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TEILDOKUMENT:


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Han Entzinger
Einwanderung in den Niederlanden:
Vom Multikulturalismus zur Integration


1. Überblick über die niederländische Einwanderungsgeschichte

Die Niederlande kennen eine lange Geschichte von Ein- und Auswanderungen. Die geographische Lage, die Schiffahrtstradition, die Kolonialvergangenheit sowie die offenen Grenzen zu den Nachbarländern haben dazu beigetragen. Während der letzten Jahrhunderte haben sich Ein- und Auswanderung abgewechselt. Aufgenommen hat das Land vor allem viele Flüchtlinge, die aus religiösen Gründen verfolgt wurden. Andererseits ist ein Teil seiner Bevölkerung in die "Neue Welt" ausgewandert. Bekannt ist, daß im Jahre 1700 40 % der Amsterdamer Bevölkerung im Ausland geboren waren, im Vergleich zu 25 % heute. [Fn_1: Einen Überblick der alten und neuen Wanderungsgeschichte der Niederlanden bieten u.a.: Han Entzinger, "The Netherlands", in: Tomas Hammar (Ed.), European Immigration Policy, Cambridge 1985, S. 50/88. Jan Lucassen & Rinus Penninx, Nieuwkomers: Immgigranten en hun nakomelingen in Nederland 1550-1985, Amsterdam 1985. Social and Cultural Planning Office, "Ethnic Minorities", in: Social and Cultural Report 1986, Rijswijk 1986. Han Entzinger, P.J.J. Stijnen (red.). Ethnische minderheden in Nederland, Meppel/Heerlen 1990.]

Nur während der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts waren die Wanderungsbewegungen in beiden Richtungen relativ unbedeutend. Aufgrund dieser Tatsache meinen heute viele Niederländer, daß Ein- und Auswanderungen Ausnahmen und nicht die Regel sind. Nach dem Zweiten Weltkrieg haben sich die Wanderungsbewegungen wieder verstärkt. Die Unabhängigkeit Indonesiens, der wichtigsten Kolonie des Landes, im Jahre 1949 hat die Ausreise von etwa 250.000 -300.000 niederländischen Staatsbürgern gefördert; sie hatten überwiegend eine europäische oder eine euro-asiatische Herkunft. Die meisten von ihnen reisten in das "Mutterland", das sie aber noch nie gesehen hatten. In der selben Periode sind auch etwa 400.000 Niederländer in die klassischen Einwanderungsländer wie Kanada und Australien ausgewandert. Erst ab 1961 weisen die Niederlande

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ein positives Wanderungssaldo auf. Mit Ausnahme des Jahres 1967 hielt diese Entwicklung bis heute an.

Die 60er und 70er Jahre waren, wie im Westen Deutschlands, die Zeiten der Anwerbung ausländischer Arbeitnehmer aus den Mittelmeerstaaten. Weil die Anwerbung in den Niederlanden einige Jahre später begann als in Deutschland, wurden relativ wenige "Gastarbeiter" aus Südeuropa beschäftigt und relativ viele aus der Türkei und Marokko. Außerdem hat der Anteil der ausländischen Arbeitnehmer in den Niederlanden nie die Höhe wie in den Nachbarländern erreicht: Die Niederlande haben keine bedeutende Schwerindustrie und keinen Bergbau. Außerdem war aus demographischen Gründen lange Zeit das Wachstum der erwerbstätigen Bevölkerung auf lange Zeit höher als in anderen Ländern. Wie in den anderen westeuropäischen Staaten sind aber auch in den Niederlanden viele der ausländischen Arbeitnehmer geblieben und haben ihre Familien nachgeholt.

Diese Einwanderungsbewegung hat sich bis heute fortgesetzt. Manche Mitglieder der zweiten Generation suchen sich einen Partner oder eine Partnerin im Herkunftsland ihrer Eltern. Dieses Phänomen zeigt sich besonders unter den Türken und Marokkanern, die mit 230.000 bzw. 190.000 die größten Einwanderergemeinschaften bilden. 1991 haben sich etwa 22.000 Türken und Marokkaner in den Niederlanden niedergelassen. Die Rückwanderung in diese beiden Länder ist sehr gering. Wegen der Zunahme der Einbürgerungen steigt die Zahl der türkischen und marokkanischen Staatsbürger langsamer als die Zahl derjenigen, die eines der beiden Länder als Ursprungsland nennen, und die deshalb -nach niederländischem Jargon - eine türkische oder marokkanische ethnische Identität haben.

Eine dritte wichtige Einwanderungsbewegung der letzten Jahrzehnte in die Niederlande stammt aus der Karibik. Es gab früher bereits beschränkte Migrationsbewegungen zwischen den Niederlanden und ihren Kolonien in der Karibik, wie Surinam und den Niederländischen Antillen. In den letzten zwei Jahrzehnten sind aus Surinam, das bis zu seiner Unabhängigkeit 1975 ein Teil des Königreiches war, mehr als ein Drittel der Bevölkerung in die Niederlande ausgewandert. Momentan wohnen etwa 240.000 Personen surinamischer Herkunft in den Niederlanden; fast alle sind niederländische Staatsbürger. Außerdem wohnen in den Niederlanden noch etwa 80.000 Personen aus den Nieder-

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ländischen Antillen (Curacao und einigen kleineren Inseln) und Aruba. Diese zwei Kleinstaaten sind immer noch Teile des Königreiches und ihre Einwohner besitzen alle die niederländische Staatsangehörigkeit. Trotzdem werden die Antillianer in den Niederlanden offiziell als Einwanderer betrachtet.

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2. Heutige Entwicklungen

Nachdem die Zahl der Einwanderer Anfang der 80er Jahre stagnierte, ist sie im letzten Jahrzehnt allmählich wieder angestiegen. Ein wichtiger Unterschied zu den vorherigen Perioden ist die größere Vielfalt der Herkunftsländer der Einwanderer, obwohl ein Drittel immer noch aus drei Staaten stammt: der Türkei, Marokko und Surinam. Ein anderer wichtiger Unterschied ist darin zu sehen, daß nur ein relativ kleiner Anteil der neu Ankommenden eine Arbeitsstelle findet. Viele dieser Neueinwanderer sind Familienangehörige bereits länger in den Niederlanden lebender Immigranten. Sie sind nicht ausreichend qualifiziert für den niederländischen Arbeitsmarkt.

Eine Einwanderungsbewegung, deren Bedeutung stark zugenommen hat, ist die der Asylbewerber; in den letzten drei Jahren sind ca. 20.000 Asylbewerber pro Jahr eingereist. Dies sind sowohl absolut als auch im Verhältnis zur Zahl der Bevölkerung erheblich weniger als in Deutschland. Selbstverständlich sind die Niederlande auch Unterzeichner der Genfer Flüchtlingskonvention. Aber in der niederländischen Gesetzgebung gibt es kein Äquivalent zum Artikel 16 Grundgesetz. Deshalb können Asylsuchende schon an der Grenze zurückgewiesen werden, obwohl dies nicht sehr häufig geschieht. Nach den neuesten Regeln, die seit dem 1-April 1992 gelten, werden allerdings die "aussichtsreichen" sofort von den "aussichtsarmen" Asylbewerbem getrennt. Die letzteren werden in relativ geschlossenen Auffangzentren untergebracht und manchmal bereits nach einigen Wochen ausgewiesen, ohne die Möglichkeit zu haben, eine eventuelle Berufung in den Niederlanden abzuwarten. Die "Aussichtsreichen" werden zuerst zentral und dann nach kurzer Zeit dezentral in den Gemeinden untergebracht.

In den letzten Jahren hat der Anteil der anerkannten Asylbewerber ständig abgenommen bis auf nur 4 % im Jahre 1991. Die Verfahren dauern manchmal mehrere Jahre, obwohl die neuen Regelungen eine Beschleunigung beabsich-

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tigten. Etwa 10 % der Asylbewerber erhalten eine Aufenthaltsbewilligung. Zahlenmäßig viel bedeutender ist die neu geschaffene Kategorie der "Geduldeten"; dies sind Asylbewerber, deren Antrag auf Asyl nicht anerkannt wurde, die aber aus politischen Gründen auch nicht in das Herkunftsland ausgewiesen werden dürfen. Sie umfassen ca. 40 % aller Asylantragsteller.

Insgesamt wird also mehr als der Hälfte der Asylbewerber aus den verschiedensten Gründen ein längeres oder dauerhaftes Aufenthaltsrecht in den Niederlanden eingeräumt. Die anderen kehren zurück oder "verschwinden" in die Illegalität. Es ist den Asylbewerbern nicht gestattet zu arbeiten. Die "Geduldeten" dürfen sich aber allmählich integrieren: Im ersten Jahr nach Zuweisung des "Geduldeten-Status" dürfen sie Sprachunterricht nehmen, während des zweiten Jahres haben sie Anrecht auf eine Berufsausbildung, und im dritten Jahr dürfen sie arbeiten. Nach drei Jahren haben die "Geduldeten" das Recht auf eine normale Aufenthaltsbewilligung.

Abgelehnte Asylbewerber und andere illegale Einwanderer erfüllen eine nicht unwichtige Pufferfunktion in bestimmten Bereichen des Arbeitsmarktes, u.a. als ungelernte Saisonarbeiter in dem für die niederländische Wirtschaft sehr wichtigen Gartenbau. Die Zahl der illegalen Arbeitsmigranten wurden vor kurzem auf 50.000 bis 100.000 geschätzt. Im allgemeinen scheint es sich hier um eine stark fluktuierende Gruppe zu handeln, in der der Anteil der Osteuropäer zunimmt. Man könnte sagen, daß die Asylbewerber und die illegalen Einwanderer in den 90er Jahren die gleichen wirtschaftlichen Funktionen haben wie die angeworbenen "Gastarbeiter" der 60er Jahre.

Es gibt zudem eine langsame, aber stetige Zunahme der Einwanderung aus anderen Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft. Heute leben 175.000 Staatsbürger aus anderen EG-Ländern in den Niederlanden, eine relativ niedrige Zahl im Vergleich zu anderen Mitgliedstaaten. Die größten Gruppen sind die Deutschen (47.000) und die Briten (41.000). Allgemein handelt es sich hier um gut ausgebildete Arbeitskräfte. In der öffentlichen Meinung werden diese EG-Einwanderer, ebenso wie die aus anderen westlichen Ländern, positiver beurteilt als die anderen Einwanderergruppen. Ihre Soziallage und kulturellen Orientierungen ähneln denen der Niederländer.

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3. Einige Bemerkungen zur Terminologie

Diese letzte Bemerkung verweist schon auf bestimmte Definitionsfragen, auf die man bei der Analyse und bei internationalen Vergleichen von Wanderungen und ihrer sozialen und politischen Folgen stößt. In den Niederlanden werden die Eingewanderten nur selten als "Ausländer" oder als ausländische Mitbürger bezeichnet, so wie es in Deutschland meistens der Fall ist. Einer der Gründe dafür ist, daß nicht alle, die im soziologischen Sinne Einwanderer sind, eine ausländische Staatsbürgerschaft haben. Das Wort "Einwanderer", obwohl es in diesem Artikel öfter benutzt wird, kommt im niederländischen Vokabular nur selten vor, im Unterschied etwa zu Frankreich. Die meisten Eingewanderten in den Niederlanden werden als ethnische Minderheiten bezeichnet. Dieser Begriff spiegelt nicht nur die Minderheitenlage, in der sich viele Eingewanderte befinden, wider - zahlenmäßig sowie soziologisch -, sondern er betont auch, daß es sich hier um Gruppen unterschiedlicher ethnischer Herkunft handelt. In den Niederlanden bestimmt nicht die Staatsangehörigkeit die Lage der Eingewanderten, sondern vielmehr ihre Position in sozialer, wirtschaftlicher, kultureller und sogar religiöser Hinsicht.

Dies kann auch mit statistischen Daten illustriert werden. In den Niederlanden wohnen jetzt 750.000 ausländische Staatsbürger, dies sind 5 % der Gesamtbevölkerung von 15,1 Mio. Mehr als 1,3 Mio. der Einwohner, 8,7 % der Bevölkerung, sind aber im Ausland geboren und können allein aus diesem Grund als Einwanderer bezeichnet werden. Manche von ihnen sind ausländische Staatsbürger, andere stammen aus den ehemaligen Kolonien. Schließlich gilt für fast 2,5 Mio. Einwohner entweder, daß sie selbst im Ausland geboren wurden, oder daß das für mindestens ein Elternteil gilt. Dies bedeutet also, daß nahezu jeder sechste niederländische Einwohner seine ethnischen Wurzeln außerhalb der Niederlande hat. Als diese Zahl 1991 zum ersten Mal veröffentlicht wurde, waren viele Niederländer überrascht. [Fn_2: C.J.M. Prins, "Registertelling naar nationaliteit en geboorteland, 1 januari 1990". Maandstatis-tiek van de bevolking (CBS), 1991/1 (Januar).]

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4. Der multikulturelle Ansatz der "zeitweiligen Einwanderung"

Trotz einer erheblichen Einwanderung war während langer Jahre die Hauptaussage der offiziellen Regierungspolitik, daß die Niederlande kein Einwanderungsland sei. Als wichtigstes Argument galt dabei, daß das Land schon überbevölkert sei. Außerdem waren auch die meisten Einwanderer selbst davon überzeugt, daß sie wieder in ihre Herkunftsländer zurückkehren würden. Dies war allerdings das typische der Rotationspolitik, wie sie von mehreren westeuropäischen Staaten, wie z.B. Deutschland, den Niederlanden und der Schweiz, für die "Gastarbeiter" aus den Mittelmeerländern konzipiert war. Die Staatsbürger aus den ehemaligen Kolonien - mit Ausnahme der meisten, die aus Indonesien kamen - hatten ursprünglich die Absicht, nach Beendigung ihrer Ausbildung wieder in ihr Herkunftsland zurückzukehren. Ideologie und Wirklichkeit waren nicht identisch, aber es hat lange gedauert, bis die Bevölkerung und die Behörden dies verstanden haben. Auch die Migranten selbst haben die Rückkehrideologie lange aufrechterhalten; nur eine Minderheit kehrte auch tatsächlich zurück.

Obwohl sich die Niederlande in dieser Periode nicht als ein Einwanderungsland betrachtet hat, wurde eine Sozialpolitik betrieben, die die Lebenssituation der zeitweiligen "Gäste" verbessern sollte. Die 60er und 70er Jahre waren in den Niederlanden die Jahre einer starken Expansion und Professionalisierung des Sozialversicherungssystems und der Sozialarbeit. Die Sozialarbeit, fast völlig vom Staat subventioniert, hat eine sehr wichtige Rolle bei der Aufnahme, Betreuung und Beratung der Eingewanderten gespielt. Der Grundgedanke der Sozialarbeiter war, die Regeln und Gewohnheiten der Kulturen der Ausländer zur Basis ihrer Arbeit zu machen. Dies würde die Rückkehr und die Wiedereingliederung in das Heimatland erleichtern. Aufgrund dieses Gedankens wurde 1974, als die Familienzusammenführung begann, in den Grundschulen auch der Muttersprachenunterricht für bestimmte Gruppen eingeführt.

Diese Bemühungen um die Bewahrung der Migrantenkulturen beruhen auf den Vorstellungen einer multikulturellen Gesellschaft, die übereinstimmt mit der niederländischen Tradition, der Trennung sozialer und religiöser Bereiche. Seit dem Ende des 19. Jahrhunderts kennen die Niederlande eine relativ strikte Trennung zwischen verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen, von denen die

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Katholiken, mehrere evangelische Strömungen und die Arbeiterbewegung die wichtigsten waren. Diese Gruppen verfügten über eigene Vereine, Gewerkschaften, politische Parteien, Schulen, Krankenhäuser, Wohnungsbaugenossenschaften, Wohlfahrtsverbände sowie Rundfunk- und Fernsehvereine. Innerhalb dieser Institutionen war man "unter sich". Nur im öffentlichen Bereich trafen sich die Führer der verschiedenen Gruppen. Weil keine dieser Gruppen über eine Mehrheit verfügte, waren sie aufeinander angewiesen, um in der Politik demokratisch legitimierte Mehrheitsentscheidungen erreichen zu können.

Um dieses spezifisch niederländische System zu beschreiben, bedient man sich meistens des Bildes eines klassischen griechischen Tempels, dessen Säulen zusammen das Dach stützen. Bei dieser Metapher steht das Dach für den öffentlichen Sektor, während die Säulen die unterschiedlichen kulturellen und religiösen Gemeinschaften darstellen ("Versäulung"). Obwohl dieses "Säulensystems" wegen der Säkularisierung und der Individualisierung seine Rigidität seit den 60er Jahren verloren hat, kann man heute noch die alten pluralistischen Strukturen in der niederländischen Gesellschaft entdecken. Der Niederländer ist gewohnt, in Kategorien der kulturellen Vielfalt zu denken und zu handeln, und er ist vertraut mit dem Phänomen der Minderheiten, die sich zusammensetzen, um einen Kompromiß zu erreichen, der allen unterschiedlichen Interessen einigermaßen entspricht. [Fn_3: Die klassische Studie des "Säulensystems" ist: Arend Lijphart, The Politics of Accomodation: Pluralism and Democracy in the Netherlands, Berkeley 1975.]
Vor dem Hintergrund dieser "Säulentradition" sollte man den niederländischen Ansatz der Einwanderung und ihrer sozialen Folgen interpretieren. Die meisten Niederländer, ebenso wie die Behörden, waren lange der Meinung, daß sich eine neue Säule - oder vielmehr einige neuere kleinere Säulen - zu der traditionell multikulturellen Landschaft des Landes hinzugefügt hätten. Hauptziel der offiziellen Politik wurde die Bewahrung der kulturellen Eigenart der zeitweilig Eingewanderten innerhalb ihrer eigenen, relativ geschlossenen Institutionen.

Gegen Ende der 70er Jahre wurde allmählich deutlich, daß ein erheblicher Teil der Eingewanderten nicht zurückkehren würde. Eine politische Debatte über eine erzwungene Rückkehr von Ausländern, auch bei längerer Arbeitslosigkeit, wurde bald beendet mit dem Argument, daß die ausländischen Arbeitnehmer zu der Entwicklung der niederländischen Wirtschaft soviel beigetragen haben, daß

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man ihnen "nicht ohne weiteres die Tür weisen" könne. Bei denjenigen, die aus den ehemaligen Kolonien stammten, schlössen ihre niederländische Staatsbürgerschaft sowie ein gewisses Schuldgefühl bei vielen Niederländern über die Kolonialvergangenheit jede unfreiwillige Rückkehr aus.

Während dieser Periode stiegen auch die Einwandererzahlen an, vor allem infolge der Familienzusammenführung. Im Alltagsleben wurden die Eingewanderten immer mehr sichtbar. In der selben Periode wurde ihre Arbeitsmarktsituation allmählich schlechter. Infolge einer wichtigen Umstrukturierung der Industrie stieg die Arbeitslosigkeit an, und zwar relativ stärker bei den Eingewanderten als bei der einheimischen Bevölkerung. Einige Terrorangriffe - einschließlich zweier Zugkaperungen, die u.a. von jungen Molukkem durchgeführt wurden - zwangen die Behörden, der Einwanderung und ihrer sozialen Folgen mehr Beachtung zu schenken. Im Jahre 1979 veröffentlichte der Wissenschaftliche Rat für die Regierungspolitik (WRR) - ein unabhängiges Beratungsgremium des niederländischen Ministerpräsidenten - ein Gutachten, in dem empfohlen wurde, die Fiktion eines zeitweiligen Aufenthalts der Ausländer aufzugeben und eine Eingliederungspolitik zu entwickeln. Ziel einer solchen Politik wäre die Förderung der Beteiligung der Eingewanderten am sozialen und ökonomischen Leben sowie die Weiterentwicklung der interethnischen Beziehungen. Der WRR meinte, daß die Prinzipien von Chancengleichheit und das Vermeiden von Diskriminierung die Grundlagen jeder Eingliederungspolitik sein müßten. In der Geschichte der Niederlande haben diese Prinzipien von Egalitarismus und Gleichberechtigung eine mindestens so wichtige Rolle gespielt wie das Aufrechterhalten des Multikulturalismus, obwohl es manchmal so aussieht, als ob sich diese beiden Ziele ausschließen. [Fn_4: Wetenschappelijke Raad voor het Regeringsbeleid (WRR), Etnische minderheden. Den Haag, Staatsuitgeverij, 1979 (auch in englischer Fassung: Ethnic Minorities).]

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5. Die Minderheitenpolitik

Der Bericht des WRR hat nicht nur eine Änderung im öffentlichen Denken, sondern auch in der offiziellen Politik eingeläutet. Im Jahre 1980 bekannte die Regierung offiziell, daß man nicht mehr mit der Rückkehr der großen Mehrheit der Eingewanderten rechnen dürfe. Zur selben Zeit wurde die Einwanderungs-

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politik restriktiver. Außerdem entschied sich die Regierung für eine koordinierte Politik für ethnische Minderheiten. In dieser Zeit wurde dieser Begriff zum ersten Mal benutzt, obwohl die offizielle "Minderheitenpolitik" erst 1983 anfing. Dem Innenminister wurde eine besondere Verantwortlichkeit für diese Politik übertragen, obgleich alle Minister in ihren eigenen Bereichen für deren Umsetzung zuständig blieben. [Fn_5: Ministerie van Binnenlandse Zaken, Minderhedennota, Den Haag, 1983.]

Es wird deutlich, daß nach der öffentlichen Terminologie der Begriff "Ethnische Minderheit" weder ein Synonym ist für Einwanderer noch für Ausländer. Die Minderheitenpolitik bezieht sich nach Ansicht der Regierung auf die eingewanderten Gruppen, "für deren Anwesenheit die Regierung eine spezielle Verantwortlichkeit fühlt (wegen der Kolonialvergangenheit oder weil sie von den Behörden angeworben wurden) und die sich in einer Minderheitenlage befinden" [Fn_6: Ministerie van Binenlandse Zaken, 1983, S. 12]
Die folgenden Gruppen werden in die Minderheitenpolitik einbezogen:

Surinamer, Antillianer und Arubaner, Molukker, Türken, Marokkaner, Italiener, Spanier, Portugiesen, Griechen, (ehemalige) Jugoslawen, Tunesier, Kapverdier, Zigeuner, anerkannte politische Flüchtlinge und Wohnwagenbewohner (eine einheimische halb-nomadische Gruppe, die schon längst Zielgruppe einer spezifischen Regierungspolitik war). Als diese Minderheitenpolitik 1980 entworfen wurde, umfaßten diese Gruppen insgesamt etwa 450.000 Menschen; inzwischen hat sich die Zahl verdoppelt.

Die Hauptmerkmale der Minderheitenpolitik decken sich nur z.T. mit den Empfehlungen des WRR. Die drei wichtigsten Elemente der Minderheitenpolitik sind

  1. Förderung der multikulturellen Gesellschaft und Emanzipierung der ethnischen Gemeinschaften;

  2. Förderung der rechtlichen Gleichstellung;

  3. Überwindung der Deprivation durch Verbesserung der wirtschaftlichen und sozialen Lage.

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Die Lage der ethnischen Minderheiten wurde also in sozialen, ökonomischen, juristischen und kulturellen Kategorien beschrieben. Die Verbesserungen sollten sich auf diese drei Ebenen beziehen, wobei die Förderung der ethnischen Gemeinschaft im Mittelpunkt stand. Die Eingewanderten und Ausländer, die nicht zu einer der erwähnten Gruppen gehörten, wurden nicht in die Minderheitenpolitik einbezogen, mit Ausnahme von bestimmten rechtlichen Verbesserungen, die für alle ausländischen Staatsbürger gültig waren.

5.1 Förderung der multikulturellen Gesellschaft

Das Konzept der "multikulturellen Gesellschaft" bezieht sich stärker auf Gruppen als auf Individuen. Die bisherige Politik, die die Bewahrung und Weiterentwicklung der Migrantenkulturen zu fördern versuchte, wurde fortgesetzt. So erfolgte z.B. eine Gesetzesänderung, um dem Muttersprachenunterricht in öffentlichen und privaten Schulen abzusichern.

Außerdem gestattet die niederländische Gesetzgebung die Gründung privater Schulen, unabhängig von der religiösen Richtung; sobald solche Schulen vom Staat anerkannt worden sind, werden sie auch mit öffentlichen Mitteln subventioniert. In den letzten fünf Jahren wurden etwa 20 islamische Schulen sowie einige Hindu-Schulen gegründet, deren Status ähnlich dem der katholischen und evangelischen Schulen ist. In jeder dieser Schulen, die nur die ersten acht Schuljahre umfassen, findet der Unterricht in niederländischer Sprache statt. Diese Schulen müssen den Unterricht entsprechend den von den Behörden vorgeschriebenen Richtlinien abhalten. Allerdings schickt nur eine kleine Minderheit der islamischen und hinduistischen Einwanderer ihre Kinder auf diese Schulen.

Eine andere Maßnahme in diesem Bereich ist die Gründung von Beratungsgremien für die wichtigsten ethnischen Minderheitengruppen. Solche Gremien gibt es auf nationaler Ebene beim Innenministerium, auf lokaler Ebene, insbesondere in den Städten mit einer hohen Konzentration ethnischer Minderheiten. Wie fast überall in Europa, findet man die höchste Einwandererkonzentration in den Großstädten. 45 % der ethnischen Minderheiten wohnen in den vier größten Städten (Amsterdam, Rotterdam, Den Haag und Utrecht) gegenüber nur 13 %

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der Gesamtbevölkerung. [Fn_7: Philip J. Minis, Migration, Minorities and Policy in the Netherlands: Recent Trends and Deve-lopments, SOPEMI Netherlands - 1991, Amsterdam, 1991, S. 29.]
Die Einwanderung ist vor allem ein städtisches Phänomen. Die Mitglieder dieser Beratungsgremien sind Delegierte der wichtigsten Minderheitenverbände und Organisationen. Die Behörden haben sich verpflichtet, sie zu jeder Maßnahme zu hören, die sie betrifft.

Im allgemeinen fördern die Behörden die Gründung von Verbänden ethnischer Minderheiten auf lokaler, regionaler und nationaler Ebene. Die Ziele solcher Verbände sind sehr unterschiedlich. Die Subventionierung strikt religiöser Aktivitäten ist gesetzlich untersagt. Allerdings finden bestimmte staatlich subventionierte Aktivitäten, wie z.B. Sprachkurse, in Moscheen statt.

5.2 Förderung der rechtlichen Gleichstellung

Das zweite Element der Minderheitenpolitik ist die Förderung der rechtlichen Gleichstellung von Ausländern. Hauptziel ist, den Mitbürgern mit ausländischer Staatsangehörigkeit nach einer gewissen Aufenthaltsfrist dieselben Rechte und dieselben Verpflichtungen wie den niederländischen Staatsbürgern zu gewähren.

In den 80er Jahren wurden in der Tat die Rechte der Einwanderer allmählich ausgebaut. Erstens wurden bestimmte Gesetze im kulturell-religiösen Bereich so geändert, daß heute auch nicht-christliche oder nicht-jüdische Riten berücksichtigt werden können (z. B. das Beerdigungsgesetz und das Schlachtgesetz). Im Bereich der zivilen und politischen Rechte ist besonders wichtig, daß es jetzt auch Ausländern gestattet ist, in den öffentlichen Dienst einzutreten, mit einigen wenigen Ausnahmen, wie z.B. die Armee und die Polizei.

Das bemerkenswerteste Beispiel ist die Bewilligung des aktiven und passiven Wahlrechts für Ausländer, die seit mindestens fünf Jahren in den Niederlanden wohnen. Das Wahlrecht beschränkt sich allerdings auf die kommunale Ebene und in einigen Großstädten auf die Bezirksebene. Die Beteiligung an den Provinz- und Nationalwahlen bleibt den niederländischen Staatsbürgern vorbehalten. In den Gemeindewahlen 1986 und 1990 wurden einige Dutzende von Ausländern in Gemeinderäte gewählt, insbesondere in den Großstädten und den

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Grenzgemeinden. Dort blieb die Wahlbeteiligung der Ausländer unter der Durchschnittsbeteiligung der Niederländer. Diejenigen Ausländer, die gewählt haben, haben ihre Stimme in überwiegendem Maße den großen, etablierten Parteien gegeben und nicht den Einwandererparteien.

Es ist bemerkenswert, daß in den letzten Jahren die Zahl der Einbürgerungen trotz dieser Politik der Erweiterung der Rechte für Ausländer stark gestiegen ist. Zu dieser Politik gehört allerdings auch der Kampf gegen Rassismus, Ausländerfeindlichkeit und Diskriminierung. 1991 erhielten 30.000 Ausländer die niederländische Staatsangehörigkeit. Dies sind 4 % der ausländischen Gesamtbevölkerung. [Fn_8: Der entsprechende Prozentsatz in der Bundesrepublik Deutschland liegt seit Jahren bei ca. 1 %.]
Ein wichtiges Einbürgerungsmotiv für viele Ausländer ist, daß der niederländische Reisepaß es ermöglicht, ohne weitere Komplikationen durch Europa zu reisen. Das Einbürgerungsverfahren ist relativ unkompliziert und nicht sehr teuer (höchstens ca. DM 400,-). Wichtigste Voraussetzung ist, daß man mindestens fünf Jahre in den Niederlanden gewohnt hat. Vor kurzem hat die Regierung auch noch die doppelte Staatsangehörigkeit zugelassen: Ausländer, die sich einbürgern lassen, werden bald ihre ursprüngliche Nationalität nicht mehr aufgeben müssen.

5.3 Verbesserung der wirtschaftlichen und sozialen Lage

Im dritten Bereich der Minderheitenpolitik, dem Kampf gegen soziale und ökonomische Deprivationen, sind die Erfolge erheblich geringer als in den zwei anderen. Hauptziel ist hier die Förderung der Beteiligung der Minderheiten an den wichtigsten gesellschaftlichen Bereichen und Institutionen bis zu einem Grad, der ihrem Anteil an der Gesamtbevölkerung entspricht. Eine solche Vorstellung spiegelt den typisch niederländischen Gedanken wider, daß Ethnizität, Kultur oder Religion die Beteiligungsmöglichkeiten am wirtschaftlichen und sozialen Leben nicht beeinflussen dürfen. Hier vereinigen sich das Multikulturalismus- und das Egalitarismusstreben.

In der Realität ist eine sehr differenzierte Entwicklung je nach Sektor oder Minderheitengruppe zu beobachten. Im Wohnungsbereich z.B. hat sich die Lage der meisten Eingewanderten im letzten Jahrzehnt stark verbessert. Heute ent-

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spricht die Wohnqualität der Minderheiten fast der der einheimischen Bevölkerung desselben sozial-ökonomischen Status. Diese Verbesserung wurde unterstützt durch das nicht diskriminierende Verteilungssystem für Sozialwohnungen, die die Mehrzahl der Wohnungen in den Großstädten bilden.

Im Bereich der Erziehung und der Arbeit ist die Situation weniger positiv. Obwohl die Schulerfolge der zweiten Generation erheblich besser sind als die der ersten, insbesondere für die Surinamer, die Antillianer und die Molukker, besteht eine große Kluft zwischen einheimischen und nicht-einheimischen Schülern. Mangelhafte Schulleistungen und nicht ausreichende Kenntnisse der niederländischen Sprache behindern ihren Zutritt zum Arbeitsmarkt; dazu kommt noch, daß viele dort diskriminiert werden. Im Arbeitsmarktbereich ist die Situation am ungünstigsten. Die Arbeitslosigkeit bei Türken und Marokkanern beträgt, je nach Berechnungsweise, zwischen 21 % und 26 % der erwerbstätigen Bevölkerung dieser zwei Minderheitengruppen. Bei den Surinamern und Antillianern liegen die entsprechenden Zahlen zwischen 17 % und 21 %; hingegen sind 7 % der einheimischen Bevölkerung arbeitslos. Die Arbeitslosenquote für Einheimische ist in den letzten Jahren gesunken, während die für Minderheiten, trotz vieler Anstrengungen, hoch geblieben ist. [Fn_9: Sociaal en Cultureel Planbureau, Sociale en culturele verkenningen 1992, Rijswijk, 1992, S. 66.]

Selbstverständlich erklärt sich diese Benachteiligung teilweise aus dem unterschiedlichen Ausbildungsniveau der verschiedenen Gruppen. Wenn Behörden Minderheiten und Mehrheiten vergleichen, werden häufig die unterschiedlichen Ausgangslagen dieser Gruppen vernachlässigt. [Fn_10: Dies wurde auch festgestellt von: Catherine Delcroix, "Politique d'integration locale aux Pays-Bas", in: Didier Lapeyronnie (Ed.), Les politiques locales d'integration des minorites immigrees en Europe et aux Etats-Unis, Paris 1991, S. 151-214.]
Aber selbst unter Berücksichtigung der unterschiedlichen Ausbildungsniveaus und sozial-ökonomischen Niveaus besteht immer noch ein deutlicher Unterschied in der Arbeitsbeteiligung. Mehr als 10 Jahre Minderheitenpolitik haben hier nicht zu einer Verbesserung geführt. Zum Teil ist dies aber auch eine Folge weiterer Einwanderungen, die das Angebot an unqualifizierten Arbeitskräften auf dem Arbeitsmarkt erhöhen. Man muß aber auch feststellen, daß einige Maßnahmen, wie beispielsweise die Verbesserung der Berufsausbildung für Minderheiten und

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eine intensivere Arbeitsvermittlung, nicht den gewünschten Erfolg hatten. [Fn_11: In den Niederlanden ist das Berufsausbildungssystem viel weniger entwickelt als in Deutschland, auch für Einheimische.]
Außerdem hat sich während dieser Periode während einer tiefgreifenden Umstrukturierung der Volkswirtschaft die Anzahl der Arbeitsplätze für Ungelernte verringert. Dadurch haben sich die Arbeitsmarktchancen für Minderheiten erheblich verschlechtert.

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6. Die Wende: Mehr Nachdruck auf Integration

Lange hat man in den Niederlanden die nachteiligen Effekte einer hohen Arbeitslosenquote von Minderheiten unterschätzt. Die Sozialversicherungen wurden als eine akzeptable Alternative betrachtet, um den Minderheiten den Lebensunterhalt zu gewährleisten. Wie in den 60er Jahren werden die Minderheiten auch heute noch vielfach in erster Linie als Objekte des Wohlfahrtsstaates betrachtet und nicht als Arbeitspotential. Man hat kaum daran gedacht, daß eine solche Haltung nicht nur paternalistisch ist, sondern auch einen Marginalisierungsprozeß in gewissen Minderheitenkreisen fördern kann. Es gibt viele, die immer noch kein Wort Niederländisch sprechen, selbst nach 20jährigem Aufenthalt, die keine Kontakte zu Niederländern haben, die sich in die eigene Gruppe zurückziehen, die wegen des Fehlens eines von der Berufstätigkeit auferlegten Tagesrhythmus nicht in der Lage sind, ihr Leben zu strukturieren, die manchmal angezogen werden vom Fundamentalismus oder von Kriminalität, und denen jede Möglichkeit fehlt, sich vertraut zu machen mit der Gesellschaft, in der sie wohnen und leben.

Ebenso hat die Gesellschaft nicht erkannt, welche Nachteile jedem Verteilungssystem von Gütern und Dienstleistungen inhärent sind. Im Schulsystem, auf dem Arbeitsmarkt, in den Institutionen, im sozialen und kulturellen Bereich werden diejenigen benachteiligt, die weniger vertraut sind mit den herrschenden Regeln. In der wissenschaftlichen Literatur wird dieses Phänomen als Diskriminierung bezeichnet. Man unterscheidet bewußte Diskriminierung, bei der die Benachteiligung bestimmter Individuen oder Gruppen ein intendiertes Ziel ist, von unbewußter Diskriminierung, bei der Benachteiligungen kein Ziel sind, sondern ein Effekt struktureller Verhältnisse.

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Im allgemeinen gestehen offizielle Instanzen nicht ein, daß es Diskriminierung gibt; dies ist in den Niederlanden genauso wie in anderen Ländern. Trotzdem hat man in der niederländischen Politik in letzter Zeit ein größeres Bewußtsein für solche Mechanismen entwickelt. Im Gegensatz zu Großbritannien ist der Kampf gegen Rassismus und Diskriminierung durch Gesetzgebung kein Hauptmerkmal der niederländischen Minderheitenpolitik. Selbstverständlich ist aber auch in den Niederlanden die Diskriminierung von Minderheiten gesetzlich untersagt.

Die vorgehende Analyse der Lage der Minderheiten basiert zum größten Teil auf dem zweiten Bericht über die Eingewanderten, der vom WRR 1989 - 10 Jahre nach dem ersten - vorgelegt wurde. [Fn_12: Wetenschappelijke Raad voor het Regeringsbeleid (WRR), Allochtonenbeleid, Den Haag, SDU, 1989. (Auch in englischer Kurzfassung: Immigrant Policy)]
In diesem zweiten Gutachten hat der Rat nicht nur darauf hingewiesen, daß die Anwesenheit der Eingewanderten dauerhaft sei, sondern auch, daß sich das Phänomen der Einwanderung verstetigt hat. Die Einwanderung in die westeuropäischen Staaten wird solange andauern, wie die Kluft zwischen Arm und Reich in der Welt existiert. Die Einwanderung wird noch gefördert durch die Anwesenheit großer Einwanderergemeinschaften in Europa. Nach Meinung des Rates hätte eine restriktive Einwanderungspolitik nur beschränkte Effekte.

Der Rat hat empfohlen, die wirtschaftliche und soziale Integration zum Schwerpunkt der Minderheitenpolitik zu machen, insbesondere in den Bereichen Arbeit, Erziehung und Berufsausbildung. Ein Land, das Einwanderer aufnimmt, sollte ihnen auch helfen, ihre Fähigkeiten weiterzuentwickeln, damit sie sich selbständig behaupten können, und nicht während ihres gesamten Lebens von öffentlicher Unterstützung abhängig sind. Um dieses Ziel zu erreichen, hat der WRR eine Vielzahl von Maßnahmen vorgeschlagen, so z.B. eine Ausweitung der Sprachkurse, eine "Empfangspolitik" für Neueingetroffene sowie eine Erweiterung des Niederländischunterrichtes in der Grundschule für in den Niederlanden geborene Kinder, die das Niederländisch nicht als Muttersprache haben. Auch hat der Rat bestimmte Formen von "positiver Aktion" im Arbeitsbereich vorgeschlagen, so z.B. ein Gesetz zur Förderung der Arbeitsmarktchancen von Minderheiten nach kanadischem Modell. "Positive Aktion" unterscheidet sich von "positiver Diskriminierung" dadurch, daß die Anforderungen an die Kan-

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didaten nicht gesenkt werden, sondern daß man sich nur besonders bemüht, Kandidaten aus Minderheitengruppen anzuwerben. Das vom WRR vorgeschlagene Arbeitsförderungsgesetz für Minderheiten würde die größeren Unternehmen verpflichten, einmal im Jahr bekanntzugeben, wieviele ihrer Angestellten einer ethnischen Minderheit angehören. Dies ermöglicht eine öffentliche Beurteilung der Anstrengungen von Arbeitgebern, diese Gruppen zu fördern. Das vorgeschlagene Gesetz sieht hierzu Quoten vor, wie es in den Vereinigten Staaten üblich war und in bestimmten Bereichen immer noch ist. Es ist nicht so rigide wie die US-amerikanische Gesetzgebung. Das niederländische Gesetz beabsichtigt aber nicht nur, die Unternehmen zu benennen, die nicht genügend Mitglieder ethnischer Minderheitengruppen einstellen. Ein weiteres, ebenso wichtiges Ziel ist es, die Arbeitgeber zu ermutigen, mehr Minderheitenangehörige anzuwerben, obwohl diese Gruppen manchmal schwierig mit den traditionellen Anwerbeverfahren zu erreichen sind. Schon in wenigen Jahren werden sich die Unternehmen, wegen der demographischen Entwicklung, insbesondere in den Großstädten, gezwungen sehen, ihr Personal aus diesen Kreisen zu rekrutieren. Die vorgeschlagene Gesetzgebung würde ihnen rechtzeitig die Konsequenzen dieses demographischen Wandels bewußt machen.

In den drei Jahren seit der Veröffentlichung des zweiten Berichtes des WRR haben sich in den Niederlanden die Einstellungen zu Einwanderungsfragen sowie der politische Ansatz ohne Zweifel verändert. [Fn_13: Nederlands Gesprek Centrum, "De toekomstkansen van allochtone jongeren", in: Ministerie van Binnenlandse Zaken, Maatschappelijk debat integratie. Den Haag, 1992, S. 15-76.]
Ein Teil der vorgeschlagenen Maßnahmen sind inzwischen in die Praxis umgesetzt worden, wenn auch nur als Experiment. Dem Parlament liegen z.Zt. noch zwei Gesetzentwürfe vor, die sich beide an dem kanadischen Modell orientieren. Der eine stammt von der Regierung, der andere, weitergehende von der Opposition.

Wenn man die oben beschriebenen drei Elemente der Minderheitenpolitik der 80er Jahre betrachtet, kann man heute eine Verschiebung hin zur Förderung der wirtschaftlichen und sozialen Integration feststellen. Im rechtlichen Bereich sind inzwischen fast alle vorgesehenen Änderungen durchgeführt worden. Es ist vor allem das multikulturelle Element der Minderheitenpolitik, dessen Bedeutung abgenommen hat. Die Subventionierung sozialer und kultureller Aktivitäten von

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und für Minderheiten ist allmählich verringert worden. Der Muttersprachenunterricht hat seine bevorzugte Position verloren, und die Gründung von Minderheiteninitiativen und -Organisationen wird jetzt, mehr als vorher, als eine Aufgabe der Betroffenen selbst gesehen.

Seit Herbst 1991 hat sich die politische Diskussion über die Einwanderung und die Zukunft der Minderheiten intensiviert. Die Debatte wurde von Herrn Fritz Bolkestein, dem parlamentarischen Fraktionsvorsitzenden der konservativ-liberalen Partei (VVD) provoziert. [Fn_14: F. Bolkestein, "Integratie van minderheden moet met lef worden aangepakt", De Volkskrant, 12. September 1991.]
In seinen Bemerkungen fehlte die sonst in öffentlichen Auseinandersetzungen übliche differenzierte Betrachtungsweise. Es ist aber nicht gerechtfertigt, hieraus zu schließen, daß sich die Diskussion in den Niederlanden heute in Richtung "Flaams Block", "Front National" oder "Republikaner" verschieben würde. Zwar kennen auch die Niederlande seit mehr als 10 Jahren eine ausländerfeindliche Partei, die Zentrumdemokraten. Sie besetzen aber nur einen von 150 Sitzen in der Zweiten Kammer des Parlaments und nur wenige Sitze in den Stadträten der größten Städte. Mit Ausnahme einiger weniger bedauerlicher Angriffe gegen Asylbewerberheime und islamische Institutionen hat es bisher in den Niederlanden keine gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen Minderheiten und Mehrheit oder zwischen Minderheiten und der Polizei gegeben.

Es muß jedoch festgehalten werden, daß heute Einwanderung und vor allem die Zukunft der Multi-Ethnizität in den Niederlanden zur Diskussion gestellt werden. Man hat konstatieren müssen, daß die Förderung der Rechtsgleichheit und der unterschiedlichen Kulturen die Marginalisierung größerer Minderheitengruppen im sozialen und ökonomischen Bereich nicht verhindern konnte. Der Wohlfahrtsstaat hat zwar geholfen, eine Gettoisierung der Minderheiten zu verhindern und Armut abzumildern, gleichzeitig bewirkte er aber eine stärkere Abhängigkeit und Isolierung. Bestimmte Gruppen der einheimischen Bevölkerung bewerteten die Förderung der kulturellen Eigenarten der Minderheiten auch als eine ungerechtfertigte Bevorzugung.

Heute wird in den Niederlanden, ebenso wie 1980, über eine Wende in der Eingliederungspolitik diskutiert. Das Minderheitenmodell scheint heute vom Inte-

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grationsmodell abgelöst zu werden. Ohne Zweifel wird auch in Zukunft die ethnische und religiöse Vielfalt im Rahmen der gesetzlichen Möglichkeiten akzeptiert werden. Aufgrund historischer Gegebenheiten, besteht in den Niederlanden in vielen Bereichen, wie z.B. Erziehung und Rundfunk, ein größerer Rechtspluralismus als in den meisten anderen europäischen Staaten. Deshalb ist zu vermuten, daß auch in Zukunft kulturelle Eigenarten anerkannt werden, für Einheimisch ebenso wie für Zugewanderte. Die Bewahrung der kulturellen Eigenarten wird jedoch in Zukunft nicht mehr als Aufgabe des Staates, sondern der ethnischen Gruppen selbst betrachtet. Der Titel eines Buches spiegelt m.E. die veränderte Diskussion der letzten Jahre wider: "Meinungen über eingewanderte Mitbürger: Integration oder Assimilation?" [Fn_15: Meningen over..., Medelanders: Integratie of assimilatie?, Weert, 1992.]
Offensichtlich steht heute der Pluralismus nicht mehr so im Mittelpunkt wie früher.

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7. Schlußfolgerungen

Wie unsere Analyse zeigte, sind drei Elemente der niederländischen Einwanderungspolitik hervorzuheben. Erstens hat man lange geglaubt, daß die Einwanderer nur kurzfristig in den Niederlanden bleiben würden. Erst 1980 nahm die offizielle Politik die veränderte Situation zur Kenntnis. Dies schließt selbstverständlich nicht aus, daß einzelne Rückwanderer durch spezielle Rückkehrförderungsprogramme unterstützt werden. Offiziell wird die Niederlande heute aber immer noch nicht als ein Einwanderungsland betrachtet, trotz eines Einwanderungssaldos von mehr als 60.000 Personen im Jahre 1991 und trotz einer stetig zunehmenden Zahl von Neueinwanderern. In dieser Hinsicht hat die niederländische Politik gewisse Gemeinsamkeiten mit der deutschen und der schweizerischen. [Fn_16: Fü r eine vergleichende Analyse der Einwandererpolitik in mehreren westeuropäischen Ländern, siehe u.a.: H. Entzinger, Het minderhedenbeleid, Amsterdam 1984. T. Hammar (Ed.) 1985; D. Schnapper, L'Europe des immgrés, Paris 1992.]

Zweitens hat die niederländische Politik den Instrumenten und Maßnahmen des Wohlfahrtsstaates eine große Bedeutung bei der Betreuung und Integration der Eingewanderten zugewiesen. Diese sollte die Chancengleichheit der Einwanderer fördern; dabei wurde die rechtliche Gleichstellung und die Integration der Einwanderer in die Volkswirtschaft vernachlässigt. In dieser Hinsicht ähnelt die

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niederländische Politik der der skandinavischen Staaten, die als Prototypen des Wohlfahrtsstaates betrachtet werden können. In den letzten Jahren ist jedoch eine restriktivere Sozialpolitik zu erkennen. Selbstverständlich werden diese Entwicklungen Eingewanderte und Einheimische gleichermaßen treffen.

Das dritte Merkmal der niederländischen Politik ist der Kulturpluralismus. Auf den ersten Blick sind hier gewisse Gemeinsamkeiten mit Großbritannien und Schweden zu erkennen. Die pluralistische Tradition ist in den Niederlanden aber noch stärker ausgeprägt als in diesen beiden Ländern. Nur vor diesem Hintergrund ist das niederländische Modell der "multikulturellen Gesellschaft" und des Verhältnisses von Mehrheit zu "ethnischen Minderheiten" zu verstehen. Aber auch hinsichtlich dieses Themas zeichnen sich gewisse neue Entwicklungen ab: Es wird zunehmend darauf hingewiesen, daß das Egalitätsprinzip und das Prinzip des Multikulturalismus manchmal widersprüchlich sein können. Es stellt sich schließlich noch die Frage, ob diese neuen Entwicklungen dazu führen, den Begriff der "ethnischen Minderheiten" aufzugeben. Diese Frage kann nicht eindeutig beantwortet werden. Auf der einen Seite ist es notwendig, daß eine Politik betrieben wird, die die kulturellen, juristischen und sprachlichen Eigenheiten der Einwanderer berücksichtigt. In der neuen "Empfangspolitik" für Einwanderer, die z.Zt. entwickelt wird, ist dies der Fall.

Auf der anderen Seite muß man aber auch feststellen, daß die Durchführung einer multikulturellen Politik um so schwerer wird, je weiter fortgeschritten der Eingliederungsprozeß ist. Es ist schwer zu verstehen, was ein Surinamer der dritten Generation mit einem Neueinwanderer aus Surinam gemeinsam hat. Die bisherige Politik leugnete diese Unterschiede. So erhält z.B. jede Schule für einen Schüler, der einer Minderheitengruppe angehört, eine bestimmte Summe, ohne daß hierbei individuelle oder gruppenspezifische Unterschiede beachtet werden. Eine solche Regelung ignoriert, daß sich die kulturellen Orientierungen von Einwanderern sehr schnell ändern können. Selbst wenn, wie es in den Niederlanden geschehen ist, die kulturellen Besonderheiten der einzelnen Gruppen gefördert werden, ist die dritte Einwanderergeneration hinsichtlich ihrer Einstellungen und Meinungen nicht mehr mit der ersten vergleichbar. Dies können wir auch aus der Einwanderungsgeschichte der Vereinigten Staaten lernen. Daß es immer schwieriger wird zu bestimmen, wer einer Minderheit angehört oder nicht, erkennt man auch daran, daß die Zahl der gemischten Ehen, ein klassisches Zeichen für Integration, stark gestiegen sind.

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Außerdem wurde nicht ausreichend berücksichtig, daß die Einwanderungsbevölkerung schon im Moment ihrer Einreise viel heterogener ist als die Einheimischen meinen. Bei den Behörden spürt man die Neigung, vor allem das zu betonen, was die Eingewanderten gemeinsam haben und was sie von der üblichen Bevölkerung unterscheidet: Den Einwandererstatus, die mangelnden Kenntnisse des neuen Landes, Sprachdefizite und auch die andere Religion. Die Einwanderer werden als homogene ethnische oder nationale Gruppe definiert, was dazu führt, daß sie gezwungen sind, politische, regionale oder andere Gegensätze zu leugnen. Es liegt auf der Hand, daß je länger der Einwanderungsprozeß dauert, desto größer sind die Unterschiede unter den Migranten. Vor allem die verschiedenen Einwanderergenerationen unterscheiden sich sehr stark. Für die zweite und dritte Generation hat z.B. das Herkunftsland der Eltern nur noch eine geringe Bedeutung. Für sie werden andere soziale Klassifizierungskriterien relevanter.

Es läßt sich heute noch nicht entscheiden, ob auch die Religion an Bedeutung verlieren wird. Für viele Mitglieder der zweiten Generation ersetzt heute die religiöse Zugehörigkeit vielfach die ethnische oder nationale Herkunft als Klassifizierungskriterium und als Organisationsprinzip. Bemerkenswert ist, daß in den Niederlanden, obwohl die Minderheiten nach ihrem Herkunftsland klassifiziert werden, der Islam wichtiger wird und als verbindendes Element von Minderheiteninitiativen an Bedeutung gewinnt.

Aber trotz dieser geschilderten Änderungen ist in der Politik davon auszugehen, daß im Vergleich zu anderen westeuropäischen Ländern die Niederlande auch in Zukunft ihrem Ruf, eine "multikulturelle Gesellschaft" zu sein, gerecht werden wird. Die offene Frage ist jedoch, ob die Förderung des Multikulturalismus das Hauptmerkmal der Politik bleiben kann und wird. Vermutlich wird der Begriff "ethnische Minderheit" an Bedeutung verlieren.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | September 2001

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