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Elmar Hönekopp
Ursachen und Perspektiven: Ost-West-Wanderungen


Ende Oktober 1991 fand in Berlin eine Konferenz der europäischen Justiz- und Innenminister statt, auch unter Einbeziehung der früheren europäischen RGW-Staaten. Wesentlicher Verhandlungsgegenstand waren die illegalen Einreisen aus Osteuropa. Dies war eine der vielen Konferenzen, die sich im Jahr 1991 mit dem Thema "Zuwanderungen aus Osteuropa" befaßt haben.

Auf der erwähnten Berliner Konferenz wurden auch wieder Zahlen zu künftigen Auswanderungen aus dem Osten genannt. So bezifferte der damalige sowjetische Innenminister Barannikow die Anzahl der Ausreisewilligen in der Sowjetunion auf 4-5 Millionen Menschen. Jährlich würden ab 1992 rund eine halbe Million Personen die Sowjetunion verlassen [Fn 1: Vgl. Neue Züricher Zeitung vom 2.11.1991].
Bisher schon gab es hierzu Prognosen in verschiedensten Größenordnungen: die Angaben allein zur Sowjetunion reichen von 2-40 Millionen Ausreisewilligen.

Daß wesentlich neue Entwicklungen in den internationalen Wanderungen zwischen Ost- und Westeuropa laufen, steht außer Frage. Diese Entwicklungen müssen aber im Gesamtrahmen des europäischen politischen Prozesses gesehen werden, um sowohl Ursachen als auch Perspektiven beurteilen zu können. Es sind vor allem zwei grundsätzliche Entwicklungen, die hierbei berücksichtigt werden müssen:

  1. Die Auflösung des früheren abgeschotteten Blocks in Osteuropa, verbunden mit ökonomischer und politischer Liberalisierung, aber auch mit der Zerstörung bzw. Auflösung überkommener staatlicher Systeme, v.a. in der Sowjetunion und in Jugoslawien.

  2. Die Intensivierung des westeuropäischen ökonomischen und politischen Integrationsprozesses. Beides wirkt sich mehr oder weniger unmittelbar auf die Migrationsprozesse aus: Es werden alte Wanderungsrestriktionen

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abgebaut und neue aufgebaut; einige Wanderungsursachen verlieren an Bedeutung, neue Ursachen und Anreize entstehen.

Der folgende Beitrag wird eingehen auf

  1. einige aktuelle Entwicklungen im Bereich der Wanderungen aus Osteuropa nach Deutschland,
  2. einige wesentliche Ursachen der Wanderungen aus Osteuropa und
  3. auf die Perspektiven in diesem Zusammenhang.

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1. Aktuelle Entwicklungen

Wanderungen aus Osteuropa haben für die Bundesrepublik Deutschland nicht erst in der jüngsten Vergangenheit und nicht erst im Zusammenhang mit den politischen und ökonomischen Umstrukturierungsprozessen in den osteuropäischen Ländern eine wichtige Rolle gespielt. Die Bedeutung dieses Faktums wird bei Analysen der Wanderungsentwicklung leicht übersehen. Ausgehend von den vorliegenden Daten soll dabei insbesondere deutlich gemacht werden, daß nicht nur die Wanderungen von Deutschen aus den osteuropäischen Staaten (also überwiegend Aussiedler), sondern auch die der Ausländer aus den gleichen Gebieten einen deutlichen Zuwanderungsüberschuß hatten.

Zusammengefaßt seien hier nur einige wenige Größenordnungen zu den Wanderungen von Deutschen und Ausländern aus Osteuropa dargestellt [Fn 2: Vgl. ausführlicher: Hönekopp, Elmar: Ost-West-Wanderungen: Ursachen und Entwicklungs tendenzen - Bundesrepublik Deutschland und Osterreich, in: Mitteilungen aus der Arbeits-markt- und Berufsforschung, Heft 1/1991]:

  1. Bei den Ausländern ergab sich in den vergangenen fünf Jahren (1985-89, aktuellere differenzierte Daten liegen noch nicht vor) ein Zuwanderungsüberschuß (für alle Ausländer) von ca. 920.000 (bei rund drei Millionen Zuzügen und zwei Millionen Fortzügen). Folgende Entwicklungsunterschiede sind dabei hinweisenswert:
    • für die "klassischen" Herkunftsländer (die früheren Anwerbestaaten) lag der Zuwanderungsüberschuß bei 180.000,

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    • bei den Wanderungen aus Osteuropa jedoch bei 413.000.
    • Daneben ist ein steigender Überschuß bei den Wanderungen aus den "neuen Südländern" (v .a. Afrikas und Asiens) zu beobachten.

    Interessant ist dabei, wie sich die Struktur der Zuwanderung nach Herkunftsländern im Verlaufe der Jahre verändert hat: Während die Zuwanderungen aus den früheren wichtigsten Anwerbeländern 1975 noch fast zwei Drittel der Gesamtzuwanderung von Ausländern ausmachten, ging deren Anteil bis 1989 kontinuierlich auf weniger als ein Drittel zurück. Umgekehrt erhöhte sich der entsprechende Anteil in diesem Zeitraum für Einwanderungen aus Osteuropa zum Teil sprunghaft von 8 % auf 44 %. Allein Polen waren an allen Zuwanderungen mit einem Drittel beteiligt.

    In diesen Zahlen sind auch die Asylbewerber enthalten. Ca. ein Viertel der Asylbewerber der letzten Jahre kamen dabei aus osteuropäischen Ländern, früher v.a. aus Polen, in der jüngsten Zeit vermehrt auch aus Bulgarien und Rumänien. In diesem Zusammenhang sei darauf hingewiesen, daß zwar Angaben über Neuzugänge von Asylbewerbern vorhanden sind, nicht jedoch dazu, inwieweit Asylbewerber z.B. nach der Ablehnung des Asylantrags wieder fortgezogen sind.

  2. Bei den Deutschen zeigt die Wanderungsbilanz ein Zuwanderungsplus über die letzten fünf Jahre von ca. 577.000 für Personen, die aus Osteuropa kamen. Diese reisten v.a. aus Polen ein, mit deutlichem Abstand auch aus der Sowjetunion und aus Rumänien. Hier handelte es sich fast ausschließlich um Aussiedler.

    Es sei angemerkt, daß das Gesamtzuwanderungsplus für die Deutschen deutlich niedriger liegt, da es eine Reihe von Ländern gibt, bei denen die Deutschen deutliche Abwanderungsüberschüsse zu verzeichnen haben, und das über lange Jahre hinweg. Es sind dies die EG-Länder, Amerika, Australien und Österreich.

Schon aus diesen wenigen Hinweisen wird ersichtlich, daß die Bedeutung der Zuwanderungen aus den osteuropäischen Ländern in die Bundesrepublik wesentlich zugenommen hat, von Deutschen wie auch von Ausländern. Neben den

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osteuropäischen Zuwanderungen sind allerdings auch diejenigen aus asiatischen und afrikanischen Ländern zunehmend wichtig geworden.

Insgesamt geht die Tendenz zur Einwanderung derzeit weiter nach oben: 1989 lag die Nettoeinwanderung in das damalige Gebiet der Bundesrepublik Deutschland bei über 900.000 (Deutsche und Ausländer, einschließlich Zuwanderungen aus der DDR), 1990 dürfte sie ca. 1,1 - 1,2 Millionen betragen haben, und für 1991 zeigen die bisher vorliegenden Daten eine weiter steigende Tendenz an.

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2. Ursachen der Ost-West-Wanderungen

Als ein erster wesentlicher Aspekt sind hier die politisch motivierten Wanderungen zu nennen, zu denen zumindest teilweise auch die Aussiedler-Wanderungen gerechnet werden müssen. Änderungen der politischen Systeme in den osteuropäischen Ländern lassen dabei zwar die allgemein-politischen Begründungen für das Verlassen des Heimatlandes tendenziell an Bedeutung verlieren. Andere politische Aspekte als Auslöser für neue Wanderungsbewegungen traten aber in den letzten Wochen und Monaten mehr und mehr in den Vordergrund: Besonders die interne Umstrukturierung bzw. die Auflösung der früheren Sowjetunion und die Verselbständigung ihrer einzelnen Republiken, insbesondere nach den August-Ereignissen und den Entscheidungen, die Ende des Jahres 1991 getroffen worden sind, lösen politische und ökonomische Prozesse aus, die den Wanderungsdruck erheblich verschärfen können.

Aufbrechende Minoritätenprobleme, Versuche, die ethnischen Zusammensetzungen der Republiken zu homogenisieren, auch die Verdrängung von Russen aus den verschiedensten Sowjetrepubliken, haben bereits neue Migrationsbewegungen in Gang gesetzt. Es handelt sich um umfangreiche interne Wanderungen. Aber diese Entwicklungen erhöhen auch den Druck zur Auswanderung in andere Staaten. So sind im Jahre 1990 vermutlich weit mehr als 400.000 Personen ausgereist. Ein größerer Teil hiervon waren Juden, Deutsche, Armenier und Griechen gewesen. Von den Auswanderern waren fast 70 % Erwerbstätige, ein Großteil Hochqualifizierte oder Facharbeiter. Ein Drittel war jünger als 18 Jahre. Der mit dieser Abwanderung verbundene Brain-Drain-Effekt könnte sich für die Zukunft sehr negativ auf die Entwicklung der früheren UdSSR

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auswirken, insbesondere auf die Entwicklung derjenigen Republiken, auf die sich die Auswanderung konzentriert.

Diese Hinweise auf die Situation in der Sowjetunion gelten jedoch auch für andere Länder Ost- und Südosteuropas. Homogenisierungstendenzen sind auch z.B. in Polen beobachtbar (betreffend Ukrainer in Nordwest- und Südostpolen), in Bulgarien (betreffend Türken in Südbulgarien), in Rumänien (betreffend Deutsche und Ungarn), in der CSFR (Verhältnis von Tschechen und Slowaken im Gesamtstaat) und - wie aktuell insbesondere beobachtet werden kann - in Jugoslawien.

Der zweite wichtige Ursachenkomplex für die Ost-West-Wanderungen betrifft die arbeitsmarkt- oder ökonomisch induzierten Wanderungen. Für die in der jüngsten Zeit verstärkt zunehmenden Abwanderungen aus Osteuropa und für die Erhöhung des Wanderungspotentials ist das Bevölkerungswachstum (und damit das Wachstum des Arbeitskräfteangebots) in Osteuropa keine ausreichende Erklärung. Die Bevölkerungsentwicklung ist in diesen Ländern durchaus nicht so hoch, daß hieraus ein großer Druck hätte entstehen können. Hierin unterscheidet sich die Charakterisierung des Wanderungsdruckes in den osteuropäischen Ländern wesentlich von derjenigen in Entwicklungsländern, also der Süd-Nord-Wanderung.

Dies gilt letztlich auch für das Gebiet der früheren UdSSR, obwohl hier das Bevölkerungswachstum in den einzelnen Republiken sehr unterschiedlich ist: In den europäischen Republiken wuchs die Bevölkerung im Schnitt der letzten zehn Jahre zwischen 0,4 % (Weißrußland) und 0,7 % (Rußland), in Kasachstan jedoch um 1,3 % oder in Usbekistan um 2,9 % [Fn 3: Vgl. Scheehy, Ann: Ethnic Muslim Account for Alf of Soviet population Increase, in: Report on the USSR, vol. 2 no. 3; January 19,1990].
Auch für die Zukunft ändert sich an dieser Aussage nichts. Die Ergebnisse der neuen Bevölkerungsprojektionen zeigen sehr deutlich, wo der große Bevölkerungsdruck entsteht:

nicht in West- oder Osteuropa, sondern v.a. in Afrika, Lateinamerika und in Teilgebieten von Asien [Fn 4: Vgl. United Nations: World Population Prospects 1990, New York 1991].

Entscheidende Gründe für die Ost-West-Wanderungen sind demnach:

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  1. die systembedingten Arbeitsmarktprobleme in den früheren RGW-Ländern und
  2. das enorme Wohlstandsgefälle zwischen West- und Osteuropa.

Hierauf sei im folgenden bei der Darstellung der Perspektiven der Wanderungen zwischen Ost und West näher eingegangen.

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3. Perspektiven für die Wanderungen zwischen Ost und West

Die bisherige systembedingte Arbeitskräfteknappheit in den meisten Staaten des RGW schlägt durch die ökonomischen Reformprozesse und die Einbindung in die internationale Arbeitsteilung in eine Tendenz rapider Zunahme von Arbeitslosigkeit um. Die faktische Unterbeschäftigung vieler Arbeitskräfte (labour hoarding) - oder auch versteckte Arbeitslosigkeit - wird offensichtlich; die Überbesetzung mit Personal in den administrativen Bereichen der Betriebe wird bereits abgebaut. Der Wettbewerb mit ausländischen, westlichen Anbietern wird zunächst zu Entlassungen führen; die Erhöhung der Arbeitsproduktivität durch notwendige technische/organisatorische Rationalisierungsmaßnahmen der Produktionsabläufe wird in den nächsten Jahren die Beschäftigung weiter reduzieren, da die gesamtwirtschaftliche Nachfrage kaum in dem erforderlichen Umfang steigen wird, um diese Effekte ausgleichen zu können. Begleitet wird dies sein von einer deutlichen Umstrukturierung der Produktions- und Beschäftigungsstrukturen.

Im Jahresdurchschnitt 1991 dürfte die Arbeitslosigkeit in den osteuropäischen Ländern bereits bei 10 % gelegen haben. So sind in Polen schon weit mehr als 1,5 Millionen Menschen als Arbeitslose registriert. Das bedeutet eine Arbeitslosenquote nicht weit von 10 %. In Bulgarien hat sich die registrierte Arbeitslosigkeit innerhalb der letzten zwölf Monate verzehnfacht, bei einer Arbeitslosenquote von jetzt acht Prozent. Dabei wird es aufgrund der notwendigen Strukturanpassungen in diesen Ländern nicht bleiben.

Zu welchen Ausmaßen diese Entwicklung führen kann, wird am Beispiel der Situation im neuen Ostteil Deutschlands derzeit deutlich vor Augen geführt. Jetzt sind dort über 1 Million Personen arbeitslos. Zusätzlich stehen 1,1 Millionen Arbeitskräfte in Kurzarbeit (davon über die Hälfte mit einem Arbeits-

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ausfall von 50 % und mehr), weitere fast 800.000 befinden sich in Arbeitsbeschaffungs- oder Weiterbildungsmaßnahmen. Eine Alternative zu den Umstrukturierungsprozessen gab es für die frühere DDR jedoch nicht, und wird es letztlich auch für die osteuropäischen Länder nicht geben.

Allerdings haben die osteuropäischen Länder bessere Chancen als sie für die ehemalige DDR gegeben waren, ihre wirtschaftliche Umstrukturierungspolitik außenwirtschaftlich abzusichern. Andererseits wiederum wird das für den wirtschaftlichen Umbau benötigte Investitionskapital nicht in dem gleichen Umfang wie bei der früheren DDR zur Verfügung stehen. Es geht hier letztlich um ganz andere Größenordnungen bei gleichzeitig ungünstigeren Standortbedingungen für notwendige Investitionen, als es in den neuen Ostländern Deutschlands gegeben ist. Um welche Größenordnungen es sich handelt und wie diese finanzierbar sind, hat eine kürzlich veröffentlichte Untersuchung zum Kapitalbedarf Osteuropas und der Sowjetunion aufgezeigt [Fn 5: Hierzu siehe ausführlich: Ochel, Wolfgang: Der Kapitalbedarf Osteuropas und der Sowjetunion, in: IFO-Schnelldienst Nr. 31/91].

Gleichzeitig wird das eigene Arbeitskräfteangebot in den westlichen Ländern zurückgehen. Aufgrund dieser Entwicklung wird in einem gewissen Umfang Nachfrage nach ausländischen Arbeitskräften entstehen. Wegen der Gleichgerichtetheit der Entwicklung der Bevölkerung und des Erwerbspersonenpotentials in Westeuropa wird diese Nachfrage in den westlichen Ländern kaum gedeckt werden können. Daher wird ein Sog auch auf Arbeitskräfte von außerhalb Westeuropas ausgeübt werden. Gleichzeitig aber wird die Konkurrenz um solche Arbeitsplätze in Zukunft eher größer. Schon jetzt drängen vermehrt Arbeitskräfte, z.B. aus den südlichen Mittelmeerländern oder aus Asien, in die EG.

Wir haben also auf der einen Seite - mindestens auf mittlere Sicht - von einem Arbeitsplatzmangel in Osteuropa auszugehen. Gleichzeitig werden wir im Westen zumindest partiell auf einen Arbeitskräftemangel zusteuern.

Ein weiterer wichtiger Aspekt für die Beurteilung der Perspektiven der Ost-West-Wanderung ist, daß die Einkommensdisparitäten sich mittelfristig zwischen Ost und West wohl eher vergrößern werden, wobei sie schon jetzt weit auseinander liegen. Das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf betrug 1987 im EG-

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Durchschnitt 13.328 US-$, im Durchschnitt der osteuropäischen Länder jedoch nur 3.403 US-$.

Damit verbunden sind so große Einkommensunterschiede, daß es sich für einen Beschäftigten aus Osteuropa lohnt, im Westen auch die einfachste Beschäftigung anzunehmen - sei es während des Urlaubs, während einer Beschäftigungspause oder auch für länger -, um in einem Monat so viel zu verdienen wie im Heimatland in einem halben oder ganzen Jahr.

Das enorme und weiter zunehmende Wohlstandsgefälle zwischen Ost und West wird somit auch in Zukunft starke Sog-Kraft auf potentielle Migranten in Osteuropa ausüben.

Und schließlich sind bisher die Systeme der sozialen Sicherung in den Ländern Osteuropas noch zu wenig ausgebaut, um z.B. Einkommensverluste bei Arbeitslosigkeit ausreichend abfedern zu können. Dies wird sich auf mittlere Sicht wegen der schwierigen Finanzierungsmöglichkeiten im Umstrukturierungsprozeß nicht wesentlich ändern können, auch wenn bereits in verschiedenen Ländern Arbeitslosenversicherungssysteme existieren.

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4. Zusammenfassung und Schlußfolgerungen

Die aufgezeigten Entwicklungen werden das ökonomisch begründete Wanderungspotential deutlich ansteigen lassen. Die Realisierungsversuche werden sich in erster Linie erst einmal auf die jeweiligen Nachbarstaaten richten. Dies wären neben Deutschland und Österreich auch Italien und Finnland, aber z.T. auch die früheren RGW-Staaten selbst. Auf längere Sicht werden aber auch die anderen westeuropäischen bzw. westlichen Industriestaaten von dieser Entwicklung berührt werden.

Größenordnungen des Wanderungspotentials oder gar zu erwartender tatsächlicher Wanderungen lassen sich derzeit wissenschaftlich fundiert nicht ableiten. Bisher publizierte Größenordnungen, auch die eingangs genannten Zahlen des früheren sowjetischen Innenministers Barannikow sind kaum etwas anderes als Spekulationen, z.T. von Meinungsbefragungen hergeleitet, deren Spannweite sehr weit auseinanderliegen. Zu unsicher sind die künftigen Rahmenbedingun-

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gen der politischen und ökonomischen Entwicklung in den osteuropäischen Ländern. Daß es sich bei den künftigen Wanderungen aber um relevante Größenordnungen handeln wird, steht aufgrund der dargelegten Fakten außer Frage. Wir werden dabei in Zukunft die verschiedensten Formen der Migration beobachten können:

  • Legale Migration und Beschäftigung in ihren verschiedensten Ausprägungen, z.B. im Zusammenhang mit den inzwischen abgeschlossenen Regierungsabkommen (betreffend Saisonarbeit, Grenzarbeit, Werkverträge, Gastarbeitnehmerbeschäftigung).
  • Illegale Migration und Beschäftigung, was schon heute eine nicht unbedeutende Rolle spielen dürfte.
  • Händlermigration - ein Phänomen, das in Westeuropa erst in den letzten zwei Jahren entstanden ist und dessen Bedeutung für die Entwicklung der betroffenen Staaten noch kaum abgeschätzt werden kann.
  • Dauerhafte und befristete Wanderungen, wobei man aufgrund der Erfahrungen aus der Anwerbe-Migration der sechziger und siebziger Jahre vor Illusionen hinsichtlich der Befristungsmöglichkeiten des Aufenthalts der aus Osteuropa neu Zuwandernden warnen sollte.

Insgesamt ist jedoch auch zu berücksichtigen, daß die allgemeinen Bedingungen für die Realisierung von Wanderungspotentialen z.B. im Verhältnis zwischen Rußland und Deutschland ganz andere sind, als sie zwischen der früheren DDR und der Bundesrepublik Deutschland galten. Dies betrifft vor allem die Bereiche Sprache, Kultur, Mentalität, historische Migrationsbeziehungen und räumliche Distanz.

Letztlich kann die Konsequenz aus allen Überlegungen nur sein, daß wegen des Ausbaues politischer und wirtschaftlicher Beziehungen in Europa und wegen der Entwicklungen des eigenen Erwerbspersonenpotentials wie auch der eigenen Bevölkerung insgesamt sich die westlichen Länder gegen Zuwanderungen aus dem Osten nicht völlig werden abschotten können oder wollen. Deswegen, aber auch aus grundsätzlichen Erwägungen heraus, wird ein Umdenken hinsichtlich einer kontrollierten Einwanderungspolitik nach nicht zu umgehen sein. An welchen Kriterien eine Einwanderungspolitik orientiert werden muß, wird sorgfältig diskutiert werden müssen.

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Wichtige Ergänzungsstrategien auf den verschiedensten Politikfeldern müssen aber gleichzeitig verfolgt werden, z.B. auf dem Feld der internationalen Zusammenarbeit. Die zentrale Frage ist hierbei, wie der ökonomische Druck zur Auswanderung wirksam reduziert werden kann. Es geht zwar um viele zu finanzierende Milliarden, aber auch um Qualifikationsanpassung und Mentalitätsveränderung. Erfreulicherweise scheint die Diskussion hierüber aufgrund der neuen Wanderungssituation endlich in Gang gekommen zu sein [Fn 6: Vgl. Böhning, W.R./Schäffer, P.V./Straubhaar, Th.: Migration Pressure: What is it? What can one do about it?, WEP Working Paper, ILO, Genf 1991].


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