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TEILDOKUMENT:
[Seite der Druckausg.: 103]
Aydin Sayilan
Der Begriff "multikulturelle Gesellschaft" (MKG) kennzeichnet in der aktuellen Diskussion zunächst nur eine Gesellschaftsform, deren Erscheinungsbild maßgeblich von den Migranten in der Bundesrepublik Deutschland mitbeeinflußt wird. Diese Erscheinungsform wird in den politischen Lagern unterschiedlich gewertet. Die MKG ist von ethnischer Vielfalt bestimmt und kann nicht automatisch Harmonie bedeuten, sondern sie verlangt die Veränderung von Verhaltensmustern, um Probleme im Zusammenleben der Menschen produktiv lösen zu können. Das kann nur bedeuten, daß eine Gesellschaft lernen muß, Konflikte auszuhalten und mit ihnen umzugehen. Eine Voraussetzung für ein friedliches Zusammenleben ist die Toleranz für die anderen Lebensweisen. Es darf in der MKG keine Hierarchisierung der unterschiedlichen Kulturen geben: Kulturen müssen gleichwertig betrachtet werden. Hinzu kommt, daß MKG auch Austausch, Mischung und damit gegenseitige Assimilation bedeutet. In diesem Prozeß soll die Schaffung eines Niederlassungsrechts erneut diskutiert werden. Die Einführung dieses neuen Rechts ist eine wesentliche Voraussetzung für die Schaffung einer MKG, damit die Mitglieder einer Gesellschaft auch rechtlich gleich behandelt werden. Und wie sieht die Realität in dieser Gesellschaft aus? Das neue Ausländergesetz, das seit Anfang dieses Jahres in Kraft ist, geht davon aus, daß diese Menschen "Gäste" auf Zeit sind. Das entspricht nicht der Realität in der hiesigen Gesellschaft. Es bringt Unruhe unter die ausländischen Minderheiten. [Seite der Druckausg.: 104] Der Ausländer - und das taucht immer wieder im Gespräch auf - hat ein Lebensgefühl, das viele so beschreiben: "Ich fühle mich unterlegen, ich bin abhängig von den Deutschen". Das liegt hauptsächlich an seinem sozialen, gesellschaftlichen und rechtlichen Status. Er hat keine Möglichkeit der politischen Mitwirkung. Die Entscheidungen, die ihn direkt betreffen, werden über seinen Kopf hinweg getroffen, wie z.B. der Meinungsbildungsprozeß über den neuen Ausländergesetzentwurf in letzter Zeit ohne Beteiligung der Ausländer stattgefunden hat. Damit zeigt sich deutlich, daß der Deutsche eigentlich in diesem Integrationsprozeß "oben" steht und der Ausländer "unten". Der Widerspruch der staatlichen Ausländerpolitik besteht darin, daß der Ausländer einerseits in die bundesrepublikanische Gesellschaft "integriert" werden soll, ihm andererseits jedoch nach wie vor die rechtliche, politische und soziale Gleichstellung vorenthalten wird. Dies bringt für die Menschen neue Probleme, wie z.B. Kulturschock, Orientierungslosigkeit bzw. Identitätsprobleme. Diese Probleme tauchen immer dann auf, wenn keine Beziehungen zwischen verschiedenen Norm- und Wertvorstellungen oder verschiedenen Lebensbereichen hergestellt werden und einzelne Personen in diesem Spannungsfeld keinen anerkannten Standort einnehmen können. Positive, kulturelle Auseinandersetzungen Wenn wir irgendwo im Alltag das Wort "Kultur" hören oder lesen, so ist damit oft die Gesamtheit von Kunst, Religion und Wissenschaft eines Volkes gemeint, nicht selten auch die Kunst allein. Wir sollten aber einen anderen Kulturbegriff verwenden, der nahezu alle Bereiche des Lebens in dieser Gesellschaft umfaßt. So wird es auch einfacher, die Veränderungen der Kulturen der Migranten und Deutschen zu verstehen. [Seite der Druckausg.: 105] Der Begriff Kultur umfaßt die Gesamtheit der geistigen, künstlerischen und sozialen Lebensäußerungen einer Gemeinschaft oder der ethnischen Volksgruppen in ihr. Unsere Welt ist und war immer in Bewegung. Täglich überschreiten Menschen ihre nationalen Grenzen. Kulturen begegnen sich im Nahbereich, die früher getrennt waren. Das bringt Spannungen, Herausforderung und Bereicherung. Kultur kann sich nur lebendig fortentwickeln, wenn sie herausgefordert wird. Sonst erstarrt sie zu reinen Formen und tradierter Lebensordnung. MKG ist nicht Assimilation, aber auch nicht nur Integration, sondern in jeder Hinsicht Gleichberechtigung. Unabdingbare Voraussetzung ist volle politische, soziale, rechtliche und kulturelle Partizipation aller Menschen an der multiethnischen Gesellschaft, und zwar ohne Benachteiligung einer bestimmten Volksgruppe. Thesen zur interkulturellen Jugendarbeit
Unsichtbare Wand - Erfahrungen im Haus der Jugend Das Haus der Jugend ist eine städtische Kultur- und Freizeiteinrichtung in Duisburg. Sie steht in einem Stadtviertel mit einem Ausländeranteil von 24 %. Als wichtiges Arbeitsfeld gibt es die sogenannte "Offene Schulkinderbetreuung". Von den 25 angemeldeten Kindern gehört ein Drittel einer anderen Nationalität an. Es sind türkische, italienische, griechische und jugoslawische Kinder. Ein Drittel der Kinder kommen als Aussiedler aus Polen und Ungarn. Nach dem Unterricht in der Schule kommen diese Kinder ins Haus der Jugend. Als erstes essen sie gemeinsam. Danach machen sie unter pädagogischer Aufsicht ihre Hausaufgaben. Sobald sie damit fertig sind, können sie nachmittags mit den Kindern aus dem Haus der offenen Tür ihre Freizeit sinnvoll gestalten. Durch die intensive Betreuung dieser Kinder und die enge Gemeinschaft gibt es bei der alltäglichen Arbeit überhaupt keine Probleme. Sie essen, lernen und spielen zusammen. [Seite der Druckausg.: 107] "Keiner da?", "Kimse yok mu?" sind übliche Fragen abends in der Offenen-Tür-Arbeit. Sie werden an die Mitarbeiter gestellt, auch wenn viele Jugendliche anderer Nationalitäten anwesend sind. Die jungen Menschen kennen sich seit Jahren. Sie sind in demselben Stadtviertel aufgewachsen, in dieselbe Schule gegangen. Sie kennen die intimsten familiären Verhältnisse. "Ist dein Vater aus dem Krankenhaus raus?" oder "Wann heiratet deine Schwester?" fragen sie sich gegenseitig, nachdem sie sich begrüßt haben. Ansonsten aber bleiben sie den ganzen Abend in ihrer Nationalitätengruppe und nehmen keinen Kontakt zu anderen auf. In der Jugend-Disco wird das Nebeneinander zwangsläufig durchbrochen. Die beiden Gruppen fallen sofort durch ihr unterschiedliches Verhalten auf. Die deutschen männlichen Jugendlichen stehen an der Theke und trinken Bier, während die ausländischen Jugendlichen - meistens türkische junge Männer -auf den Podesten sitzen und in der Regel Limonade trinken. Sie sind auch diejenigen, die mit den deutschen Mädchen tanzen und mit flapsigen Spaßen die Zeit totschlagen. Wenn große Musikveranstaltungen durchgeführt werden, sind die ausländischen Besucher abwesend. Sie kommen nur, wenn eine Veranstaltung ihnen etwas sagt, wie z.B. Türkei-Abend: Es wurden Dias aus der Türkei gezeigt und kommentiert. Anschließend konnte man türkische Musik hören und bei den Volkstänzen mitmachen. Der Saal war voll, und es herrschte gute Stimmung. Obwohl von der deutschen Mädchengruppe mitvorbereitet, hat kein einziger deutscher junger Mann, nicht einmal aus Neugier, reingeschaut, geschweige denn mitgefeiert. Nur als wir einen internationalen Abend veranstaltet hatten, wo neben Rock- und Country-Musik auch Bauchtanz angesagt war, klappte das Zusammenfeiern erstaunlich gut. Das weitgehende Nebeneinander im kulturellen Bereich spiegelt sich auch bei der Bildung von diversen Sportmannschaften wider. Es sind ausschließlich die deutschen Jugendlichen, die in der Tischtennismannschaft sind. Die Kickermannschaft besteht nur aus türkischen Jugendlichen. Nur in der Fußballmannschaft sind ein Drittel ausländischer Spieler, die sehr gut sind und diszipliniert spielen können und so von der Restmannschaft akzeptiert werden. [Seite der Druckausg.: 108] Wir haben im Haus der Jugend 16 Jugendverbände und -gruppen, die wir im Rahmen unserer Arbeit betreuen. Außer einer türkischen Musik-Band sind es deutsche Gruppierungen, in denen kaum ein ausländisches Mitglied auszumachen ist. Obwohl viele dieser Gruppen um den Nachwuchs bangen, machen sie keine Werbung bei den ausländischen Jugendlichen. Sie bleiben lieber unter sich. Gute Erfahrungen haben wir mit personell gut betreuten Gruppen gemacht, so z.B. mit den ABM-Gruppen, die im Rahmen des Projekts "Arbeiten und Lernen" bei uns tätig waren. Sie sind ein gutes Beispiel, wie eine gemeinsame Gruppenarbeit ohne Ausgrenzung funktioniert, wenn sie übersichtlich ist bzw. gut betreut und begleitet wird. Unsere pädagogischen Mittel gegen gesellschaftliche Entwicklungen Nach meinen Erfahrungen sollten in der Offenen-Tür-Arbeit drei Gruppen (Deutsche und Ausländer) voneinander unterschieden werden:
Die zur ersten Gruppe gehörenden Jugendlichen benötigen zur Stabilisierung ihrer Einstellung geschichtliche und gesellschaftspolitische Informationen. Sie sollen gegen rechtsextreme Tendenzen sensibilisiert werden, sich an Aktionen beteiligen, in Konflikten für diskriminierte bzw. ausländische Jugendliche Partei ergreifen. Die Arbeit mit der zweiten Gruppe soll darauf zielen, ihre Proteste, Ängste gegenüber ihren Lebensumständen ernstzunehmen, gemeinsam nach Lösungen zu [Seite der Druckausg.: 109] suchen, Informationen zu vermitteln, und sie ermutigen, sich mit Argumenten auseinanderzusetzen. Sie dürfen aber auf keinen Fall ausgegrenzt oder wegen ihrer latent fremdfeindlichen Haltung diskriminiert werden. Nur wenn man im Gespräch bleibt, hat man die Chance, die Ohren nicht ganz zu verschließen. Die Zielsetzungen einer Arbeit mit der dritten Gruppe liegen in den Bearbeitung und Reduzierung ihrer sozialen und psychischen Problemlagen und dem langfristigen Abbau ihrer antidemokratischen und rassistischen Einstellungen. Mit dieser Aufgabe sind wir in unserer Einrichtung überfordert. Formen der OT-Arbeit sollten jedes Engagement gegen Neofaschismus flankieren (z.B. im Zusammenhang mit Jugendarbeitslosigkeit, Ausländer- und Asylrecht, Aus- und Übersiedlern), sonst läuft ein Teil unserer pädagogischen Bemühungen ins Leere. Jedoch ist selbst unter besten Bedingungen nur sehr schwer auf gesellschaftliche und politische Entwicklungen Einfluß zu nehmen: Denn das Alltags- wie auch das Wahlverhalten junger Menschen ist nur ein Symptom für menschenfeindliche und -verachtende Tendenzen in dieser Gesellschaft. Einstellungen und Haltungen dieser Jugendlichen wachsen aus Erfahrungen, Informationen, Vorbildern und zur Verfügung stehenden Deutungsmustern. Bundesweite Auseinandersetzungen über "Scheinasylanten" und "Aussiedlerflut", die in der Wortwahl schon mit negativen Unterstellungen arbeiten und Vorurteile bzw. Ängste zu wecken versuchen, sind nicht nur durch pädagogische Arbeit allein zu bewältigen. Seit fünf Jahren existiert der Arbeitskreis "Jugend", in dem alle Schulen, einige Jugendzentren, Beratungsstellen der freien Träger, RAA und Arbeitsamt zusammenarbeiten. Diese Arbeit ist sehr wichtig, denn alle dieser Institutionen haben mehr oder weniger mit denselben Zielgruppen bzw. Problemen, wie z.B. Jugendarbeitslosigkeit und -kriminalität, zu tun. Im Kulturministerium NRW wurde Anfang 1988 ein Rahmenkonzept für ein Modellprogramm entwickelt, mit dem langen Titel "Gestaltung des Schullebens und Öffnung von Schule" kurz GÖS: eine wichtige Unterstützung und Bestätigung von "oben" für das, was "unten" schon wächst. [Seite der Druckausg.: 110] Die gemeinsamen Probleme können nur in gemeinsamen Aktionen und Maßnahmen in kleinen Schritten sinnvoll angegangen werden. Anders ist interkulturelle Jugendarbeit auf dem Weg zu einer multikulturellen Gesellschaft nicht zu schaffen. © Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | Juli 2001 |