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Klaus Manfrass
Frankreich: Ein Einwanderungsland


Wenn in jüngster Zeit immer deutlicher davon gesprochen wird, daß Europa ein "Zuwanderungsgebiet" sei und sich zu dieser Rolle zu bekennen habe, wird auch wiederholt darauf verwiesen, daß Europa mit Frankreich ja bereits ein altes Einwanderungsland besitze. [Fn_1: Wesentliche Überlegungen, die diesem Beitrag zugrundeliegen, beruhen auf einem Gedankenaustausch mit Jacqueline Costa-Lascoux, Directeur de Recherche am "Centre d'Etude de la Vie politique francaise" (CEVIPOF) der Fondation Nationale des Sciences Politiques, Paris. Ihr sei an dieser Stelle ausdrücklich gedankt.]
Allerdings wird Frankreich nur selten in einem Atemzug mit den "klassischen" überseeischen Einwanderungsländem genannt, wodurch Zweifel aufkommen, ob wir es denn wirklich mit einem Einwanderungsland zu tun haben. In der Diskussion um eine Verbesserung der Integrationschancen wird Frankreich häufig auch als Beispiel oder sogar als mögliches Modell durch den leichten Erwerb der französischen Staatsangehörigkeit und der Möglichkeit der doppelten Staatsbürgerschaft genannt. [Fn_2: Vgl. z.B. die am 2. Febr. 1992 in Erfurt vorgestellten Leitlinien der Ausländerbeauftragten der Bundesregierung, Cornelia Schmalz-Jacobsen; Süddeutsche Zeitung, 3.2.1992.]
Auch die Vielfalt kultureller Artikulationen eingewanderter ethnischer Minderheiten - in ihrem kreativen Kontakt mit der Kultur der Aufnahmegesellschaft und anderer fremder Gruppen - findet im Falle Frankreichs allgemeine Beachtung [Fn_3: Vgl. Beate Winkler, Zukunftsangst Einwanderung, München 1992, S. 96.] - ohne daß allerdings allzu häufig das Stichwort der "multikulturellen Gesellschaft" fällt.

Eindrucksvoll erscheint die Dynamik des Kampfes gegen Rassismus und Ausländerfeindlichkeit. Von einem spezifischen Modell französischer Einwanderungs- oder Integrationspolitik ist allerdings seltener die Rede. Unübersehbar sind andererseits die dramatischen sozialen Konflikte, die seit Ende der 80er Jahre die Vororte französischer Großstädte erschüttern. Sie verdeutlichen, ähnlich wie die noch dramatischeren Ereignisse in den USA oder gelegentliche Gewaltausbrüche in Großbritannien, wie sehr das Konfliktpotential ethnischer Minderheiten zu einem der dominierenden Probleme der Megalopolen geworden ist, deren Entwicklung ihrerseits zu einem der zentralen Strukturprobleme der Industriegesellschaften herangewachsen ist. Unübersehbar ist schließlich, daß seit Mitte der 80er Jahre Frankreich zur Heimstatt eines populistischen Rechts-

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extremismus geworden ist, dessen nahezu eindimensionale Programmatik aus der Ablehnung der Einwanderung gespeist wird und dessen Wirkung auf die Funktionsmechanismen der parlamentarischen Demokratie durchaus in der Lage erscheint, bestimmte Grundregeln politischer Kultur der Demokratie außer Kraft zu setzen. Immer deutlicher wird im Falle Frankreichs schließlich die Präsenz des Islam als neue Religionsgemeinschaft, und die konfliktuellen Beziehungen, die sich in diesem Zusammenhang mit den Herkunftsregionen der arabischen Welt ergeben, erscheinen auch als neue politische Herausforderung für Europa.

Frankreich ein Einwanderungsland - oder ein Modell für eine Zuwanderungspolitik in Europa? Um es kurz vorweg zu sagen: Uns erscheint Frankreich, trotz bestimmter historischer und sozialer Besonderheiten im europäischen Rahmen nicht als ein Sonderfall, sondern als Segment einer gesamteuropäischen Entwicklung, die weniger durch die Realisierung überzeugender Konzepte und Modellvorstellungen, als vielmehr durch die Aufeinanderfolge fragmentarischer Politikentwürfe, Konfliktkonstellationen und Krisenentwicklungen gekennzeichnet ist. Zu- bzw. Einwanderung ist in Frankreich ein historisch langfristiger und kontinuierlicher Prozeß seit dem Beginn der Industrialisierung, d.h. seit den 30er Jahren des 19. Jh., der - anders als in anderen europäischen Industrieländern, besonders in Deutschland - nicht mit Phasen von Auswanderung (bzw. der Gleichzeitigkeit von Aus- und Einwanderung) alterniert. [Fn_4: Obwohl es im historischen Verlauf eine eher geringe Auswanderung aus Frankreich gegeben hat, ist gegenwärtig mit 1,5 Mio. eine im europäischen Vergleich eher große Zahl von Franzosen im Ausland tätig. Dies ist in erster Linie eine Folge der aus der Kolonialepoche hervorgegangenen wirtschaftlichen und politischen Bindungen.]
Diese Kontinuität hat in den Sozialstrukturen und im kollektiven Bewußtsein durchaus ihren Niederschlag gefunden. Einer Umfrage von Anfang der 80er Jahre zufolge hatte jeder achte Franzose zumindest einen ausländischen Eltemteil, und jeder fünfte hatte ausländische Vorfahren, wenn man in die vierte Generation, d.h. diejenige der Urgroßeltem, zurückgeht. Allerdings wurde dieser Sachverhalt von der breiten Öffentlichkeit erst relativ spät, zu Beginn der 80er Jahre, mit der Verschärfung der politischen Kontroverse um Ausländerpolitik und Integration überhaupt wahrgenommen.

Eine Liste von Prominenz, deren Biographie noch die ausländische Herkunft erkennen läßt, umfaßt zahlreiche führende Politiker und Regierungsmitglieder -angefangen von Premierminister Pierre Beregovoy - der gegenwärtigen Regie-

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rung - reicht über Gewerkschaftsführer, Kirchenfürsten, Spitzensportler, prominente Intellektuelle und Wissenschaftler bis zu den in der sozialen Prestigeskala besonders hoch bewerteten Stars des Showgeschäfts. [Fn_5: Die Eltern des Ministerpräsidenten sind in den 20er Jahren aus der Ukraine zugewandert. Die Vorfahren des Erzbischofs von Paris, Kardinal Lustiger, waren polnische Juden. Der berühmteste Schauspieler ausländischer Herkunft war Yves Montand, der mit seinen Eltern aus Italien einwanderte. Die zahlreichen Fälle von Prominenz und das verstärkte Auftreten in der "politischen Klasse" dürfen allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, daß Zuwanderer und ihre Nachkommen in den Eliten eher schwach repräsentiert sind und daß sie sich in den unteren Bevölkerungsschichten konzentrieren.]
Ca. 4,5 Mio. Ausländer leben gegenwärtig in Frankreich, davon zwei Drittel in den drei Großstädten Paris, Lyon und Marseille, und allein ca. 40 % im Großraum Paris, ca. weitere 1,5 Mio. sind als Einwanderer oder als Kinder von Einwanderern in der ersten Generation französische Staatsbürger geworden. Die offizielle Statistik unterscheidet neuerdings zwischen "Ausländern" (étrangers) und "Zuwanderern" (immigrés), wobei letztere durchaus französische Staatsbürger sein können.

Die Bevölkerungsstruktur vieler französischer Regionen, besonders der traditionellen Industrieregionen im Nordosten und Osten (Lothringen, nordfranzösisches Bergbaugebiet), aber auch Agrarregionen im Süden und Südwesten, zeigt deutlich Spuren früher und jüngerer Einwanderung. Das gleiche gilt für die Struktur bestimmter Stadtviertel und Vororte der Großstädte Paris, Lyon und Marseille, wenn auch urbane Transformationsprozesse viele Spuren wieder verwischt haben. Eine Stadt wie Marseille mit ihren deutlich erkennbaren ethnischen Minderheiten aus unterschiedlichen historischen Epochen (Italiener, Spanier, Juden, Armenier, Nordafrikaner) wird man getrost als multikulturelle Metropole bezeichnen können. Paris mit seinen 10 Mio. Einwohnern (davon 2 Mio. Ausländer) ist überdimensioniertes Zentrum eines extrem zentralisierten Nationalstaates, multikulturelle Metropole und kosmopolitisches Zentrum zugleich.

Die Massenzuwanderung nach Frankreich setzte in den 30er Jahren des 19. Jh. ein und war eine kontinuierliche Begleiterscheinung der verschiedenen Phasen der Herausbildung der Industriegesellschaft bis zur Gegenwart. Von Anfang an war die Zuwanderung mit einer relativ starken Tendenz zur Einbürgerung verbunden. Mehrere Faktoren wirkten in dieser eindimensionalen Entwicklung zusammen:

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  1. Ein kontinuierlicher Bedarf an zusätzlicher Arbeitskraft als Voraussetzung für die Herausbildung von Industrie und großstädtischer Dienstleistungsstruktur - aufgrund einer, im Vergleich zu anderen europäischen Industrieländern relativ geringen Land-Stadt-Wanderung, bei einer relativ großen Stabilität des Agrarsektors und einem vergleichsweise geringen Bevölkerungswachstum. Von 32,5 Mio. im Jahre 1831 ist die Gesamtbevölkerung Frankreichs auf nur 39,6 Mio. im Jahre 1911 und 41,5 Mio. im Jahre 1936 angestiegen (1990: 56,6 Mio). 1911 lebten noch 55,8 % und 1931 noch 48,8 % der Bevölkerung auf dem Lande (1990: 56,6 Mio.). Die Entwicklung ganzer Wirtschaftsbranchen, wie Metallindustrie, Baugewerbe, Bergbau, chemische Industrie oder Automobilindustrie ist nicht erst in jüngster Zeit, sondern bereits in der Zwischenkriegszeit ohne ausländische Arbeitskräfte nicht vorstellbar. So betrug z.B. im Jahre 1931 der Ausländeranteil im Bergbau 38 %. Mit Recht stellte die Gewerkschaftsbewegung CFDT in einem Aktionsprogramm von 1972 fest, die französische Arbeiterklasse seit geraumer Zeit multinational". [Fn_6: 36. Kongreß der CFDT, 30.5.-3.6.1973 in Nantes: Resolution sur l'immigration. Vgl. Syndica-lisme, Nr. 44, 7.6.1973.]

  2. Im selben Zeitraum kam im Anschluß an die großen Menschenverluste der napoleonischen Kriege - und die erneuten Verluste des Ersten Weltkrieges -die Vorstellung von einem "demographischen Defizit" auf. Diese Vorstellung orientierte sich weniger an den Bedürfnissen des Arbeitsmarktes als vielmehr - mit dem ständigen Blick auf die mögliche Bedrohung durch den zahlenmäßig stärkeren östlichen Nachbarn - an militärischen Bedürfnissen. Eine hohe Bevölkerungszahl und ein starkes Bevölkerungswachstum erschienen als Attribute eines starken Nationalstaates. Geringe Zuwachsraten wurden - besonders in der Zwischenkriegszeit - als Zeichen von "Dekadenz" empfunden. Folge war eine aktive Bevölkerungspolitik seit der Nachkriegszeit sowie die positive Perzeption von Einwanderung, Einbürgerung und demographischer Dynamik der Zuwanderer als Beitrag zur Kompensation des "demographischen Defizits" bzw. zur Steigerung demographischer Dynamik. Mit der Entfaltung der Industriegesellschaft seit den 50er und 60er Jahren kommt das Argument des Arbeitsmarktbedarfs und der Sicherung der Renten hinzu, und in jüngster Zeit ist - trotz gegenläufiger Entwicklungen, wie strukturelle Jugendarbeitslosigkeit sowie Übervölkerung

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    der großstädtischen Ballungszentren - Bevölkerungswachstum geradezu zu einem gesellschaftlichen Dogma geworden: Synonym für eine vitale gesellschaftliche Entwicklung - quasi als Relikt überkommener Vorstellungen von einem kraftvollen Nationalstaat - mit der Funktion, gesellschaftliche und politische Defizite zu überdecken.

  3. Die französische Revolution bewirkte, nach dem Fortfall des einigenden Bandes der Monarchie, zur Verhinderung des Auseinanderfallens des ethnisch und kulturell heterogenen Staatswesens zur Begründung einer neuen politischen Legitimität und zur Legitimierung einer straff zentralistisch geführten Republik ("La République une et indivisible"), die Durchsetzung einer neuen Staatsideologie. Diese machte die Zugehörigkeit zur Nation nicht von ethnischen oder kulturellen (Sprache) Kriterien abhängig, sondern definierte sie als Ergebnis eines politischen Willensaktes, d.h., dem aktiven Bekenntnis zu diesem Gemeinwesen und den durch die Revolution gesetzten politischen und gesellschaftlichen Zielen. Diese Theorie ermöglichte und erleichterte von jeher die Aufnahme von Ausländern in die französische Gesellschaft unter der fiktiven Annahme, die Aufnahme in die französische Gesellschaft, die ihrerseits nicht aufgrund objektiver Kriterien der Zusammengehörigkeit, sondern aufgrund einer immer wieder erneuerten politischen Entscheidung ("plebiscite de tous les jours") konstituiert sei, beinhalte - unabhängig von der ethnischen Herkunft - ein bewußtes Bekenntnis zu Frankreich. Im Laufe des 19. Jh. wurde diese Theorie wiederholt bekräftigt und kodifiziert: als Bestandteil der ideologischen Fundierung des republikanischen Nationalismus, aber nicht zuletzt auch zur Begründung des Anspruchs auf dazugewonnene bzw. verlorene nichtfranzösische Landesteile (Nizza, Savoyen bzw. Elsaß-Lothringen). Sie stellte gleichzeitig auch die Begründung dafür dar, nichtfranzösischen Regionen (Bretagne, Baskenland u.a.) jede politische oder kulturelle Autonomie vorzuenthalten und das Streben nach kultureller Eigenständigkeit bei zugewanderten Minderheiten gar nicht erst aufkommen zu lassen. Diese ideologische Fiktion der Zugehörigkeit zur französischen Gesellschaft ist bis zur Gegenwart gültig geblieben und wird in der gegenwärtigen Phase, gekennzeichnet durch das verstärkte Aufbrechen ethnisch artikulierter sozialer Konflikte, bewußt als Bindemittel zur Wiederherstellung sozialer Kohäsion ins Spiel gebracht. Dieses Konzept wird ergänzt durch das juristische, aus dem römischen Recht überkommene Prinzip des "ius soli", das dem auf französischem Territorium Geborenen

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    den Zugang zur französischen Staatsangehörigkeit sichert. Es stellt den Grundbestandteil des französischen Staatsangehörigkeitsrechts dar, das in jeder Hinsicht einem leichten Erwerb der französischen Staatsangehörigkeit ermöglicht.

Im historischen Prozeß der Zuwanderung lassen sich drei unterschiedliche Perioden ausmachen, die alle die gegenwärtigen Problemstrukturen der Einwanderung auf ihre Weise mitgeprägt haben. Die erste, relativ lange Phase verläuft vom Beginn der Zuwanderung im ersten Drittel des 19. Jh. bis ungefähr zum Zweiten Weltkrieg. Sie ist geprägt durch den kontinuierlichen Zustrom von Millionen Zuwanderern aus vielen Ländern Zentral-, Süd- und Osteuropas und ihr schließliches Aufgehen - im Zeichen der Assimilierung ("assimilation"), allerdings über Generationen hinweg - in der französischen Gesellschaft. Entscheidend für diesen Zeitraum ist der nahezu ausschließlich europäische Charakter der Zuwanderung.

Der Beginn der zweiten Phase liegt nach dem Zweiten Weltkrieg und umfaßt die wirtschaftliche Aufschwungphase der 50er und 60er Jahre und endet Anfang der 70er Jahre mit der ersten Energie-Preis-Krise, die europaweit das Ende der aktiven und organisierten Anwerbung ausländischer Arbeitskräfte bedeutet. Als Charakteristikum dieser Phase kann einerseits der dramatische Aufschwung der von der Nachfrage des Arbeitsmarktes bestimmten Ausländerbeschäftigung und die daraus resultierende aktive Rekrutierung (in mehr oder weniger organisierter Form) von ausländischen Arbeitskräften und andererseits der dualistische Charakter der Zuwanderung gelten: einerseits, und weiterhin dominierend, wie auch in der vorangehenden Phase aus dem südeuropäischen Raum, [Fn_7: Im Verlauf der 60er Jahre kommt Portugal als neues und bis Ende der 80er Jahre wichtigstes Herkunftsland hinzu.] und andererseits, und in immer zunehmenderen Maße, aus den Dritte-Welt-Regionen des ehemaligen Kolonialreiches, vornehmlich aus Nord-Afrika sowie in einem gewissen Umfang aus Schwarzafrika und der Karibik.

Diese koloniale Zuwanderung war nach der Entkolonialisierung intensiver als zuvor. [Fn_8: Zu berücksichtigen ist auch die erhebliche Zuwanderung aus Indochina. Nach dem Ende des Vietnam-Krieges hat Frankreich zusätzlich über 125.000 Kontingentflüchtlinge aus Vietnam aufgenommen.].
Der starke koloniale (bzw. Dritte-Welt)-Anteil an dieser Phase der Zu-

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Wanderung sowie politische Konflikte, die sie begleiteten (Algerienkrieg) hat erhebliche Auswirkungen auf die Zuwanderung in ihrer Gesamtheit gehabt und nicht nur einem Phänomen wie dem Rassismus (aber auch dem Kampf gegen den Rassismus als Variante des Antikolonialismus) Vorschub geleistet, sondern auch die sozialen Konditionen, unter denen sich Zuwanderung vollzog (Arbeitsbedingungen, Wohnverhältnisse) insgesamt nach unten gedrückt. Erst längerfristig ist dies wiederum durch einen gewissen Dualismus zwischen den (süd-)europäischen Zuwanderern und den in sozialer Segregation verharrenden Zuwanderern aus der Dritten Welt abgelöst worden. Langfristig spürbar bleiben jedoch die aus dieser Phase resultierenden Problemstrukturen.

Die dritte Phase erstreckt sich vom Beginn der 70er Jahre bis zur Gegenwart. Als ihre Kennzeichen können gelten: Die Entfaltung der sozialen und politischen Folgewirkungen der massiven Zuwanderung der vorangehenden Phase, d.h. ein massiver Familiennachzug und die demographische Dynamik des eingewanderten Bevölkerungsteils; das Andauern der Zuwanderung auch nach Fortfall der aktiven Rekrutierung von Arbeitskräften und der Sogwirkung des Arbeitsmarktes; Zuwanderung auch in anderen Formen als denen der Arbeitskräftewanderung, d.h.: Familiennachzug, illegaler Zuzug, Asylsuche, Streben nach staatlichen Sozialleistungen; Andauern der Zuwanderung (bzw. demographische Entfaltung) auch ohne Nachfrage des Arbeitsmarktes und sogar bei Fortfall bisheriger ausländerspezifischer Arbeitsplätze und selbst bei wachsender allgemeiner Arbeitslosigkeit - daher Zunahme sozialer Probleme im zugewanderten Bevölkerungsteil, d.h. Arbeitslosigkeit und besonders Jugendarbeitslosigkeit und Konkurrenz um soziale Ressourcen zwischen Zugewanderten und denjenigen einheimischen Bevölkerungsschichten, die im Zuge der Herausbildung einer "Zwei-Drittel-Gesellschaft" ebenfalls von Krisenentwicklungen wie Arbeitslosigkeit betroffen und auf staatliche Sozialleistungen angewiesen sind: Die Folge sind Verschärfung sozialer Spannungen, die zunehmend als ethnische Konflikte in Erscheinung treten.

Ein weiteres Merkmal ist die kontinuierliche Verschiebung des bisherigen Dualismus von europäisch/südeuropäischer vs. nordafrikanisch/afrikanischer Zuwanderung durch das immer stärkere Hervortreten des nordafrikanischen Faktors, der spätestens Ende der 80er Jahre eine eindeutig dominierende Rolle eingenommen hat. Während bereits seit Mitte der 80er Jahre die Zahl der Zuwanderer nordafrikanischer Nationalität diejeniger der bisher überwiegenden bzw.

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etwa gleich starken Südeuropäer immer weiter übertrifft, liegen seit Beginn der 90er Jahre auch die Zahlen der Einbürgerungen nordafrikanischer Herkunft deutlich über den Einbürgerungen südeuropäischer Herkunft. Neben der Gruppe der Zugewanderten nordafrikanischer Herkunft von ca. 1,7 Mio. tritt inzwischen eine schätzungsweise ebenso starke Bevölkerungsgruppe ebenfalls nordafrikanischer Herkunft, die aufgrund der vergleichsweise großzügigen französischen Einbürgerungsregelungen in die französische Staatsangehörigkeit hineingewachsen ist: die sogenannten "Beur-Generation". Ihre soziale Lage unterscheidet sich im wesentlichen nicht von der erstgenannten Gruppe, sie tritt aber aufgrund der verschärften Perzeption ihrer sozialen Marginalisierung mit den Anspruch auf Anerkennung einer spezifischen Identität als Motor sozialer Protest- und Solidaritätsbewegungen ("SOS-Racisme" und "France Plus"), aber auch als Nährboden sozialen Aufruhrs in Erscheinung. Sie wird als neues Wählerpotential von den etablierten politischen Kräften umworben, gilt zudem als Potential externer Einflußnahme und erscheint insgesamt als schwer kalkulierbarer Faktor innenpolitischer Konfliktkonstellationen, an dem sich die politische Polarisierung um die Ausländer- bzw. Einwanderungsproblematik in besonderer Weise verschärft.

Mit der wachsenden Bedeutung der nordafrikanischen Einwanderungsgruppen hat um die Mitte der 80er Jahre auch der Islam als kulturelles, religiöses und politisches Phänomen dramatisch an Bedeutung gewonnen. Der Islam ist die zweitstärkste Glaubensgemeinschaft in Frankreich, und Frankreich ist dasjenige europäische Land, das von der Präsenz des Islam am stärksten tangiert wird. Das Vorhandensein einer erheblichen jüdischen Glaubensgemeinschaft verschärft die Problematik nicht unerheblich. Gewiß gehen einige wichtige Institutionen des Islam in Frankreich (z.B. die Pariser Moschee) bereits auf Vorläufer der nordafrikanischen Einwanderung in der Zwischenkriegszeit zurück, doch ist die Entfaltung des Islam (weit über 1000 Moscheen und Gebetsstätten) und seine dauerhafte Etablierung Resultat der jüngsten Entwicklungen. In vielen großen Städten (Lyon, Marseille, Straßburg, Evry bei Paris) sind bedeutende Moscheen in Bau oder in Planung. Die Entfaltung des Islam in Frankreich geht einher mit der weltweiten Dynamik des Islam und seinen internen Kontroversen. Sie ist eingebettet in die Spannungen zwischen fundamentalistischen und progressiveren Tendenzen (Getto-Islam vs. Euro-Islam) und ist nicht frei von der Einflußnahme von seiten der maßgeblichen Zentren der islamischen Welt. Der Erfolg religiös-islamischer Tendenzen als soziale Heilsbotschaft und Intergrati-

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onsideologie unter den marginalisierten Einwanderergruppen nordafrikanischer Herkunft gibt fundamentalistischen Tendenzen Auftrieb. Fundamentalistische Bestrebungen geraten in offenen Konflikt mit den laizistischen Prinzipien des französischen Staates, insbesondere im Bereich der Schule ("Schleier-Affaire" von Ende 1989). Die französische Linke, die einerseits mehr für Toleranz und eine stärkere Berücksichtigung der Eigenständigkeit eingewanderter Minderheiten, andererseits aber für die Beachtung der laizistischen Prinzipien der Trennung von Staat und Kirche eintritt, ist durch diese Affaire in nicht geringe Widersprüche geraten. Der Ausweg wird von den einen in einer Flexibilisierung des laizistischen Prinzips und von anderen in der sogenannten "republikanischen Identität" gesucht, d.h. der freien religiösen Betätigung bei konsequenter Anerkennung der republikanischen Prinzipien des öffentlichen Lebens. Dies würde allerdings auf Dauer auch die Entwicklung einer aufgeklärten und an den Gegebenheiten einer modernen Industriegesellschaft orientierten Spielart des Islam bedeuten, von der viele sich nicht nur eine Modellwirkung für den Islam in Europa, sondern auch positive Einflüsse auf die islamische Welt versprechen.

Unbestreitbar ist jedoch auch, daß Frankreich durch historische Bindungen, geographische Nähe und das Vorhandensein einer erheblichen Bevölkerungsgruppe nordafrikanisch-islamischer Herkunft verstärkt in die Entwicklungen der arabisch-islamischen Region impliziert bzw. mit ihnen konfrontiert ist (wie etwa der Golf-Krieg gezeigt hat), daß ihm aus der demographischen, aber auch politischen Dynamik dieser Region künftig ein zusätzliches Einwanderungspotential erwachsen kann und daß es die Süd-Nord-Dimension mit dem besonderen Blick auf diese Region nach dem Wegfall des Ost-West-Antagonismus als die Bedrohungsperspektive der Zukunft ansieht. Nicht zuletzt deshalb, aber auch in Anknüpfung an die Konflikte der Vergangenheit (Algerienkrieg/Algérie francaise) und mit dem gleichzeitigen Blick auf das bedrohliche Potential sozialer Konflikte in den großstädtischen Ballungsräumen ist das Thema Islam ein neuralgischer Punkt in der innenpolitischen Auseinandersetzung um die Einwanderungsproblematik und trägt erheblich zu deren Polarisierung bei. Im Laufe der 80er Jahre ist die Ausländerproblematik zu einem der zentralen Konfliktfelder innenpolitischer Auseinandersetzungen geworden und hat - bei einer von parteipolitischen Orientierungen weitgehend unabhängigen regierungsoffiziellen Ausländerpolitik - zu einer weitreichenden Polarisierung zwischen den maßgebenden politischen Kräften beigetragen. Der entscheidende Faktor hierfür war

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das Auftreten der rechtsextremistisch/populistischen "Front National" Mitte der 80er Jahre.

Erste Konturen einer regierungsoffiziellen Ausländerpolitik lassen sich gegen Ende der 70er Jahre, in der Periode unbestrittener Machtausübung der Mitte-Rechts-Parteien nach dem als Folge der Energie-Preis-Krise von 1973 im Jahre 1974 verhängten Anwerbestopp erkennen: Bemühungen um Konsolidierung der ungezügelten Zuwanderung ("Immigration sauvage") als Voraussetzung gezielter Integrationsbemühungen. Demgegenüber bestand die sozialistische Linke [Fn_9: Weniger die weitaus restriktivere Kommunistische Partei, die den Vorrang der einheimischen Arbeiterklasse betonte und mit den Problemen des interethnischen Zusammenlebens in den von ihr verwalteten Kommunen besonders konfrontiert war.] in ihrer Programmatik auf einer weitgehenden Liberalisierung der Zuwanderung und dem Kampf gegen jede Form der Diskriminierung. Nach der Übernahme der Regierungsverantwortung durch die Linke im Jahr 1981 änderte sich zwar an der regierungsoffiziellen Ausländerpolitik kaum etwas (ein spezifisch links ausländerpolitisches Profil läßt sich so gut wie nicht ausmachen). Die sozialen Folgewirkungen jahrzehntelanger Zuwanderung machten sich jedoch inzwischen nicht mehr allein als Unterprivilegierung und Diskriminierung der Einwanderer, sondern verstärkt auch als soziale Belastung der einheimischen Bevölkerung bemerkbar - insbesondere in einer Periode verschärfter sozialer Krisen (Arbeitslosigkeit - Arbeitsplatzverluste durch Modernisierung und Rationalisierung) und verschärfter Konkurrenz um soziale Ressourcen in der Rezessionsphase nach den offenkundigen Fehlschlägen der Anfangsjahre sozialistischer Wirtschafts- und Sozialpolitik. Die Linke galt fortan - unabhängig von der langfristigen Entwicklung der vorangegangenen Jahrzehnte - als die alleinige Verantwortliche für die von der breiten Öffentlichkeit als Mißstände perzipierten Folgewirkungen der Zuwanderung - insbesondere für das Andauern der Zuwanderung (im offenkundigen Kontrast zu den seit 1974 proklamierten Zielsetzungen von Zuwanderungsstopp und sozialer Konsolidierung), für die illegale Zuwanderung sowie deren nachträgliche Legalisierung, für die soziale Destabilisierung der zugewanderten Bevölkerung, besonders durch Jugendarbeitslosigkeit und Kriminalität), für die Entwicklung sozialer Mißstände und Konflikte in den Wohnvierteln mit hoher Ausländerkonzentration (bes. die Ausbreitung öffentlicher Unsicherheit), schließlich für die Entfaltung des Islam. Die Oppositionsparteien der rechten Mitte konzentrieren sich, nicht zuletzt aufgrund fehlender politischer Alternativentwürfe nach ihrem offenkundigen eigenen

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Scheitern, sehr rasch auf diesem Feld auf die Kritik an der Regierung, auf dem sie die öffentliche Meinung mehrheitlich auf ihrer Seite wußten. Sie durchbrachen damit einen bis dahin auch in Frankreich gültigen Konsens unter den großen politischen Parteien, die ausländerpolitischen Themen, im Bewußtsein der unkalkulierbaren Brisanz ausländerfeindlicher Motivationen, aus den partei- und wahlpolitischen Auseinandersetzungen möglichst herauszuhalten. Seit den Kommunalwahlen von 1983 spielten bei allen wichtigen Wahlentscheidungen der Folgezeit (insbesondere dem Präsidentschaftswahlkampf von 1988) ausländerpolitische Themen, wie die (von der Linken geforderte) Einführung des Kommunalwahlrechts für Ausländer, die (von der Rechten) geforderte Einschränkung der weitgehend automatischen Einbürgerung für in Frankreich geborene jugendliche Ausländer, die wachsende öffentliche Unsicherheit bzw. Ausländerkriminalität, die Abschiebung illegaler Einwanderer, die Asylproblematik usw. eine wichtige Rolle. Den bisherigen Höhepunkt dieser Polarisierung bildeten die Äußerungen der beiden führenden Oppositionsführer im Sommer 1991, als der frühere Staatspräsident V. Giscard d'Estaing von einer "Invasion" sprach und die Einschränkung der Einbürgerungsmöglichkeiten forderte und der gaullistische Parteichef J. Chirac mit den Schlagworten "Overdose" sowie "Lärm und Gerüche" (Les bruits et les odeurs") die sozialen Belastungen des Zusammenlebens von Einheimischen und Einwanderern in drastischer Weise ansprach. [Fn_10: Zu diesem Zeitpunkt schlug selbst die sozialistische Premierministerin Edith Cresson eine populistische Tonart an, indem sie im Hinblick auf die beabsichtigte Abschiebung von abgelehnten Asylbewerbern von "Charterflügen" sprach, was als bewußte Anspielung auf die „Chartres de Pasqua„ verstanden wurde, d.h. eine einmalige und heftig umstrittene Abschiebungsaktion von 101 Zuwanderern aus MALI im Oktober 1986 durch den gaullistischen Innenminister z.Zt. der „Cohabitation„ (1986-1988)]
Die Einführung des Kommunalwahlrechts für EG-Ausländer war zudem einer der zentralen Streitpunkte in der leidenschaftlichen parlamentarischen Auseinandersetzung sowie in der Kampagne der Volksabstimmung über den Vertrag von Maastricht im September 1992, der eine Änderung der französischen Verfassung nötig machte. Die Schärfe dieser Kontroverse resultiert nicht zuletzt aus dem Vorhandensein des rechtsextremistischen "Front National" unter Führung von Jean-Marie Le Pen, die mit der Kommunalwahl von 1983 nahezu aus dem Nichts auf die politische Bühne getreten ist (z.B. Wahlerfolg in Dreux) und seither mit Stimmenanteilen von landesweit knapp über 10 % (zeitweise bis zu 15 % und regional z.T. bis zu 25 %-30 %) die französische Parteienlandschaft gründlich durcheinandergebracht hat. Abgesehen vom eigentlichen Wäh-

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ler- und Sympathisantenpotential haben gelegentliche Umfragen allerdings Zustimmungen zu den ausländerpolitischen Zielsetzungen des "Front National" von bis zu 39 % ergeben. [Fn_11: Umfrage des Meinungsforschungsinstitutes SOFRES, Le Monde, 25.10.1991.]
Frankreich steht, trotz vergleichbarer Tendenzen in nahezu allen europäischen Industrieländern und trotz der Dramatik ausländerfeindlicher Ausschreitungen in Deutschland im Jahre 1992, in Europa eindeutig an der Spitze rechtsextremistisch-nationalistisch-populistischer Reaktionen auf die Einwanderungsbewegung.

Die Programmatik besteht nahezu eindimensional aus dem Kampf gegen die Einwanderung und für die Erhaltung der "nationalen Identität", wenn auch andere Themen, wie der Kampf gegen die Europäische Union, die Programmatik inzwischen abrunden.

Der "Front National" schöpft sein Potential zwar überwiegend aus dem Wählerreservoir der Mitte-Rechts-Kräfte, doch zu nicht geringem Anteil auch aus dem Reservoir der Linken, und er hat nicht zuletzt am Zerfall traditioneller Machtpositionen der Kommunistischen Partei Frankreichs (KPF) seinen Anteil. [Fn_12: Vgl. Pascal Penineau u. Nonna Meyer, Le Front National ä decouvert, Paris 1989. Vgl. auch: Entretien avec Pascal Penineau, in: Le Monde, 12.2.1992.]
Seine wichtigste Funktion besteht jedoch in der dauerhaften Aufrechterhaltung einer Spaltung der Mitte-Rechts-Opposition, die über die Frage einer bedingungslosen Ablehnung der von Le Pen vertretenen einwanderungsfeindlichen Thesen bzw. einer taktischen Koalition mit ihm, die lange Zeit die Voraussetzung für die Verdrängung der Linken aus der Regierungsverantwortung zu sein schien, dauerhaft gespalten bleibt. Angesichts dieser Konstellation kommt dem Kampf gegen den Rassismus, über seine politisch-moralische Tragweite hinaus, eine Bedeutung an innenpolitischer Instrumentalisierbarkeit (Mobilisierung des Zusammenhalts der Linken und Spaltung der Mitte-Rechts-Kräfte), zu, die von den Sozialisten in ihrer Position allgemeiner Schwäche auch ausgiebig genutzt wird. Maßgeblichen Vertretern eines bewußten und aufklärerischen Vorgehens gegen Vorurteile und Rassismus erscheint diese starke Politisierung und Instrumentalisierbarkeit eher als kontraproduktiv. [Fn_13: Pierre-Andre Taguieff, Face au racisme, Paris, 2 Bde., 1991. Vgl. auch: Un entretien avec M. Pierre-Andre Taguieff, in: Le Monde, 10.4.1991.]
Außerdem findet das Argument verstärkt Gehör, daß die von den etablierten politischen Kräften betriebene Stigmatisierung und Ausgrenzung Le Pens den "Front

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National" in eine Art Märtyrerrolle manövriert, darüber hinaus demokratischen Grundregeln zuwiderläuft und im Endeffekt der rechtsextremen Bewegung eher zugute kommt.

Das Beispiel Frankreichs scheint zu belegen, daß eine dauerhafte und massive Einwanderungsbewegung, eine rechtsextremistische/populistische Reaktion in den soziologischen Tiefen der Bevölkerung auf Dauer geradezu unvermeidlich hervorbringen muß. Dies nicht so sehr aufgrund vorurteilsbestimmter Verhaltensweisen und ideologisch determinierten Positionen, sondern aufgrund der Tatsache, daß Einwanderung der sichtbarste Ausdruck soziologischer Umbruchprozesse ist, die das gewohnte soziale Umfeld in einer so dramatischen Weise verändern, daß sie nicht nur bei denjenigen Bevölkerungsschichten, die ihrerseits auf der Verliererseite dieser Umbruchprozesse stehen und von den sozialen Belastungen des inter-ethnischen Zusammenlebens direkt betroffen sind, sondern auch bei denjenigen, für die allein schon der Wandel des gewohnten sozialen Umfelds und der damit verbundenen Lebensbedingungen eine Belastung darstellt (Verlust der Identität), Ängste hervorrufen, die zu heftigen Reaktionen führen. Dies auf der politischen Ebene ignorieren oder leugnen zu wollen und die entsprechenden Reaktionen lediglich dem uneinsichtigen/unaufgeklärten Verhalten der Betroffenen anlasten zu wollen (wie es bisher die Regel ist), erscheint als gravierender Fehler politischen Handelns mit unkalkulierbaren Konsequenzen.

In den allerletzten Jahren, genauer z.Zt. der Regierung M. Rocard von 1988-1991, ist die Wohn- und Lebenssituation in den Vorortgebieten der großstädtischen Verdichtungsräume ("banlieues" - "cites" - "grands ensembles") als der Kernpunkt der Einwanderungsproblematik erkannt und benannt worden -nachdem diese Problematik in den davorliegenden Zeitabschnitten eher ignoriert, unterbelichtet oder ignoriert worden war. In dieser "Banlieue"-Problematik treffen sich zwei Linien unterschiedlicher Problementwicklungen: Einmal die Einwanderungsproblematik in ihren spezifischen Aspekten sozialer Segregation und Diskriminierung, zum anderen der allgemeine Entwicklungsprozeß der französischen Großstädte, d.h. der Prozeß einer nachgeholten, aber dynamischen Urbanisierung. Frankreich war lange Zeit, d.h., bis in die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, ein überwiegendes Agrarland, und nur ein geringer Teil seiner Bevölkerung lebte in den wenigen großstädtischen Ballungszentren, von denen allerdings schon immer Paris als eine der europäischen Megalopolen herausragte.

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Seine Struktur war durch den Dualismus zwischen einem stark verdichteten Innenstadtkern (mit einer ausgeprägten sozialen Segregation zwischen den einzelnen Stadtvierteln) und dem Ring der Vororte geprägt, in dem im wesentlichen die Industrie und die Industriearbeiterschart angesiedelt und in den die sozial schwache Bevölkerung immer wieder schubweise abgedrängt wurde. Die anderen großstädtischen Ballungszentren in Frankreich, insbesondere Lyon und Marseille, waren ganz ähnlich strukturiert. Ansätze für moderne urbane Erneuerung und großzügige Stadtplanung in Zusammenhang mit der Entwicklung des sozialen Wohnungsbaus hat es in frühren Phasen der Industrialisierung, anders als etwa in Deutschland, Großbritannien oder Skandinavien, in Frankreich nur in sehr bescheidenem Umfang gegeben, so daß die großstädtischen Strukturen insgesamt davon nicht nachhaltig beeinflußt wurden. Es entstanden die typischen Arbeiterviertel und -vororte des sogenannten "roten Vorortgürtels", die sich durch enge, unhygienische und deprimierende Wohnverhältnisse und abstoßende Häßlichkeit auszeichneten, aber auch den Rahmen für eine homogene Arbeiterkultur bildeten. Mit dem Niedergang vieler traditioneller Industrien und der Verlagerung vieler Industrien (z.B. Pariser Automobilindustrie), dem Strukturwandel der traditionellen Arbeiterschaft und dem Niedergang der traditionellen Arbeiterkultur vollzieht sich (spätestens seit den 80er Jahren) auch ein tiefgreifender Umbruch dieses traditionellen Vorortgürtels - hin zur Herausbildung von gemischten Wohn- und Bürovierteln.

Ab den 50er Jahren vollzog sich eine massive Land-Stadt-Wanderung und ein dramatischer Urbanisierungsprozeß, der auch in der Gegenwart noch nicht abgeschlossen ist. Das Wachstum des Großraums Paris mit gegenwärtig ca. 10 Mio. Einwohnern wird für das Jahr 2015 mit ca. 12 Mio. prognostiziert. Das großstädtische Wachstum war gleichbedeutend mit dem Entstehen von Großsiedlungen des sozialen Wohnungsbaus (HLM) an den Peripherien der großstädtischen Ballungsgebiete, zum großen Teil in industriell vorgefertigter Plattenbauweise und überdimensionierten Wohnhochhäusern und in Dimensionen von durchschnittlich 25.000 - 40.000 Einwohnern als reine Schlafstädte für Arbeiter und Angestellt. Erst in einer späteren Phase folgte ein Programm der Errichtung von Satellitenstädten.

Außerdem entstanden Arbeiter-Schlafstädte im Einzugsbereich großer Industrieunternehmen abseits großstädtischer Ballungszentren (z.B. Mantes-la-Jolie westlich von Paris). Mangelhafte urbane Infrastrukturen, schlechte Bauqualität,

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ungünstige Verkehrsanbindung, ungünstige Wohnlage (z.T. in der unmittelbaren Nachbarschaft von Industrieanlagen, Eisenbahnen, Autobahnen), fehlende oder verwahrloste Grünflächen [Fn_14: Obwohl diese Großsiedlungen nach den international gültigen Konzeptionen modernen Städtebaus entstanden sind, für den die Integration von Grünzonen die Regel ist.] bewirkten, daß diese Siedlungen nach einer kurzen, eher erfolgreichen Anfangsphase sehr rasch von den für sie bestimmten Bevölkerungsgruppen verlassen bzw. gemieden wurden und z.T. in einen Prozeß der Verwahrlosung und Verfall übergingen.

Die Einwanderermassen der 50er und 60er Jahre (vorwiegend alleinstehende männliche Arbeitskräfte) fanden überwiegend prekäre und vorübergehende Unterkünften in heruntergekommenen und zum Abriß prädestinierten Quartieren der Arbeiterviertel und -vororte sowie in Sanierungsgebieten von Stadtzentren und Altstädten (in Paris z.B. Barbes, Belleville). Außerdem entstanden (ähnlich wie in den Megalopolen der Dritten Welt) die für die französischen Großstädte der damaligen Zeit charakteristischen "Bidonvilles": Ansammlungen selbstgefertigter Behausungen von z.T. mehreren Tausend Bewohnern auf Brachflächen an den Rändern der Vororte. Als diese in den 70er Jahren Sanierungsprogrammen weichen mußten, kamen die Bewohner z.T. in Übergangssiedlungen in Leichtbauweise (Cites de transit), die zu dauerhaften Provisorien wurden. Im Zuge des massiven Familiennachzuges Ende der 60er Jahre, Anfang der 70er Jahre wurden dann Einwanderungsfamilien in großem Stil in die "Grands Ensembles" des sozialen Wohnungsbaus eingewiesen, die bereits vorher von dem Personenkreis, für den sie ursprünglich bestimmt waren, zunehmend gemieden wurden - wobei die Einweisung von Einwanderern den Exodus der Einheimischen und den ohnehin in Gang befindlichen Prozeß der Verwahrlosung z.T. noch förderte.

Im Laufe der Zeit wirkte sich die Vergabe von Sozialwohnungen in erster Linie nach dem Kriterium der Kinderzahl - und unabhängig von jedem ethnischen Kriterium - und die Verfügbarkeit von Wohnungen für kinderreiche Familien vorwiegend zugunsten eines verstärkten Zuzugs von traditionell kinderreichen Einwandererfamilien aus. In diesem Punkt läßt sich - wie in zahlreichen anderen - die perverse Wirkung sozialpolitischer Förderungsmaßnahmen erkennen: Wenn im Zuge eines sozialpolitischen Programms zur Förderung demographischer Entwicklung einer notorische wenig kinderreichen Bevölkerung die Be-

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reitstellung und Förderung ausreichenden Wohnraums sinnvoll erscheint, muß die Inanspruchnahme dieser Förderung durch den Personenkreis der traditionell kinderreichen Einwanderer, für den sie ja ursprünglich nicht konzipiert war, nicht nur das ursprüngliche sozialpolitische Ziel obsolet erscheinen lassen, sondern auch die ursprünglich nicht intendierte Wirkung, d.h. die Verdrängung der einheimischen durch die eingewanderte Bevölkerung, hervorbringen. Es sind eine Vielfalt derartiger perverser Wirkungen im Bereich der Sozialpolitik, die letzten Endes Abwehrreaktion der einheimischen Bevölkerung hervorgerufen und den populistisch-rechtsextremistischen Kräften Auftrieb verliehen haben.

Als Faktor auf der politischen Ebene kommt hinzu, daß die in der Regel von Linksparteien, vorwiegend von der KPF, verwalteten Gemeinden mit großen HLM-Siedlungen die der Regierungspolitik entsprechende und von überkommunalen Organismen veranlaßte Einweisung von Einwanderern weder verhindern noch sozialverträglich gestalten konnten. Aus Regierungssicht erschienen die entstehenden sozialen Konflikte vorwiegend als solche, die die "roten" Stadtverwaltungen zusätzlich belasteten und in den Augen der Wählerschaft diskreditierten. Von kommunistischer Seite geäußerte Vorbehalte brachten die KPF rasch in Widerspruch zu den von ihr proklamierten Grundprinzipien internationaler Solidarität und trugen ihr den Vorwort der Ausländerfeindlichkeit ein. Das linke Wählerpotential schrumpfte durch den Exodus der einheimischen Arbeitnehmerschaft und den wachsenden Einwandererzuzug. In einer weiteren Phase schrumpfte das linke Wählerpotential durch das massive Aufkommen der populistisch-rechtsextremistischen Kräfte der Front National. Der Zusammenbruch traditioneller linker - und besonders kommunistischer - politischer Positionen in den Vorortgürteln der Großstädte ist nicht zuletzt eine Konsequenz des massiven Einwandererzustroms: ein Prozeß, der nicht nur aus der Sicht der liberal-konservativen Regierungskräfte der 70er Jahre, sondern auch aus derjenigen der anschließenden sozialistischen Ära der 80er Jahre als zumindest nicht unerwünscht erschien. Der Verfall der ehemals relativ homogenen Sozialstruktur der Arbeitervororte durch die Entstehung der "Grands Ensembles" und deren Verwandlung in Ausländerghettos bzw. multikulturelle Wohnquartiere steht durchaus in einem inneren Zusammenhang. [Fn_15: Vgl. Francois Dubet u. Didier Lapeyronnie, Les quartiers d'exil, Paris 1992.]
Seit Anfang der 70er Jahre nahm die Ausländerkonzentration in diesen "Grands Ensembles" immer mehr zu, zahlreiche dieser Großsiedlungen hatten schließlich eine mehrheitlich ausländi-

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sehe Bevölkerung (mit zusätzlicher Konzentration in bestimmten Straßenzügen und Häuserblocks). Der Ende der 70er Jahre noch leidenschaftlich (als Ausdruck von Fremdenfeindlichkeit) diskutierte Begriff der "Toleranzgrenze" [Fn_16: Zu diesem Zeitpunkt wurde u.a. darum gestritten, ob eine solche imaginäre Grenze bei ungefähr 20-25 % Ausländeranteil anzunehmen sei.] ist vielerorts durch die tatsächliche Entwicklung längst weit überholt und damit gegenstandslos geworden. Eine Reihe von ihnen wird man getrost als Slums oder Ghettos bezeichnen können, obwohl von französischer Seite stets betont wird, daß offiziell in keinem Vorort Ausländeranteile von über 50 % registriert werden, daß es stets eine Mischung verschiedener Nationalitäten gebe und daß man daher nirgendwo von Ghettos im US-amerikanischen Sinne sprechen könne. [Fn_17: Loic J.D. Wacquant u. Sophie Body-Gendrot, "Ghetto", Un mot de trop, in: Le Monde, 17.7.1991.]

Sanierungs- und Krisensteuerungsprojekte der 80er und Anfang der 90er Jahre gehen stets von über 400 solcher Problemviertel ("Points chauds") aus. Sie zeichnen sich aus durch hohe Ausländerkonzentration, vorwiegend nordafrikanischer Herkunft, einen hohen und wachsenden jugendlichen Bevölkerungsanteil (dementsprechend hohe Ausländeranteile auch in den Schulen), hohe Jugendarbeitslosigkeit, Bandenbildung, Klein- und Gewaltkriminalität, Drogenproblematik, Vandalismus, allgemeine Unsicherheit, Zusammenstöße zwischen Jugendbanden und mit der Polizei, gewaltsame ethnische Übergriffe. Aus einigen dieser Viertel hat sich die Polizei zeitweise de facto zurückgezogen, so daß so etwas wie rechtsfreie Zonen entstanden sind. Dazu kommen die desolaten Wohnverhältnisse, weniger im Hinblick auf Mangel an Wohnraum, als vielmehr im Hinblick auf den schlechten Zustand der gemeinschaftlichen und öffentlichen Bereiche und das Fehlen kollektiver Initiativen zu ihrer Verbesserung. Charakteristisch für die französischen Vorstädte ist z.B. die Verwahrlosung bzw. das völlige Fehlen großzügiger und gepflegter Grünzonen mit den für eine aktive Jugendkultur unentbehrlichen Sportstätten, Schwimmbädern usw. Überall drängt sich der Eindruck einer "Betonwüste" geradezu auf - die zudem unter einer extremen Umweltbelastung durch Verkehrs-, Gewerbe- und Industrieimmissionen steht. In zahlreichen dieser Problemviertel kam es bereits zu Beginn der 80er Jahre (z.B. in "Les Minguettes" in Venissieux bei Lyon) und erneut ab 1990 zu Ausschreitungen und gewaltsamem Aufruhr, Brandstiftung und Plünderungen: So z.B. in VauIx-en-Velin bei Lyon, in Satrouville, Argenteuil,

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Gennevilliers, La Coumeuve, Epinay-sur-Seine, Mantes-la-Jolie, Montfermeil im Umfeld von Paris. Die Problematik der "Banlieues" wird in Frankreich inzwischen als eine gesamtgesellschaftliche Problematik begriffen. Lokale Verbesserungen und gelegentliche optische Retuschen (einige "Wiedergutmachungen von Bausünden der Vergangenheit") können dabei allerdings nicht über die Schwierigkeiten oder gar Unmöglichkeit einer Überwindung der segregativen Tendenzen der gesellschaftlichen Entwicklung hinwegtäuschen, die der Entstehung und Dynamik der "Banlieue"-Problematik zugrundeliegen. Die Schaffung eines "Ministère de la Ville" im Jahre 1992 hat in diesem Zusammenhang wohl in erster Linie die Funktion, das soziale Krisenpotential der Vorstädte im Hinblick auf die anstehenden Wahlentscheidungen unter Kontrolle zu halten. [Fn_18: Die Besetzung dieses Postens mit dem aus dem sozialen Milieu der "Banlieue" aufgestiegenen Selfmade-Geschäftsmann Bernard Tapie, dessen populistischem und robustem Auftreten man zutraute, einen Le Pen in die Schranken zu weisen, erwies wegen der für die Spätphase des französischen Sozialismus charakteristischen Affären der Verfilzung von Geschäft und Politik als Fehlbesetzung.]

Staatliche Einwanderungs- bzw. Ausländerpolitik hat erst seit Ende der 70er Jahre (Ära V. Giscard d'Estaing) festere Konturen angenommen. Für die Zeit davor wird man von einer spezifischen Politik in diesem Bereich kaum sprechen können. Die Einwanderungspolitik der sozialistischen Ära seit 1981 kann als eine Fortsetzung dieser Linie, allerdings unter den Prämissen schärferer innenpolitischer Polarisierung, der Verschärfung sozialen Konfliktpotentials und der Offensive des einwanderungsfeindlichen Rechtspopulismus angesehen werden. Ausgangspunkt einer spezifischen Ausländer- bzw. Einwanderungspolitik ist auch in Frankreich der Anwerbestopp für ausländische Arbeitnehmer als Folge der ersten Energiepreiskrise ("Ölkrise"). Er erfolgte in Frankreich Ende 1974 und schaffte die Voraussetzung für eine zumindest teilweise Konsolidierung der Zuwanderung und damit für die soziale Integration der seit langem im Lande befindlichen Einwanderer. Allerdings erwies sich in Frankreich die Konsolidierung der Zuwanderung durch staatliche Kontrolle (Contrôle des flux) aufgrund eines schwach ausgebildeten staatlichen Instrumentariums - z.B. der Arbeitsmarktsteuerung, eines bereits im vorangehenden Zeitraum massiv in Gang gekommenen Familiennachzugs, zahlreicher Ausnahmeregelungen für bestimmte Wirtschaftssektoren (z.B. Saisonarbeit in der Landwirtschaft, aber auch im Bergbau) und eines breiten Spektrums an unkontrollierter und illegaler

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Zuwanderung als besonders schwierig. Staatliche Intervention zielte in der Folgezeit in erster Linie auf eine Verbesserung des Instrumentariums der Regulierung und Kontrolle, sowohl der Zuwanderung wie des Arbeitsmarktes. Hierzu zählte nicht zuletzt auch eine einmalige Legalisierungsaktion illegaler Zuwanderer (ca. 130.000 Fälle) zu Beginn der sozialistischen Ära 1982/83. Ein Programm der Rückkehrförderung Ende der 70er Jahre/Anfang der 80er Jahre (mit späteren Fortsetzungen) hatte nur sehr bescheidene Ergebnisse.

Angesichts der im Verlauf der 80er Jahre stark ansteigenden Massenarbeitslosigkeit wird ein zusätzlicher und auch zukünftiger Bedarf an ausländischen Arbeitskräften in Frankreich (in deutlichem Unterschied zu Deutschland) nicht für gegeben gehalten. Die Frage der Kontrolle der Zuwanderung, und dabei insbesondere die Verhinderung illegaler Zuwanderung und ganz besonders die Problematik der Ausweisung illegaler Zuwanderer und ausländischer Straftäter wurde zum dauerhaften innenpolitischen Streitpunkt der sozialistischen Ära der 80er Jahre - mit der Parenthese der "cohabitation" der Jahre 1986-1988. Während die liberal-konservative Opposition auf weitgehendem Handlungsspielraum für die Exekutive (Polizei) zugunsten erleichterter Ausweisung bestand (und außerdem für eine Einschränkung der Einbürgerungsmöglichkeiten eintrat), setzte sich die Linke für eine konsequente gerichtliche Kontrolle bei Ausweisungen und deren weitgehende Reduzierung aus sozialpolitischer Rücksichtnahme ein. Das staatliche Instrumentarium der Kontrolle und Konsolidierung der Zuwanderung wurde gerade in der sozialistischen Ära im Vergleich zum vorangehenden Zeitraum erheblich ausgebaut.

Sozialpolitische Programme zur aktiven Förderung des Integrationsprozesses (z.B. im Rahmen des "Fonds d'Action Sociale/FAS") hielten sich in sehr engen Grenzen bzw. zeigten, wie die Entstehung der "Banlieue"-Problematik zeigt, perverse Wirkungen. Besonders bescheiden blieben die Bemühungen um die schulische Förderung und Berufsausbildung von Einwandererkindern. Das seit Ende der 70er Jahre und verstärkt seit Anfang der 80er Jahre in Gang gesetzte Programm zur Bekämpfung der sozialen Spannungen durch Verbesserung der Lebensbedingungen in den Vororten (u.a. durch ein sukzessiv ausgeweitetes Programm von Pilotprojekten partnerschaftlicher Zusammenarbeit zwischen dem Staat und einzelnen Städten) wurde gegen Ende der 80er und zu Beginn der 90er Jahre nicht mehr zu einem Not- und Krisenprogramm zur Verhinderung des offenen sozialen Aufruhrs. Von einem kohärenten Konzept der Integra-

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tionsförderung wird man dabei nicht sprechen können. Außerdem stießen alle Bemühungen um aktive Integrationsförderung sehr rasch an einen grundsätzlichen Widerspruch: Die Anerkennung einer eigenständigen ethnischen oder kulturellen Identität eingewanderter Gruppen. In einem kurzen Zeitraum zu Beginn der 80er Jahre schien man - um eine Zäsur zu dem bis dahin praktizierten Konzept der "Assimilation" zu markieren - bereit zu sein, eine gewisse Eigenständigkeit eingewanderter Gruppen gelten zu lassen. Man sprach vom "droit à la différence", der "société multiculturelle" oder "société multiraciale", von "communautes" und "minorités" und postulierte die Eingliederung ("insertion") dieser Gruppen in die bestehende Gesellschaft. Gleichzeitig vollzog sich im Zuge der zu Beginn der sozialistischen Ära angestrebten Dezentralisierung und Regionalisierung eine Art Wiederentdeckung kulturell eigenständiger ethnischer und regionaler Minderheiten im eigenen Lande (Bretonen, Basken, Korsen, Elsässer, Lothringer u.s.w), und die grundsätzliche Anerkennung des Rechts dieser Minderheiten auf eine gewisse Eigenständigkeit, die bisher vom jakobinischen Zentralstaat ignoriert oder sogar bekämpft worden war, wurde zeitweise im Zusammenhang mit dem Recht eingewanderter Minderheiten auf Anerkennung kultureller Eigenständigkeit gesehen.

Sehr rasch erschien jedoch - angesichts der sozialen Segregationsprozesse in den Vorstädten - die Anerkennung kultureller Eigenständigkeit eingewanderter Minderheiten als Gefahr einer Zementierung der Gettobildung. Das dynamische Aufkommen des Islams - mit z.T. fundamentalistischen Tendenzen - ließ zudem das Prinzip kultureller Eigenständigkeit zusätzlich problematisch erscheinen. Zudem geriet die Politik der Regionalisierung sehr bald ins Stocken und wich einer erneuten Tendenz zu verstärkter Zentralisierung, so daß vom Gedanken kultureller Autonomie der Regionen nicht viel erhalten blieb. Es kam daher im Verlauf der 80er Jahre aus unterschiedlichen Motiven sehr rasch zu einer Absage an jede Form von Eigenständigkeit zugewanderter Gruppen und dementsprechend an jede Form spezifischer, auf die Einwanderer als soziale Gruppe oder auf einzelne ethnische Gruppen bezogener Förderung. Es wurde zu einem ausdrücklichen Prinzip, daß sich sämtliche Maßnahmen der Integrationsförderung im Rahmen der allgemein gültigen Sozialpolitik zu bewegen haben. Als Gegenmodell dieses auf allgemeine Gleichberechtigung und Nichtberücksichtigung ethnischer und kultureller Differenzen zielenden und als spezifisch französisch deklarierten Integrationsmodells wird zunehmend auf ein "angelsächsisches Modell" verwiesen, das ethnische und kulturelle Minoritäten

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gelten lasse. Angesichts der objektiv jedoch nicht zu verkennenden Differenzen insbesondere im Hinblick auf den in Frankreich besonders stark vertretenen Islam und seines zunehmenden Anspruchs auf gesellschaftliche Anerkennung [Fn_19: Im März 1990 wurde der "Conseil de réflexion sur l'Islam en France" (CORIF) ins Leben gerufen, um die Schaffung eines repräsentativen Organs des französischen Islams vorzubereiten, das als Geschäftspartner der Regierung fungieren würde.] setzt sich mehr und mehr das Konzept einer "republikanischen Identität" (identité républicaine) als ideologische Leitvorstellung eines spezifisch französischen Integrationsmodells durch. Es stellt die Integration des Individuums, den Gedanken der individuellen Gleichberechtigung und der Menschenrechte in den Mittelpunkt und beinhaltet eine Absage an jede Form kollektiver Besonderheiten. Kulturelle und auch religiöse Autonomieanspriiche haben in einem solchen Konzept nur insofern Platz, als sie die Grundprinzipien respektieren, die dem gesellschaftlichen und staatlichen Aufbau Frankreichs zugrundeliegen, so z.B. Laizismus, Gleichberechtigung der Geschlechter, Monogamie und somit keinerlei Voraussetzung für das Entstehen eigenständiger Gruppierungen innerhalb der Gesellschaft darstellen: Es enthält zudem die Vorstellung eines politischen Begriffs der Gesellschaft, zu dem man sich - unabhängig von seiner Herkunft und kulturellen oder ethnischen Zugehörigkeit - aktiv bekennt: somit die traditionelle französische Idee der Nation in modernem Gewand. Insbesondere im Hinblick auf den Islam bildet dieses Konzept die denkmögliche Grundlage für einen Islam "à la francaise". So kohärent dieses Konzept auch erscheint, so bleibt es doch ausschließlich auf die ideologische Ebene beschränkt und bietet -nicht untypisch für französische Verhältnisse im allgemeinen - keinerlei Zugriff auf die konkrete soziale Realität, die nach übereinstimmender Auffassung durch eine Stagnation oder sogar ein Scheitern der Integration [Fn_20: Alain Touraine, Vraie et fausse Intégration, in: Le Monde, 29.1.1992. Vereinzelte Stimmen plädieren daher bereits für eine Rückkehr zum Konzept der Assimilierung. Vgl. Jean-daude Barreau, De 1'immigration en général et de la nation francaise en particulier, Paris 1992. Vgl. auch: Un entretien avec Jean-daude Barreau, in: Le Monde, 6.10.1992. Barreau ist Präsident des Institut National d'Etudes Démographiques (INED). Er war von 1989-1991 Präsident des staatlichen Einwanderungsamt "Office des Migrations Internationales" (OMI). Von diesem Posten wurde er wegen einer Streitschrift über den Islam abberufen.] und eine Zuspitzung der sozialen Spannungen und Konflikte gekennzeichnet ist, die im Sommer 1992 vielen Kommentatoren Entwicklungen wie in Los Angeles und den Großstädten der USA möglich erscheinen ließ. [Fn_21: Jean Daniel, Est-ce possible en France u. Jacques Juillard, Quand la ville rend fou, in: Le Nouvel Observateur, 7.5.1992, B. Mazières, Demain en France? in: L'Express, 7.5.1992.]
Auch die regierungsoffiziellen Anstrengungen, die im Bereich konkreter sozialpolitischer Maßnahmen zum Abbau

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der Integrationshindernisse eher bescheiden bleiben, konzentrieren sich sehr stark auf die ideologische Ebene, z.B. durch Anti-Rassismus-Kampagnen, die Unterstützung anti-rassistischer Organisationen wie SOS-Racisme sowie die Weiterentwicklung der Anti-Diskriminierungs- und Anti-Rassismus-Gesetzgebung. [Fn_22: 1991: La lütte contre le racisme et la xenophopie. Hg. v.d. Commission nationale consultative des Droits de l'Homme, Paris 1992.]

Es ist nicht ohne weiteres möglich, eine Bilanz des Jahrzehnte- wenn nicht sogar Jahrhundertelangen Prozesses der Zuwanderung zu ziehen. Zweifellos sind einerseits Millionen von Zuwanderern unmittelbar oder über Generationen hinweg in die französische Gesellschaft hineingewachsen und zu gleichberechtigten Mitgliedern geworden, wobei der leichte Erwerb der französischen Staatsangehörigkeit ebenso hilfreich gewesen sein mag wie die ethnische Herkunft. Für viele Zuwanderer - selbst aus kulturell verwandten Herkunftsländern - war dies jedoch - auch in früheren Perioden - ein mühevoller und konfliktueller Prozeß. Andererseits ist - insbesondere in jüngster Vergangenheit - ein erheblicher Teil der Zuwanderer in einer sozial marginalen Position verblieben, wobei die Frage der Einbürgerung von geringerer Bedeutung ist als die ethnische Herkunft. Hieraus ist ein dauerhaftes soziales, aber auch innen- und außenpolitisches Konfliktpotential entstanden, dessen Tragweite noch nicht abzuschätzen ist.

Die Asylthematik spielt in Frankreich, im Vergleich etwa zu Deutschland, eine eher untergeordnete Rolle, Im historischen Verlauf der Zuwanderung nach Frankreich hat es immer wieder Phasen von politisch motivierten Fluchtbewegungen gegeben (1848, Flucht vor dem Faschismus in den 20er und 30er Jahren u.s.w), so daß sich Frankreich mit einem gewissen Recht den Ruf eines Zufluchtslandes für Asylsuchende ("La France - terre d'asile") erworben hat. In der gegenwärtigen Phase bildet die Grundlage für die Asylgewährung die Genfer Flüchtlingskonvention, und Prüfungsverfahren über zwei Einspruchsinstanzen konnten sich, ebenso wie in Deutschland, über mehrere Jahre hinziehen. Herkunftsländer sind vorwiegend afrikanische und lateinamerikanische Länder, außerdem die Türkei, weniger aber osteuropäische Länder. Auch gegenwärtig richtet sich der Ansturm der Asylsuchenden aus Osteuropa nur in sehr geringem Maße auf Frankreich. Gewiß gab es seit Ende der 70er Jahre einen gewissen Anstieg in den Bewerberzahlen, doch ist Asylsuche nach dem Ende der An-

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Werbung von Arbeitskräften nicht wie in Deutschland das wichtigste bzw. einzige Eingangstor für Zuwanderungswillige geblieben, da immer die Möglichkeit irregulärer Zuwanderung bestand. Erst gegen Ende der 80er Jahre ging, als Folge restriktiver Zuwanderungspolitik, die Zahl der Asylsuchenden erheblich in die Höhe und erreichte im Jahre 1989 mit über 61.000 den bisherigen Höhepunkt. Die Modernisierung des staatlichen Flüchtlingsamtes OFPRA und seine bessere personelle Ausstattung, die Aufhebung der Arbeitserlaubnis für Asylbewerber im Herbst 1991 und die Androhung von Abschiebungen abgelehnter Asylbewerber haben - nach offiziellen Angaben- eine signifikante Verkürzung der Verfahren (auf durchschnittlich drei Monate) und einen Rückgang der Bewerberzahlen (1991=47.000; 1992=ca.35.000) zur Folge gehabt. Dazu kommt seit Sommer 1992 die Legalisierung einer seit Jahren von der Verwaltung ohne gesetzliche Grundlage geübten Praxis der Einrichtung einer exterritorialen Zone an den Flughäfen, die die Abschiebung von Asylbewerbern in unbegründeten Fällen bereits am Flughafen ermöglicht. Abgelehnte Asylbewerber wurden bisher in der Regel zwar nicht ausgewiesen, erhielten aber auch keinen Aufenthaltsstatus und verblieben häufig in der Illegalität. Während sich Frankreich gegenüber Asylsuchenden mit politischen Motiven (z.B. fundamentalistische Moslems) aus der arabischen Welt mit Rücksicht auf die Beziehungen zu den nordafrikanischen Herkunftsländern äußerst restriktiv verhielt, wird bei tiefgreifenden politischen Unruhen mit erheblichen Fluchtbewegungen aus diesen Ländern gerechnet.

Wenn in Deutschland in der Asyldiskussion immer wieder auf eine "europäische Lösung" verwiesen wird und auch eine Lösung der gesamten Migrationsproblematik verstärkt im europäischen Rahmen gesucht wird, wird man die Interessenlage der einzelnen europäischen Partnerländer und damit auch Frankreich nicht unberücksichtigt lassen können. Gewiß befürwortet Frankreich eine europäische Vereinheitlichung der Asylverfahren und der Anerkennungskriterien im Sinne der durch Schengen, Dublin und Maastricht in Gang gesetzten Dynamik. [Fn_23: Hierzu vgl. Jacqueline Costa-Lascoux, Vers une Europe des citoyens?, in: Logiques d'Etats et immigrations, hg. v. J. Costa-Lascoux u. Patrick Weil, Paris 1992, S. 281-293.]
Doch dürfte Frankreich schwerlich auf die Besonderheiten seiner Asyl-und Ausländerpolitik - nicht zuletzt unter dem Gesichtspunkt ihrer Wirkung als außenpolitisches Instrumentarium - zu verzichten bereit sein.

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Wenn für Deutschland die Bewältigung der seit der Wende von 1989 dramatisch gestiegenen Zuwanderung, besonders der Asylsuchenden aus Osteuropa im Vordergrund steht, ist Frankreich von der Problematik der Asylsuche nur wenig, und von einem Zustrom aus Osteuropa so gut wie gar nicht betroffen. Im Vordergrund steht dagegen für Frankreich die Bewältigung der gravierenden sozialen Probleme in den großstädtischen Ballungszentren und die Verhinderung der illegalen Zuwanderung. Aus französischer Sicht dominiert weiterhin die Süd-Nord-Dimension der internationalen Migrationsbewegung, insbesondere mit dem Blick auf die islamisch-nordafrikanische Region. Nicht nur der latente demographische Druck, sondern auch politische Erschütterungen könnten die Ursache für erhebliche zusätzliche Flucht- und Migrationsbewegungen aus dieser Richtung sein. Außerdem stellt sich das Problem der Nachbarschaft mit den südeuropäischen Anrainerstaaten, die in den letzten Jahren verstärkt von Auswanderungs- zu Einwanderungsländern, aber auch zu Transitländern für illegale Zuwanderung vorwiegend aus Nordafrika, z.T. auch aus der Türkei, geworden sind. Frankreich dürfte seine Anstrengungen im Rahmen internationaler Migrationspolitik auf diesen südeuropäisch-nordafrikanischen Raum konzentrieren. Sollte mit einer "europäischen Lösung" die Erwartung einer Lastenverteilung ("burden-sharing") verbunden sein, dürfte von französischer Seite keine Unterstützung zu erwarten sein, wie das Beispiel der Jugoslawien-bzw. Bosnien-Flüchtlinge zeigt.

Es gibt zweifellos eine Interessendivergenz zwischen Ost-West- und Süd-Nord-Orientierung, die den Weg zu einer europäischen Gemeinsamkeit in der Asyl- und Migrationspolitik hindernisreicher werden läßt, als es auf den ersten Blick erscheinen mag.


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