbeitsgruppe "Ausländische Arbeitnehmer" der SPD-Bundestagsfraktion, Bonn

Prof. Dr. Klaus J. Bade, Institut für Migrationsforschung und interkulturelle Studien (IMIS), Universität Osnabrück

Almuth Berger, Ausländerbeauftragte des Landes Brandenburg, Potsdam

Prof. Dr. Han Entzinger, Universität Utrecht; Direktor des European Research Centre on Migration and Multi-Ethnic-Relation (ERCOMER), Utrecht; Mitglied des Wissenschaftlichen Rates für die Regierungspolitik (WRR), Den Haag

Dr. Klaus Manfrass, Deutsches Historisches Institut, Paris

Dr. Ursula Mehrländer, Leiterin der Abt. Arbeits- und Sozialforschung, Forschungsinstitut, Friedrich-Ebert-Stiftung, Bonn

Walter Schmid, Leiter des Fürsorgeamtes der Stadt Zürich

Prof. Dr. Dietrich Thränhardt, Institut für Politikwissenschaften, Westfälische Wilhelms-Universität, Münster


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