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TEILDOKUMENT:



Hannes Gabriel
Flüchtlinge aus Osteuropa - Motive und Ursachen der Wanderungsbewegungen


[Seite der Druckausg.: 17]

Vielfältige Veränderungen prägen den europäischen Kontinent nach dem Ende des Ost-West-Konfliktes. Zu den gravierenden Erscheinungen zählt, daß Westeuropa erstmalig ernsthaft mit den Problemlagen Osteuropas [Fn 1: Der Begriff Osteuropa wird hier verwendet im Sinn des ehemaligen Ostblocks, der Zugehö rigkeit zum ehemaligen sowjetischen Machtbereich bzw. zu einem vergleichbaren politischen System.] konfrontiert ist. Zugleich sind mit den Ost-West-Mauern die Migrationsgrenzen der zurückliegenden Jahrzehnte gefallen, und mit der Liberalisierung sind die osteuropäischen nationalen Grenzen durchlässiger geworden. So wirken sich neue politische Bedingungen unmittelbar auf die Möglichkeit und den Willen zur Zuwanderung aus. Deutlich angewachsen ist die Zahl der Menschen, die aus politischen, wirtschaftlichen und aus kulturellen Gründen bereit sind, ihre Heimat zu verlassen. [Fn2: Trotz aller Problemlagen in Osteuropa darf nicht außer acht bleiben, daß sich 90 % aller Flüchtlingstragödien außerhalb Europas abspielen. Weltweit sind mehr als 15 Mio. Menschen auf der Flucht. Die wenigsten erreichen Europa.]

Dabei sind drei strukturelle Wandlungen deutlich auszumachen:

  1. In Europa sind Wanderungsbewegungen in Gang gekommen, wie sie seit den Flüchtlingstragödien zum Ausgang des letzten Wellkrieges unbekannt waren.

  2. Die Ost-West-Wanderung ist für Deutschland zur Haupttendenz der Zuwanderung geworden.

  3. Es vollzieht sich ein fundamentaler Wandel der Zuwanderung nach Nationalitäten und Herkunftsländern.

Wenige Tatsachen belegen diese Thesen. Im letzten Jahr haben 256.000 Zuwanderer in Deutschland einen Antrag auf Asyl gestellt. Die Zahl der Asylsuchenden hat sich seit Beginn der Transformationsprozesse in Osteuropa 1989

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mehr als verdoppelt. Über die Hälfte der Asylsuchenden kommen aus dem zerfallenen Jugoslawien sowie aus Rumänien, insgesamt zwei Drittel aus dem südosteuropäischen Raum. 1992 setzt sich diese Tendenz fort. Die Zuwanderung aus der ehemaligen Sowjetunion und aus Bulgarien nimmt zu. Aus Polen ist sie drastisch zurückgegangen. Kamen noch 1989 21 % der Asylsuchenden aus Polen, so ist dieser Anteil seither nahezu bedeutungslos geworden. Gleichsam unbedeutend ist die Zuwanderung aus der CSFR und Ungarn.

Die Zahl der Aussiedler, die 1991 nach Deutschland kamen, hat sich gegenüber dem Vorjahr zwar halbiert, jedoch ist der Anteil der Aussiedler aus dem ehemaligen sowjetischen Bereich stetig angewachsen. Von den nahezu 200.000 nach Deutschland gelangten Aussiedlern kamen 85 % aus der ehemaligen Sowjetunion. Der Anteil der Aussiedler aus Rumänien und aus Polen ist weiter rückläufig.

Um Motive und Ursachen der Zuwanderung aus Osteuropa zu erfassen, ist der Zustand der Transformationsprozesse in den postkommunistischen Staaten zu hinterfragen und ein Blick auf bisherige Ergebnisse bei der Liberalisierung der politischen und wirtschaftlichen Systeme zu werfen. Wenn auch ein Vergleich der zutiefst unterschiedlichen geschichtlichen, nationalen, wirtschaftlichen und vieler anderer Bedingungen dieser Staaten als eher problematisch angesehen werden muß, so spiegelt die Zuwanderung doch die Graduierung in den osteuropäischen Transformationsprozessen wider: Zuwanderung erfolgt kaum mehr aus jenen Ländern, in denen die Transformation vollzogen und unumkehrbar geworden ist. Der Anteil von Zuwanderern aus Polen, aus der CSFR, aus Ungarn ist ebenso unbedeutend wie der aus Kroatien oder Slowenien. Zuwanderer aus Osteuropa kommen aus jenen Ländern, in denen der Fortgang der Liberalisierung von gravierenden Instabilitäten und auffälligen Stagnationsmerkmalen gekennzeichnet ist. So kommen die Zuwanderer mehrheitlich aus solchen Schwellenländern wie den Bürgerkriegsgebieten des ehemaligen Jugoslawien, aus Rumänien und aus Bulgarien. Die momentane Ruhe um Albanien sollte noch nicht als Indiz für erfolgreiche Problembewältigung gesehen werden.

Offensichtlich sind Motive und Ursachen für die Zuwanderung aus Osteuropa mit verschiedenen Problemfeldern verbunden:

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  1. Der Zusammenbruch des Ostblocks vollzog sich implosionsartig. Ein ganzes System fiel in allerkürzester Zeit in sich zusammen. Diese Implosion erfolgte sowohl ohne signifikante Vorwarnung als auch ohne Erwartung einer Totalzerstörung. Zwar hatten größere Beben den Ostblock und einzelne seiner politischen Systeme immer wieder erschüttert - erinnert sei an die DDR (1953), an Ungarn (1956) an die Tschechoslowakei (1968) sowie an permanente Krisenzustände des kommunistischen Systems in Polen - jedoch vermochten Teilstabilisierungen unter sowjetischer Dominanz den totalen Zusammenbruch zu verhindern. Etwas völlig anderes zeichnete sich ausgangs der 80er Jahre ab. Die den Block zusammenhaltende und dominierende Weltmacht gab ihre Satelliten frei, löste das Korsett um ihr Bündnissystem und zerfiel selbst in ihre nationalen Bestandteile. Es hatte sich etwas einmaliges vollzogen. Nun ist die Auflösung einer Weltmacht zunächst nichts Originäres - an derlei Beispielen mangelt es in der Geschichte nicht -, die Besonderheit liegt offenbar in den schnellen Zeitabläufen, in denen sich der Zusammenbruch einer Weltmacht wie in einem Zeitraffer vollzog. Kaum jemand hat bislang wohl ernsthaft begriffen, was sich eigentlich vollzogen hat, ganz zu schweigen von den längerfristigen Konsequenzen dieser tiefen historischen Zäsur. Unwägbarkeiten für künftige Zuwanderungen sind allemal eingeschlossen.

    Festzustellen bleibt auch, daß beim Zusammenbruch der kommunistischen Systeme vorhandene Detailunterschiede zwischen den betroffenen Staaten keinerlei Rolle spielten. Die politischen und wirtschaftlichen Systeme sind zerfallen und verschwunden, gleich

    • ob diese Systeme von innen mit äußerer Flankierung (Rußland/Jugoslawien) oder von außen mit inneren Flankierung (Osteuropa 1944/45) entstanden waren,

    • ob es sich bereits um vorwiegend industrialisierte Staaten mit Elementen demokratischer Traditionen (Tschechoslowakei) oder um vorwiegend agrarisch-rückständige Staaten mit autoritären Strukturen (Rumänien/Bulgarien) handelte,

    • ob die Staaten durch ihre Mitgliedschaft im Comecon oder im Warschauer Vertrag fest in den Block eingebunden oder an diesem Bündnissystem nicht unmittelbar beteiligt waren (Jugoslawien/Albanien),

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    • ob eine weitgehende Uniformität mit dem sowjetischen Grundmodell vorlag oder auch eigenständige Elemente eingebracht wurden, wie sie sich im Selbstverwaltungsversuch in Jugoslawien oder in der außen- und militärpolitischen Sonderrolle Rumäniens seit Ende der 60er Jahre zeigten,

    • ob einzelne Parteiführer eher reformwillig (Kadar) oder zutiefst dogmatisch (Husak; Shiwkow) waren,

    • ob der Anstoß zur Beseitigung des Systems von Gruppierungen innerhalb der dominierenden Partei kam (Ungarn) oder durch breite Volksbewegungen initiiert worden war.

    Späteren Erklärungen wird auch das Phänomen vorbehalten bleiben, weshalb im Unterschied zu allen anderen Ostblockstaaten sich in Rumänien der Umsturz in so blutiger Auseinandersetzung (1.066 Tote/3.000 Verletzte) vollzog. Noch sehr vage sind die Deutungsmuster, ob sich mit der außen-, sicherheits- und militärpolitischen Sonderrolle Rumäniens die Securitate dem Zugriff durch den KGB weitgehend entzogen hatte und dadurch die Auseinandersetzung in der bekannten Art eskalierte. Die Art und Weise des Zusammenbruchs und insbesondere die äußerst knapp bemessenen Fristen haben vornehmlich in Rumänien als Migrationsdruck ihre Wirkung hinterlassen. Der Zusammenbruch des bisherigen Wertesystems geht mit weit verbreiteter Orientierungslosigkeit einher. Menschen sind des Wartens auf bescheidenen Wohlstand satt und mißtrauen weiteren Vertröstungen. Verschiedene Menschengruppen können sozio-kulturellen Identitäten durch den Wegfall der Ost-West-Mauern und die Beseitigung der für sie bislang undurchdringlichen Grenzen innerhalb des Ostblocks in freizügiger Weise entsprechen. Mit einer weitgehenden Abschottungspolitik hatten Ostblockländer ihre Nationalitäten- und Minderheitenprobleme unter Verschluß zu halten gesucht. So stellen heute die Roma den größten Anteil unter den aus Rumänien nach Deutschland kommenden Zuwanderern.

    Für die starke Zuwanderung aus postkommunistischen Staaten sollte folgender Tatbestand nicht unerwähnt bleiben: Der Übergang von Diktaturen zu parlamentarisch-demokratischen Systemen hat sich in der Geschichte vielfach vollzogen und wäre als solches nichts außerordentliches. Auch die jüngste Geschichte Spaniens oder Griechenlands erinnert an solche Trans-

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    formationsprozesse. Bei einem Vergleich zu den Umbrüchen in Osteuropa bleibt ein Aspekt häufig zu gering bewertet. Im Gegensatz zu Osteuropa hatten bislang derartige Transformationsprozesse im wesentlichen nur eine Aufgabe zu lösen: den Übergang zur parlamentarischen Demokratie. Zu dieser Aufgabe tritt in Osteuropa eine zweite, viel längerfristige und ungleich schwierigere hinzu: der Übergang von der Planwirtschaft zur Marktwirtschaft mit all seinen tiefen Strukturwandlungen und schmerzharten sozialen Abbrüchen.

  2. Die Volkswirtschaften postkommunistischer Staaten befinden sich derzeit in einem freien Fall. Planwirtschaftliche Strukturen sind weitgehend zerstört und marktwirtschaftliche erst im Entstehen begriffen. Begleitet wird dieses Interregnum von einer sozialen Talfahrt eines Teils der Bevölkerung. Nun kann überhaupt kein Zweifel daran bestehen, daß der marode Zustand dieser Volkswirtschaften zu den Erblasten des sozialistischen Staatsdirigismus gehört. Die Folgen einer jahrzehntelangen verfehlten Wirtschafts- und Strukturpolitik sind unübersehbar, und diese Konturen werden im Moment noch durch die notwendige Liberalisierung mit all ihren wirtschaftlichen und sozialen Konsequenzen schärfer. Zugleich wäre allein dieses Erklärungsmuster zu einfach, um auf mittel- und längerfristige Problemlagen und ihre Affinität zu Migrationsbewegungen aufmerksam zu machen. Bei der Größe und dem noch nicht überschaubaren zeitlichen Rahmen bei der Überwindung der wirtschaftlichen Rückständigkeit ist auf das tief in der Geschichte verwurzelte europäische West-Ost-Gefälle und die schon über Jahrhunderte andauernde Hinterhofrolle gerade jener Staaten und Regionen zu verweisen, aus denen die Hauptgruppe der Zuwanderer nach Deutschland kommt. Ins Gewicht fällt für den mehrheitlich trostlosen wirtschaftlichen Zustand, daß die Ostblockstaaten bis zu 70 % ihres Außenhandels untereinander abwickelten, diese Relation weggebrochen und kein Äquivalent verfügbar ist. Nicht unerwähnt darf die Erinnerung bleiben, daß die Hauptmacht des Ostblocks, die Sowjetunion, selbst der wirtschaftlich schwächste Faktor mit allen entwicklungsländertypischen Merkmalen ausgestattet war.

    Insofern ist der Übergang vom östlichen Totalitarismus zur westlichen Demokratie mit einem drastischen Rückgang wirtschaftlicher Entwicklung verbunden. Er betrug 1991 für den gesamten Ostblock 17 %. In Rumänien lag 1991 die Industrieproduktion um 20 % unter den Werten des Vorjahres,

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    das Bruttoinlandsprodukt verringerte sich um 10 % und der Export halbierte sich nahezu. Die Inflationsrate schnellte auf 353 %.

    Charakteristisch für den Schwebezustand der Volkswirtschaften - nicht mehr funktionierende Planwirtschaft und noch nicht durchgehend greifende Marktwirtschaft - ist die bislang relativ geringe Arbeitslosenquote. In Rumänien beträgt sie 5 % (in der CSFR 6,6 %, in der Slowakei jedoch 12 %, in Ungarn 9,3 %, in Bulgarien 11,7 % und in Polen 12 %). Soziale Erschütterungen sind bei Fortgang der Wirtschaftsreformen nicht auszuschließen, zumal die Arbeitslosigkeit bei diesen Quoten nicht zu halten sein wird. Auch wird in einer breiten Öffentlichkeit dieser Länder Demokratie mit Wohlstand identifiziert und eine entsprechende Erwartungshaltung genährt. Schon mehrt sich der Druck gegen die Wirtschaftspolitik verschiedener Regierungen, einige mußten vor diesem Druck bereits demissionieren. Die Konzepte zwischen Schocktherapie einerseits und sozial flankierendem gemäßigtem Tempo der Wirtschaftsreformen andererseits führt zu Erschütterungen und ist allemal gut für neuerlichen nationalistischen Sprengstoff. Der kann darüber hinaus noch zusätzlich angereichert werden, wenn in diesen Staaten die wirtschaftlichen Verteilungskämpfe zwischen entwickelteren und gnadenlos zurückgebliebenen Regionen einsetzen, etwa zwischen Siebenbürgen und dem Gebiet östlich des Karpatenbogens oder aber auch zwischen der Tscheche! und der Slowakei. Dies sind letztlich Faktoren, die Migrationstendenzen maßgeblich zu beeinflussen vermögen. Kaum überschaubar wie auch schwer prognostizierbar werden die nicht ausbleibenden Binnenwanderungen sein, wenn die gewaltigen, hypertrophierten Industriegiganten entflochten werden. Hier geht es ebenso um die Riesen der Petrochemie in Rumänien wie um die Waffenschmieden in der Slowakei und die Eisenhüttenkombinate in verschiedenen Ländern. In einigen Staaten wird sich die so entstehende Wanderung von Arbeitskräften zu einer internationalen Migration entwickeln, wenn an die ehemalige und jetzt zerfallene Sowjetunion, an das zerborstene Jugoslawien und an mögliche und immer wahrscheinlicher werdende Szenarien in der Tschechoslowakei gedacht wird.

  3. Wenn auch nach dem Umbruch der Demokratisierungsprozeß in den meisten Ländern schnell vorankam, so ist bei aller Differenziertheit eine funktionierende parlamentarische Demokratie erst im Rohbau entstanden. Dafür steht ein mehrheitlich sehr verworrenes und zerklüftetes Bild der Parteienland-

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    schaften in diesen Staaten. Es ist nur zu natürlich, daß sich die ursprüngliche, sehr spontane Kraft der Bürgerbewegungen aufgesplittert hat. Bestand doch ihr Konsens in der gemeinsamen Philosophie, wogegen man war und was man nicht mehr bereit war zu erdulden. Unterschiedliche politische Visionen nach dem Sturz der kommunistischen Systeme und die Wege, diese politikwirksam umzusetzen, förderten den Dissens und ließen die Bürgerbewegungen in ein äußerst breites Parteienspektrum aufgehen. So ist die Parteienlandschaft in den ehemaligen Ostblockstaaten zersplittert (mit bis zu über 100 Parteien in Rumänien) und weite Koalitionen sind für Regierungsmehrheiten erforderlich, die ihrerseits manchen Regierungen nur begrenzten Handlungsspielraum gewähren. Viel schneller sollte die Verfassungsgesetzgebung auf den Weg gebracht werden. Allerorts zeigt sich heute schleppendes Tempo. Viel ist von Politik- und Parteienverdrossenheit die Rede. Das Bild ist unterschiedlich. Die zu erwartende hohe Wahlbeteiligung bei den Parlamentswahlen in der Tschechoslowakei sollte noch nicht als Indiz für eine Trendwende auch in anderen Staaten angesehen werden. Dafür sind die Beweggründe für Teilnahme an Wahlen oder für deren Brüskierung durch die Gemengelage von nationalen und wirtschaftlichen Konzepten sowie von sozialen Faktoren zu unterschiedlich. Selbst bei dieser Differenzierung bleibt ein Aspekt von allgemeinem Gewicht für die Stabilität der neuen politischen Systeme: Der Sturz der alten Herrschaftssysteme durch machtvolle Volksbewegungen hat in den ehemaligen Ostblockstaaten übereinstimmend eine hohe Sensibilität im Umgang mit Politik und mit Politikern erzeugt. Der doktrinierte Zwangsverzicht auf jegliche parlamentarisch-demokratische Kontrolle in den zurückliegenden Jahrzehnten ist zudem Nährboden für das demokratische Empfinden, Politiker beim Wort zu nehmen und ihre Versprechungen einzuklagen, viel empfindlicher und unmittelbarer auf Divergenzen zwischen formuliertem Anspruch und politischem Alltag zu reagieren.

    Hinzu kommt der noch nicht bewältigte Elitenwechsel und die weitere Dekommunisierung der Gesellschaften. Die Frage ist letztlich, ob es den Gesellschaften gelingt, in annähernd zivilisierter Form der Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte und mit der Verantwortung des einzelnen zu entsprechen. Bislang zeigen sich eher konträre Bilder im Zugang zur jüngsten Vergangenheit. Regierungen werden erschüttert und drohen an dieser schweren Erblast zu scheitern (Polen). Die Beschlußlage zum

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    Umgang mit den Dossiers der Staatssicherheitsdienste ist in den einzelnen Ländern unterschiedlich. Werden sich die Gesellschaften mit jahrzehntelangem Verschluß dieser Unterlagen abfinden (Rumänien/Albanien)? Andererseits arbeitet die "Mutter aller Geheimdienste", der KGB, weiter. Welcher Kontrolle unterliegt er? Fraglich bleibt allemal, ob Ex-Spitzenkommunisten den Wählern ausreichend ihren Wandel zu Kapitänen auf parlamentarisch-demokratischen und marktwirtschaftlichen Kommandobrücken plausibel zu machen vermögen. Eskaliert die Entwicklung auch nur in einem dieser Länder in einen steuerlosen Zustand, könnten Zuwanderungsgründe politischen Couleurs eine Renaissance erfahren, die gerade überwunden geglaubt schienen.

  4. Der explodierende Nationalismus in Form des Bürgerkrieges im ehemaligen Jugoslawien ist die Hauptursache der gegenwärtigen Zuwanderung nach Deutschland. Offensichtlich geht mit den Transformationsprozessen in Osteuropa eine Renaissance des Denkens in nationalstaatlichen Kategorien einher. Die Rückkehr dieser Länder nach Europa vollzieht sich im Zeichen des Nationalismus. Nationalstaatliche Farben leuchten zunehmend kräftiger, und nationale Hymnen werden lauter gesungen. Unverkennbar nimmt die Konfliktbereitschaft zu. Bürgerkriege im ehemaligen Jugoslawien und in Teilen der zerfallenen Sowjetunion sind die Spitze des Eisberges. Die auseinanderbrechende Tschechoslowakei, Träume von einem rumänischen Großreich mit Moldawien und der Dobrudscha, die mazedonischen Begehrlichkeiten von Albanien, Bulgarien und Griechenland zeigen auf die komplizierte Gemengelage. Zu alledem leben hier Minderheiten aus den sie umgebenden Nachbarstaaten. Mit einfachen Erklärungsmustern ist diesem Phänomen nicht beizukommen. Dem Nationalismus liegt eine tief in der Geschichte begonnene und angesetzte, eine im Laufe der Geschichte angereicherte explosive Emulsion zugrunde. Für solche ungelösten Stoffe steht, daß

    • die osteuropäische Region stets die Schnittstelle zum asiatisch-islamischen Kulturkreis und das Begegnungsfeld von drei großen Religionen war,

    • sich die Nationenbildung in Osteuropa völlig anderes als in Westeuropa und zeitlich versetzt vollzog, erst mit dem Zerfall des Osmanischen und

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      des Habsburgischen Reiches einsetzte und dies zu einem Zeitpunkt, da westeuropäische Staaten bereits nationale Reifestufen durchlaufen hatten,

    • demokratische Strukturen nicht oder nur rudimentär vorhanden waren, die Zwischenkriegszeit eine Phase der abgebrochenen Demokratisierung war und autoritäre Bewegungen greifen konnten,

    • der Realsozialismus eine permanente Verdrängungspolitik unter der These vom Primat des "Sozialen" über das Nationale verfolgte,

    • die begonnenen wirtschaftlichen Verteilungskämpfe in einzelnen Ländern nationalistische Tendenzen befördern und längerfristige Verwerfungen zur Folge haben werden,

    • über die Hälfte aller Grenzen in Osteuropa erst im 20. Jahrhundert festgelegt wurden und nicht selten machtbegehrlichen Gelüsten von Großmächten geschuldet sind, vor deren Hintergrund heute Forderungen nach "gerechten Grenzvisionen" lauter artikuliert werden. Am Versailler System wird zunehmend gerüttelt, und Jalta wird immer energischer in Frage gestellt.

Allemal ist die europäische Region von Konfliktlagen gekennzeichnet mit hoher Affinität zu Fluchtursachen und Zuwanderungsmotiven. Wenn auch für die politische Zukunft der osteuropäischen Staaten die Festigung der demokratischen Systeme die erstrebenswerte Richtung wäre und dies der europäischen Stabilität zugute käme, so ist doch nicht auszuschließen, daß ein neuer Autoritarismus hier und da zeitweilig greift. Schnell aufstrebende Populisten könnten sich darauf berufen, weder für das überlieferte Chaos noch für die Beschwerlichkeiten der Transformation verantwortlich zu sein. Schnelle Versprechungen könnten von dem weit verbreiteten Glauben an die Kraft eines Mächtigen erhört werden. Wie auch das Pendel der Entwicklung ausschlagen wird, bleibt eine Erkenntnis in der Überlegung, daß kurzfristig die Neigung zum Verlassen der Heimat in einigen dieser osteuropäischen Staaten nicht abnehmen wird. Erst gemeinsame Anstrengungen dieser Länder im Verbund mit den europäischen Industriestaaten werden die Ursachen einzudämmen vermögen, die Menschen drängen, in der Flucht eine Besserung ihrer Lebensbedingungen zu sehen.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | Juni 2001

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