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TEILDOKUMENT:

[Seite der Druckausg.: 33]


Heiko Körner
Wanderungsbewegungen und ihre Ursachen: Süd-Nord-Wanderung


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1. Zunehmende Bedeutung ethnischer Minoritäten

Nicht nur als Hintergrund für Schreckensfilme ist die Süd-Nord-Wanderung gut; sie beschäftigt unter dem Stichwort "Neue Armutsmigration" in zunehmendem Ausmaße Wissenschaft, Verwaltungen und politische Kongresse. Dies entbehrt nicht einem realen Hintergrund: Im Jahre 1988 belief sich allein die gesamte, aus den Maghrebstaaten stammende Wohnbevölkerung in den EG-Ländern auf 1,9 Mio. Personen und die der Türken auf rd. 2 Mio. Allein diese beiden Gruppen machten fast die Hälfte der Ausländerbevölkerung der 12 EG-Staaten aus. Ein vom französischen Demographen Chesnais zitiertes Szenario geht davon aus, daß gegenüber 1988, als sich etwa 7,5 Mio. Ausländer, die aus Entwicklungsländern stammen, in den EG-Ländern aufhielten, im Jahre 2025 maximal 65 Mio. solcher Ausländer dort leben werden (EG-Kommission: Europa und die Bevölkerungsentwicklung, Brüssel 1991). Man muß also damit rechnen, daß das Gewicht der ethnischen Minoritäten in Europa vergrößert wird, und dabei besonders jener, die aus den Randgebieten des östlichen und westlichen Mittelmeeres und aus Vorder- und Mittelasien stammen.

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2. Die Süd-Nord-Wanderung im Kontext der Gesamtmigration in die Bundesrepublik

2.1
In Tab. 1 (siehe S. 34/35) sind die Zahlen für die Wanderungen von Migranten und Asylbewerbern für die letzten acht Jahre (von 1989 an rückwärts gesehen), gruppiert nach typischen Länderkategorien für die Herkunft angegeben: Besonders interessieren hier als Herkunftsländer:

  • die industrialisierten Länder der EG (heute incl. Italien);
  • die Entsendeländer des östlichen Mittelmeeres;
  • die osteuropäischen Entsendeländer;

[Seite der Druckausg.: 34/35]



Tabelle 1:
Wanderungen der Ausländer und der Asylbewerber über die Grenzen des Bundesgebiets 1971, 1981 - 1989 (Pers.)


[Seite der Druckausg.: 36]

  • Afrika und speziell die nordafrikanischen Entsendeländer (Marokko, Ägypten);
  • Asien und als spezielles Entsendeland Iran.

Aus den in Tab. 1 aufgeführten Einwanderungszahlen (Bruttomigration) lassen sich folgende, für unser Thema wichtige Feststellungen ableiten:

  1. Die gesamten Zuzüge von Ausländern sind von 1981 bis 1983 merklich gesunken. Von da an bis 1989 hat sich die Zahl allerdings wieder von Jahr zu Jahr vergrößert. 1989 wanderten 30 % mehr Personen ein als 1981, allerdings immer noch ca. 25 weniger als 1971.

  2. An dieser Veränderung haben die Herkunftsländergruppen verschieden partizipiert: Manche weisen eine schwächere Entfaltung des Migrationsstroms auf, manche eine stärkere. Dies läßt sich am besten zeigen an den Verhältniszahlen der jeweiligen Jahreswerte für 1981 und 1989:
    • Die Industrieländer in der EG (incl. Italien) fielen als Herkunftsländer anteilig von 20 % auf 9 % der Gesamtmigration zurück.
    • Eher stagnierend ist der Anteil der Länder des östlichen Mittelmeeres mit Anteilen von 27 % (1981) bzw. 23 % (1989).
    • Explosiv hat sich hingegen der Anteil der osteuropäischen Länder entwickelt: Er stieg von 21 % (1981) auf 40 % (1989).
    • Die Anteile Afrikas und Asiens als Herkunftsregionen sind wiederum mit 4 % bzw. 10 % für beide Stichjahre etwa gleich geblieben, wenn sich hier auch der Anteil einzelner Entsendeländer innerhalb der Gesamtzahl verändert hat. So stieg z.B. der Anteil des Iran zwischen 1981 und 1989 von knapp 1 % auf 3 %. Der Anteil Marokkos, des einzigen Entsendelandes von einigem Gewicht in Afrika, stagnierte hingegen während der betrachteten Periode auf einer Größe von etwa 0,5 %.

In absoluten Zahlen bedeutet natürlich auch Stagnation der Verhältniszahlen eine Zunahme entsprechend dem Durchschnitt der Gesamtwanderung. Lediglich die Migration aus den Industrieländern der EG (und auch aus dem EFTA-Raum, vgl. Österreich) weisen einen absoluten Rückgang auf.

[Seite der Druckausg.: 37]

2.2 Wie sind diese Tatsachen zu erklären?

Die Gesamtmigration in die Bundesrepublik zwischen 1971 und 1989 läßt sich statistisch recht gut mit dem Sog der konjunkturellen Entwicklung im Inland erklären: Die zunächst abnehmende und seit 1982 wieder zunehmende Auslastung der Kapazität der verarbeitenden Industrie (vgl. Tab. 2, siehe S. 38) und - allerdings etwas schwächer - die Veränderung der Arbeitsmarktsituation besonders für die ausländischen Arbeitnehmer sind sehr verläßlich mit dem Wanderungssaldo (d.h. der Nettomigration) korreliert.

Offensichtlich haben die verschiedenen Herkunftsgebiete in unterschiedlicher Intensität auf den so beschriebenen Sog reagiert:

  • Die europäischen Industrieländer, zu denen seit spätestens Mitte der 80er Jahre auch Italien zählt, haben wegen einerseits schwacher Bevölkerungsdynamik und andererseits relativ guter Binnenwirtschaftslage ein abnehmendes Migrationspotential besonders der wenig Qualifizierten aufzuweisen. Die Migration, die stattfindet, ist heute überwiegend eine Migration der Qualifizierten, die weniger von der allgemeinen Arbeitsmarktlage als von der - in Europa immer noch sehr behinderten - Europäisierung des Dienstleistungssektors abhängt.
  • Die Länder des östlichen Mittelmeeres, insbesondere Jugoslawien und die Türkei weisen demgegenüber noch ein starkes Migrationspotential auf. Doch ist die Zuwanderung aus beiden Ländern wegen des im Prinzip fortbestehenden Anwerbestopps für Arbeitsmigranten (von spezifischen Ausnahmen abgesehen) eher als Familienmigration charakterisiert.
  • Die unterschiedliche Entfaltung der Migrationsströme aus den übrigen Ländergruppen kann unter sonst gleichen Sogbedingungen lediglich aus bestimmten kulturellen Affinitäten und der geographischen Nähe erklärt werden. Denn in puncto Armut und politischer Unsicherheit dürfen die asiatischen und die afrikanischen Länder den osteuropäischen Ländern in nichts nachstehen.
    So gesehen gibt es für die Bundesrepublik kein Südmigrationsproblem: Wenn zwischen 1981 und 1989 die Zuwanderung aus Polen, der Sowjetunion und der CSFR um etwa 200 % gestiegen ist, wirken die Zunahmen der Migration aus Afrika und Asien um 48 % bzw. 44 % im gleichen Zeitraum fast als Randerscheinung.

[Seite der Druckausg.: 38]



Tabelle 2
Entwicklung der ausländischen Wohnbevölkerung,
Beschäftigung und konjunkturelle Lage im Bundesgebiet 1971, 1981-1989


[Seite der Druckausg.: 39]

Daß solche Faktoren wie räumliche Nähe und kulturelle Affinität für die räumliche Struktur der Migrationsströme ausschlaggebend sind, belegen Vergleiche mit Frankreich und Italien:

In Frankreich ergeben sich 1989 als relative Anteile z.B. für Marokko 36 % der Gesamtmigration (BRD: 0,6 %) und für alle afrikanischen Herkunftsländer 70 % (BRD: 4 %); hingegen für die osteuropäischen Herkunftsländer 17 % (BRD: 40 %) (vgl. Lebon: Regard sur immigration ... Paris 1990). In Italien machten (Ende 1990) die aus Nordafrika stammende Ausländerbevölkerung 23 %; und aus dem übrigen Afrika stammende Bevölkerung weitere 12 % der gesamten Ausländerbevölkerung aus, diejenige aus Osteuropa aber nur 11 % (SOPEMI 1990).

2.3
Die im Vorstehenden kurz umrissenen Sachverhalte ändern sich auch nicht, wenn man die Zahlen der Asylbewerber und ihre Entwicklung im selben Betrachtungszeitraum mit einbezieht. Auch diese sind (wie Tab. 1 ausweist), im allgemeinen seit Mitte der 80er Jahre kräftig und stetig angestiegen. Jedoch macht die Anzahl der Asylbewerber besonders aus den osteuropäischen Ländern nur einen kleinen Teil der Zuwanderung von dort aus (Jugoslawien 1989: 31 %, Polen: 10 %, Türkei: 23 %). Anders sieht es bei den afrikanischen und asiatischen Herkunftsländern aus: die Zahl der Asylbewerber erreicht dort im Schnitt knapp 50 % aller regulären Zuzüge. Das läßt den Schluß zu, daß in der heute landläufigen Debatte die "Asylantenproblematik" weitaus übertrieben dargestellt wird. Wenn schon von einer "Ausländerproblematik" die Rede sein kann, dann ist es die generelle Problemstellung, die durch den wieder steigenden Zuzug von ausländischen Arbeitskräften und in ihren Familien bei gleichzeitiger Zunahme der Integrationsschwierigkeiten ausgelöst wird.

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3. Abschließende Thesen

  1. Die Bundesrepublik Deutschland ist faktisch ein Einwanderungsland. Offensichtlich soll die gegenwärtige Aufregung um die Asylfrage von dieser Tatsache und von der Notwendigkeit einer Formulierung einer adäquaten Migrationspolitik ablenken. Die Asyldiskussion muß deshalb aufhören, und die Arbeit an der Formulierung ei-

    [Seite der Druckausg.: 40]

    ner zeitgerechten Ausländer- und Migrationspolitik raschestmöglich beginnen.

  2. Auch wenn die Bundesrepublik gegenwärtig von der Süd-Nord-Migration im Vergleich mit anderen Ländern Europas nur eher marginal betroffen ist, sollte die neuformulierte Migrationspolitik auch diesen Migrationskomplex heute schon mit einbeziehen, einmal weil Deutschland sich spätestens ab 1993 nicht mehr vom gesamteuropäischen Arbeitsmarkt- und Migrationsgeschehen wird abkoppeln können, zum anderen, weil es auch ein Gebot der Solidarität innerhalb Europas ist, die besonders betroffenen südeuropäischen Aufnahmeländer migrationspolitisch zu unterstützen.

© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | August 2001

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