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[Seite der Druckausg.: 50]


Matthias Gabriel
Situation der Asylbewerber im Aufnahmelager
Halberstadt und Akzeptanzprobleme der deutschen Bevölkerung


Mir liegt sehr daran, Ursachen und Zusammenhänge, die zur Ablehnung von Ausländern führen, deutlich zu machen. Ohne diese Ursachenforschung können wir nichts Wirksames zur Überwindung von Ausländerfeindlichkeit tun.

Ich will zunächst einige Bemerkungen zu den unterschiedlichen Entwicklungen in Ost- und Westdeutschland voranstellen:

  • Im Westen Deutschlands gibt es hinsichtlich der Integration von Ausländern größere Fortschritte als bei uns. Diese Integration wurde gefördert durch die wirtschaftlichen und ideologischen Verhältnisse. Außerdem erfolgte sie über einen längeren Zeitraum. Trotz dieser günstigen Voraussetzungen gibt es jedoch auch im Westen Probleme zwischen Deutschen und Ausländern.

  • Die Entwicklung in der DDR war gekennzeichnet durch Abkapselung und Förderung von Intoleranz. Schon im Kindergarten spielten Begriffe wie "Klassenkampf" und "Freund/Feind" eine Rolle. In der Schule lernten Kinder marschieren und auch im Berufsleben war wieder die Rede vom "Klassenfeind". Dies führte zu einer sehr vereinfachenden Denkweise. Die schmalspurige Ideologie und Verschlossenheit des DDR-Systems wurde von außerhalb klar gesehen. Viel schwieriger zu beantworten ist offenbar die Frage, wie diese menschenverachtenden und erschreckenden Parolen der DDR überhaupt greifen konnten.

Ich will versuchen, aus persönlicher Sicht einige Antworten zu geben: Das System hatte keine ideologischen, geistig-kulturellen Grundlagen. Es versprach stattdessen, ebenso wie die West-Gesellschaft, die Befriedigung von Konsumbedürfnissen. Dieses Versprechen konnte - gemessen an wesentlichen Verhältnissen - nie eingelöst werden. Die Frage lautet: Wie konnte sich dieses System trotzdem halten? Ich denke, ein wichtiger Faktor war, daß grundsätzlich alle

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Konflikte nicht sachlich und rechtsstaatlich, sondern emotional ausgetragen wurden. "Querulanten", die von der Staatsauffassung abweichende Vorstellungen hatten, bekamen Schwierigkeiten. Die geringste Konsequenz war, daß eine Prämie ausfiel. Dies war für viele schon eine gravierende Benachteiligung. Angesichts der jahrzehntelangen Stagnation und Kleinkariertheit führte dies dazu, daß für relativ geringen Judaslohn der Verrat am Nachbarn möglich wurde.

Die Verunsachlichung und Emotionalisierung hat alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens in der DDR durchzogen und auch die zwischenmenschlichen Beziehungen geprägt, so daß es noch heute für viele schwer ist. Sachprobleme auch sachlich anzugehen. Hinzukommt, daß früher die Zuständigkeiten klarer waren. Heute gibt es viele Verwaltungsebenen - Kommune, Landkreis, Regierungsbezirk, Land, Bund, Vereine, Organisationen, die Firma usw. Die Entwirrung der Zuständigkeiten und die Versachlichung der Themen wird viele Jahre dauern. Leider gilt auch vielfach das Sprichwort "Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr". Alle politisch Verantwortlichen im Osten brauchen vor diesem Hintergrund sehr viel Geduld und "ein dickes Fell". Sie bekommen Prügel für vieles, das sie nicht zu verantworten haben.

Vielen Ostdeutschen ist noch nicht bewußt, daß Freiheit einerseits viele Möglichkeiten eröffnet, andererseits aber auch die Notwendigkeit beinhaltet, sich für die eigenen Interessen einzusetzen. Dies haben wir in der Vergangenheit nicht gelernt. Es gibt eine Vielfachbelastung der Ostdeutschen, die weit über der der Westdeutschen liegt. Ich möchte hier beispielhaft drei Bereiche herausstellen:

  1. Berufsleben
    Vielfach findet man sich in seinem alten Betrieb nicht mehr zurecht. Es gibt alte Seilschaften und/oder neue Geschäftsführer; auf jeden Fall ist alles im Fluß und in Bewegung. Sich hier zurechtzufinden ist sehr schwierig. Dies führt dazu, daß die meisten den Kopf allein mit Berufsproblemen voll haben. Vergessen dürfen wir auch nicht die Arbeitslosen, die eine schwere Last zu tragen haben.

  2. Familie und privater Bereich
    In der Schule ist alles neu. Die wirtschaftliche Führung eines Haushalts ist heute viel komplizierter als früher. Während es früher z.B. nur eine Versicherung gab, gibt es heute viele Alternativen.

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  3. Freizeitbereich
    Unabhängig davon, ob sich jemand sportlich oder politisch engagiert, es beginnt immer mit Satzungen und Formalitäten. Außerdem dauert es manchmal Monate, bis Interessierte die Probleme bewältigt haben und mit der Arbeit beginnen können; d.h. vor der Freude oder dem Spaß an den eigentlichen Aktivitäten steht zunächst die Kleinarbeit.

Die Euphorie nach der Grenzöffnung kann ich verstehen. Leider hat man sie nicht politisch sinnvoll genutzt. In den Wahlkämpfen 1990 hat man bei den Ostdeutschen den Glauben geweckt, daß "Wohlstand für alle" sehr schnell kommen würde. Im Westen hat man versäumt zu sagen, daß es sehr viel Geld kosten wird, den Osten an den Lebensstandard des Westens heranzuführen. Es fehlt eine Bestandsaufnahme zur Situation im Osten, und es gibt kein schlüssiges Programm, wie und in welchen Zeiträumen die Angleichung zwischen Ost und West verwirklicht werden kann und wie dies zu finanzieren ist.

Man hat angesichts dieser offenen, komplizierten und angespannten Situation zu früh Asylbewerber in die fünf neuen Bundesländer geschickt - ich unterstelle einfach -, um das Problem im Westen zu entkrampfen. Die neuen Bundesländer waren hierauf nicht ausreichend vorbereitet. Außerdem mangelt es in Ostdeutschland an einer Identifikation mit Deutschland. Ich befürworte bestimmt keine "Deutschtümelei" oder nationalistische Einstellungen. Aber nur Bürger, die sich mit ihrem Land, ihrer Heimat, ihrer Kommune identifizieren, sind in der Lage tolerant zu sein, ein offenes Ohr für die Probleme anderer Deutscher, Andersdenkender und von Fremden zu haben. Es ist bisher nicht gelungen, diese Offenheit zu erzeugen. Ich denke, auch im Westen ist eine Offenheit, die nötig wäre, um eine so große Zahl von Asylbewerbern aufzunehmen, bei vielen Menschen nicht vorhanden.

Wie sieht die Situation der Asylbewerber nun in Halberstadt aus?

Ich will mit einer Binsenweisheit beginnen. Es gibt nicht "den" oder "die" Ausländer. Jeder hat seine eigene Biographie und muß gesondert behandelt werden. In einer zentralen Anlaufstelle für Asylbewerber mit über 1.700 Asylbewerbern aus 30 bis 40 Ländern aus sehr unterschiedlichen Kulturkreisen ist dies aber nicht möglich und es entstehen zwangsläufig Spannungen. Es gibt schwere

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Auseinandersetzungen zwischen Asylbewerbern. Dies führte sogar dazu, daß ein Polizeiposten eingerichtet werden mußte, der die Konflikte eindämmen soll. In einer Zentralen Anlaufstelle, in der über 1.700 Menschen auf engstem Raum zusammenleben, ist dies aber ein hoffnungsloses Unterfangen.

Insgesamt ist die Akzeptanz der deutschen Bevölkerung gegenüber Asylbewerbern nicht sehr groß. Halberstadt unterscheidet sich hierin nicht von anderen Städten in den neuen Bundesländern. Selbst deutsche Anwohner der Zentralen Anlaufstelle, die früher am eigenen Leibe erfahren haben, was es heißt, fliehen zu müssen, sind den Asylbewerbern nicht wohlgesonnen. Das Verhältnis zu den vorher in den Kasernen wohnenden sowjetischen Soldaten war wesentlich besser. Einige der Gründe, weshalb die Akzeptanz der Bevölkerung so gering ist, habe ich oben bereits erwähnt. Außerdem bestehen erhebliche Informationsdefizite über die Zuständigkeiten der Behörden und die Lebenssituation der Asylbewerber. Erschwerend kommt hinzu, daß manche Verhaltensweisen der Asylbewerber den Anwohnern fremd sind und deshalb abgelehnt werden. Auch Gesetzesverstöße der Asylbewerber vergrößern die Abneigung vieler Deutscher.

Es gibt in Halberstadt aber auch eine Reihe von Initiativen, den Integrationsausschuß, aber auch z.B. das sozio-kulturelle Zentrum ZORA, in dem viele Jugendliche engagiert sind, die sich um die Integration der Ausländer bemühen. Diese sind vielfach Zielscheibe von Angriffen der rechten Szene, was die Spannungen in der Kommune noch verschärft.

Die Frage ist, was man gegen diese Entwicklung tun kann. Ich kann hier nur einige Denkanstöße und keine Lösungen geben. Wie ich bereits ausführte, sehe ich in der fehlenden "positiven" deutschen Identität der Bürger im Osten ein großes Problem. Dabei gilt es, einen Drahtseilakt zu wagen. Die schlimmen Fehler der Vergangenheit dürfen nicht verschwiegen werden. Das Dritte Reich ist ein Teil deutscher Geschichte, und zwar der furchtbarste. Aber das Wissen darum darf nicht in Resignation und Minderwertigkeitsgefühle umschlagen, sondern muß sich auswirken in positivem Schwung, so etwas nie wieder zuzulassen, eine positive Entwicklung zu bewirken und, so weit es möglich ist, auch auf andere Länder positiv auszustrahlen. Dabei ist der wichtigste Punkt, daß die Bürger mitziehen, daß sie vielleicht auch ein bißchen lernen. Aber man muß sie, wie das heute so schön heißt, motivieren, man darf sie nicht belehren, es muß von innen heraus kommen.

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Weiterhin ist es wichtig, nach Möglichkeiten zu suchen, wie Wanderungsbewegungen in Europa und in der Welt in Richtung Deutschland reduziert werden können. Nur so kann das Ziel, politisch Verfolgten in Deutschland Asyl zu gewähren, erhalten bleiben. Außerdem müssen Maßnahmen ergriffen werden, die die Politikverdrossenheit der Ostbürger abbauen helfen und die ihre Lebenssituation verbessern:

  • Recht und Gerechtigkeitsgefühl dürfen nicht soweit auseinanderfallen, wie es heute vielfach geschieht. Notwendig ist eine Aufarbeitung der DDR-Geschichte. Nicht nur die Mitläufer, sondern die Repräsentanten des DDR-Systems müssen zur Verantwortung gezogen werden.

  • Wir brauchen ein Recht auf Arbeit. Die Marktwirtschaft hat auch im Westen Arbeitslosigkeit nicht verhindern können. Der Staat muß Verantwortung übernehmen und die Arbeitslosigkeit auf ein erträgliches Maß reduzieren.

  • Jeder Bürger muß ein Recht auf angemessenen Wohnraum haben. Auch hier hat die Marktwirtschaft die Probleme nicht lösen können. Staatliche Hilfen müssen verstärkt werden.

  • Die Umweltbelastungen müssen deutlich reduziert werden.

  • Die Bürokratie muß dort, wo es möglich ist, abgebaut werden. Es gilt, sie bürgerfreundlich zu gestalten.

  • Gerade für den Osten ist es wichtig, daß Aus- und Weiterbildung mit Arbeit gleichgesetzt wird.

  • Hinsichtlich der Behandlung von Asylbewerbern halte ich Massenunterkünfte wie wir sie in Halberstadt haben, für nicht wünschenswert. In kleineren Einheiten wäre eine intensivere Betreuung der Asylbewerber möglich. Dies könnte auch die Akzeptanz in der deutschen Bevölkerung erhöhen.

© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | Juni 2001

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