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TEILDOKUMENT:


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Bernd Hof
Arbeitskräftebedarf der Wirtschaft, Arbeitsmarktchancen für Zuwanderer


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1. Gesamtwirtschaftlicher Hintergrund und Arbeitsmarktstrukturen

Der Rückblick auf die Arbeitsmarktlandschaft im seit 1984 laufenden Beschäftigungsaufschwung stellt erste Anhaltspunkte für die Beantwortung der Fragen zum Arbeitskräftebedarf der Wirtschaft und zu den Arbeitsmarktchancen für Zuwanderer zur Verfügung. Die Salden der Beschäftigungsbilanz 1983/91 geben über die aktuelle Einordnung hinaus auch Hinweise für arbeitsmarktorientierte Perspektiven künftiger Wanderungspolitik. Zunächst bleibt festzuhalten:

Die Beschäftigung nahm bis 1991 in einem Ausmaß zu, wie es Mitte der achtziger Jahre kaum jemand für möglich gehalten hätte. Die Zahl der Erwerbstätigen wird 1991 voraussichtlich um drei Millionen Personen höher liegen als 1983.

Diesem ausgeprägten Beschäftigungsimpuls steht auf der anderen Seite des Arbeitsmarktes nur ein vergleichsweise geringer Rückgang der registrierten Arbeitslosigkeit gegenüber. Mit rund 1,7 Millionen Arbeitslosen im Jahresdurchschnitt 1991 nahm der Bestand lediglich um 550.000 Personen ab. Dies hat mehrere Gründe.

Nach welchen Kriterien auch immer die nach der Stagnationsphase 1982/83 durchgeführte Beschäftigungs- und Arbeitsmarktpolitik bewertet wird, an der nachfolgend genannten Erkenntnis führt kein Weg vorbei. Bezogen auf den registrierten Arbeitslosenbestand hat sich eine Zweidrittel-Gesellschaft herausgebildet (Hof, 1991 a). Vom derzeitigen Arbeitslosigkeitsvolumen gehören bis zu 1,2 Millionen Personen zum Bereich der Arbeitsmarktpolitik. Das bedeutet, zwei von drei Arbeitslosen sind entweder mit nur einem oder gar mit allen der gewöhnlich genannten Risikofaktoren behaftet und damit

  • länger als ein Jahr arbeitslos,

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  • ohne Berufsausbildung,
  • älter als 55 Jahre,
  • gesundheitlich eingeschränkt.

Umgekehrt gehört das übrige Drittel des Arbeitslosenbestandes, die insgesamt 500.000 Arbeitslosen ohne die genannten Risikofaktoren, zum Verantwortungsbereich der übergeordneten Wirtschaftspolitik.

Aber diese Strukturalisierung des bundesdeutschen Arbeitsmarktes ist nicht nur das Ergebnis persönlicher Risikofaktoren. Langzeitarbeitslosigkeit hat offenkundig eine hohe regionale Komponente. Ihr Ausmaß läßt sich zu 80 Prozent durch die regionale Beschäftigungssituation erklären. Das bedeutet: Überall dort, wo die Beschäftigungsimpulse besonders ausgeprägt waren, hat sich Langzeitarbeitslosigkeit zurückgebildet. Umgekehrt ist Langzeitarbeitslosigkeit bei unterdurchschnittlicher Beschäftigungsdynamik hoch geblieben. Dafür stehen die eher mittelständisch geprägten Wirtschaftsräume Süddeutschlands auf der einen und die im Strukturwandel stehenden alten Montanregionen auf der anderen Seite.

Insgesamt gilt: Hat sich im Laufe der Zeit erst einmal ein immer größerer Block an Langzeitarbeitslosigkeit herausgebildet, ist es sehr schwer, davon wieder herunterzukommen. Dies läßt sich auch in anderen westlichen Industrieländern beobachten. In diesem Zusammenhang geht es nicht um politische Schuldzuweisungen, sondern um das nüchterne Ergebnis, daß ein großer Teil der zuvor quantifizierten Problemgruppe für eine unmittelbare Arbeitsmarktvermittlung kaum noch zur Verfügung steht, wahrscheinlich erst nach erfolgreichem Einsatz arbeitsmarktpolitischer Maßnahmen. Auf diesem Hintergrund scheint es verständlich, warum in den späten achtziger Jahren die registrierte Arbeitslosigkeit auf die überaus kräftigen konjunkturellen Beschäftigungsimpulse so zurückhaltend reagierte. Ein Zusammenhang zwischen der zunehmenden Arbeitsmarktverhärtung auf der einen und der Beschäftigung zugewanderter Arbeitskräfte auf der anderen Seite wäre danach nicht von der Hand zu weisen.

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2. Ausländerbeschäftigung

Zwischen den beiden Aggregaten "Beschäftigung" und "Arbeitslosigkeit" gab es trotz der Starrheiten eine Vielzahl von Einzelbewegungen. Sie stehen auch in Zusammenhang mit dem immer wieder vorhergesagten, aber dann doch nicht eingetretenen Rückgang des Arbeitskräfteangebots. Die längerfristigen Fehleinschätzungen lagen weniger auf den Feldern einer zuverlässigen Vorausschau von Veränderungen im Erwerbsverhalten, etwa des unentwegten Anstiegs der Frauenerwerbsquote oder des Trends zum vorzeitigen Rückzug aus dem Erwerbsleben. Die Fehlkalkulationen beruhten vielmehr auf der völlig falschen Einschätzung der tatsächlichen Zuwanderungsströme. Das ist kein Vorwurf an die Prognostiker, denn sie konnten die politischen Veränderungen Ende der achtziger/Anfang der neunziger Jahre nicht voraussehen und folglich auch nicht die daraus resultierenden Zuwanderungsströme in das Bundesgebiet, also vor allem die Zuwanderung von Aussiedlern aus Osteuropa und die Übersiedlungen von Ost- nach Westdeutschland (Schaubild l, siehe S. 10).

Aber es geht dabei nicht nur um diese deutsche Wanderungskomponente. Wir mußten auch zur Kenntnis nehmen, daß, anders als in den siebziger Jahren, im Verlauf der achtziger Jahre der Wanderungssaldo der Ausländer bereits bei geringen Beschäftigungszuwächsen aus dem negativen in den positiven Bereich wechselte. Aus all dem scheint eine erste Ergebnishypothese möglich. Ohne die Zuwanderung von insgesamt vier Millionen Personen im Zeitraum 1985/91 hätte sich der zuvor erwähnte Beschäftigungsanstieg in dieser Größenordnung kaum einstellen können. Der Rückgang des Arbeitskräfteangebotes im Inland wäre nicht kompensiert worden, der Zuwachs des Bruttoinlandsprodukts von jahresdurchschnittlich drei Prozent wäre geringer ausgefallen, es sei denn, verstärkter Kapitaleinsatz hätte über ein höheres Tempo der Arbeitsproduktivität einen Ausgleich geschaffen.

Legt man bezüglich der Ausländerbeschäftigung die Potentialrechnungen des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung zugrunde, dann ist zwischen 1985 und 1991 das ausländische Erwerbspersonenpotential um rund 500.000 gestiegen. Gleichzeitig nahm die Zahl der ausländischen Erwerbstätigen um 350.000 Personen zu. Die registrierte Arbeitslosigkeit der Ausländer hingegen nahm nur um 50.000 Personen ab. Folglich hat sich die stille Reserve des ausländischen Erwerbspersonenpotentials um 100.000 auf derzeit 500.000 Personen

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erhöht. Das Arbeitsplatzangebot für ausländische Arbeitnehmer konnte mit der Entwicklung des Erwerbspersonenangebotes folglich nicht Schritt halten. Das drückt sich in der Entwicklung der Arbeitslosenquote aus (Schaubild 2, siehe S. 12).

1980 lag die Quote der Ausländer nur geringfügig höher als die Arbeitslosenquote insgesamt. In den Folgejahren zeigt sich bei den Ausländern eine deutlich höhere Betroffenheit, und trotz des spürbaren Rückgangs nach 1988 bleibt der Abstand zur Gesamtquote beträchtlich.

Dennoch bleiben die aus der Entstehungsrechnung abgeleiteten Konsequenzen der Zuwanderung eindeutig positiv besetzt. Aber es hat in den vergangenen Jahren auch andere logische Verbindungen gegeben. Anfang der siebziger Jahre etwa wurde der bis zum Anwerbestopp mögliche Rückgriff der Personalbeschaffung auf die mediterranen Arbeitsmärkte als Produktivitätsbremse ausgelegt. Die Unternehmen hätten, da ihnen zusätzliches Personal praktisch ohne Begrenzung zur Verfügung stand, dringend notwendige Rationalisierungsinvestitionen unterlassen. Es ist sicher nicht von der Hand zu weisen, daß in den sechziger Jahren ohne den breiten Zustrom ausländischer Arbeitnehmer wahrscheinlich kapitalintensivere Produktionsmethoden gewählt worden wären. In Verlängerung bis hin zur ersten Hälfte der achtziger Jahre kann dies dann zusammen mit der Überalterung des Kapitalstocks durchaus auch ein Argument dafür sein, warum sich deutsche Unternehmen im weltwirtschaftlichen Strukturwandel zunächst eher schwer getan haben und andere Länder, etwa Japan, die Nase vom hatten.

Fest steht jedenfalls, daß auf der Angebotsseite des Arbeitsmarktes die Situation zu Beginn der neunziger Jahre ähnlich ist wie zu Beginn der sechziger Jahre. Damals wie heute schrumpft das deutsche Arbeitskräfteangebot. Dagegen ist von heute aus betrachtet kein Kraut gewachsen, auch wenn sich die deutsche Frauenerwerbsquote auf internationale Höchstmarken bewegt, etwa auf die der schwedischen oder der amerikanischen Frauen. Aber es gibt einen grundlegenden Strukturunterschied: Der Rückgang nach 1960 war keine Folge schwindender Nachwuchsjahrgänge, sondern verstärkter Abgänge am oberen Rand der Erwerbspyramide. Zu Beginn der neunziger Jahre ist es genau anders Das führt zu anderen Qualitäten, auf die noch einzugehen ist.

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3. Wachstumsperspektive und Arbeitsplatzbedarf

Zunächst soll auf dem Hintergrund dieser hier nur grob angerissenen demographischen Tendenzen die Frage nach den künftigen Wachstumsraten des Bruttoinlandsprodukts und damit nach dem Arbeitsplatzbedarf gestellt werden. Treten wir tatsächlich wieder in eine Wachstumsperiode ein, die mit derjenigen der sechziger Jahre vergleichbar ist? Das wären dann immerhin reichlich vier Prozent pro Jahr. Schließlich, wie entwickelt sich der Fortschritt der Arbeitsproduktivität? Münden wir in eine Phase weiterer Abflachung ein oder sind Produktivitätsimpulse erkennbar, die uns wieder jene Zuwachsraten bringen, die im Vollbeschäftigungszeitraum 1960/73 gemessen wurden. Wenn das so ist, dann resultiert aus der Kombination von gesamtwirtschaftlicher Wachstumsrate und gesamtwirtschaftlichem Produktivitätsfortschritt ein zusätzlicher Arbeitskräftebedarf von lediglich 0,1 Prozent pro Jahr. Abgesehen von der demographischen Komponente ließen sich daran gemessen also keine großartigen arbeitsmarktbedingten Zuwanderungsbewegungen prognostizieren. Die deutsche Wirtschaft könnte ihr Produktionswachstum mit nur geringfügig steigenden Erwerbstätigenzahlen erreichen.

Es stellen sich drei Fragen: Die eine richtet sich an die Höhe der künftigen Beschäftigungsschwelle. Wieviel Wachstum brauchen wir, um die Beschäftigungsentwicklung in den positiven Bereich zu heben, liegt sie höher oder liegt sie niedriger als in der Vergangenheit? Die zweite Frage richtet sich auf die Wachstumsspielräume und die dritte schließlich versucht herauszufinden, welchen Verlauf das inländische Arbeitskräfteangebot unter Status quo-Bedingungen bei ausgeglichenem Wanderungssaldo künftig nimmt. Aus der Kombination dieser drei Faktoren ließe sich dann eine schlüssige Antwort auf den ökonomisch begründbaren Teil der Zuwanderungen geben. Daraus wiederum leiten sich Rückschlüsse für die künftige Wanderungspolitik ab.

Im Verlauf der achtziger Jahre ist immer wieder die Befürchtung geäußert worden, bei dem im Vergleich zu früheren Perioden deutlich niedrigeren Produktivitätswachstum falle der Produktivitätsfortschritt so groß aus, daß mit keinem oder nur mit einem geringen Beschäftigungszuwachs zu rechnen sei. Wir wissen heute, daß diese Befürchtungen nicht eingetreten sind. Genährt wurden sie wohl durch die spürbaren Arbeitsmarktauswirkungen während der Stagnationsphase der achtziger Jahre und gestärkt durch die der Mikroelektronik zugedachten

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Produktivitätssprünge. All diese Befürchtungen waren unbegründet. Der Fortschritt der Arbeitsproduktivität ist keineswegs autonom verlaufen und im Trend auch nicht gestiegen, sondern gefallen (Hof, 1987). Der von der Produktionsentwicklung unabhängige Teil des Produktivitätsfortschritts hat im Laufe der Zeit an Bedeutung verloren. Dies hat dazu geführt, daß die gesamtwirtschaftliche Beschäftigungsschwelle von 3,8 Prozent im Zeitraum 1960/73 auf 1,7 Prozent im Zeitraum 1973/89 gesunken ist. Nach 1973 traten also immer dann positive Beschäftigungseffekte auf, wenn über mehrere Konjunkturzyklen hinweg die Produktion um mehr als 1,7 Prozent wuchs. Im Ergebnis bedeutet diese Schwellensenkung auch, daß das Wirtschaftswachstum zunehmend beschäftigungsintensiver wurde (Hof, 1991 b).

Zum einen hängt dieser für die Beschäftigungsentwicklung beruhigende Befund mit der bis weit in die achtziger Jahre hineinreichenden unbefriedigenden Investitionsentwicklung zusammen. Diese Investitionsschwäche liegt jetzt hinter uns. Dennoch wird sich das Ausmaß des künftigen Produktivitätsfortschritts in den Dienstleistungen entscheiden. Schon im Verlauf der achtziger Jahre ist der tertiäre Sektor spürbar vorangekommen, und dies ist ein Wirtschaftszweig, in dem zwar relativ hohe Produktivitätsniveaus gemessen werden, aber das Produktivitätstempo ist unterdurchschnittlich. Die Beschäftigungsexpansion im tertiären Sektor ist wahrscheinlich der Hauptgrund dafür, daß das gesamtwirtschaftliche Wachstum beschäftigungsintensiver wurde. Diese Expansion hält an. Insgesamt gesehen ist keine Tendenz zur autonomen Produktivitätsbeschleunigung erkennbar. Wahrscheinlich bleibt es bei anhaltend niedrigen Fortschrittsraten der Arbeitsproduktivität. Offenkundig erleben wir zeitverzögert, was in den Vereinigten Staaten schon Ende der siebziger Jahre gemessen und auch dort heftig diskutiert wurde: Die sogenannte Produktivitätsmalaise, aus der später das sogenannte Beschäftigungswunder resultierte, nämlich der kräftige Anstieg der Beschäftigung im gesamten Dienstleistungsspektrum. Bekannt ist, daß diese Beschäftigungsmehrung nicht nur auf weniger gut bezahlten Arbeitsplätzen realisiert wurde, sondern auch auf höher qualifizierten Tätigkeitsfeldern.

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4. Arbeitsmarktperspektiven in Ost- und Westdeutschland

Es ist nicht möglich, für die längerfristige Wachstums- und Produktivitätsentwicklung eine Punktprognose abzugeben. Ein solcher Ansatz würde eine Sicherheit vortäuschen, die gar nicht vorhanden ist. Aber anhand von Schwellenberechnungen für zurückliegende Zeiträume scheint es doch sicher zu sein, daß künftig die Zahl der Arbeitsplätze immer dann zunimmt, wenn das gesamtwirtschaftliche Produktionswachstum die Zwei-Prozent-Marke überschreitet. Dieser Beschäftigungsoptimismus wird vor allem aus den Expansionschancen des tertiären Sektors abgeleitet. Die Industrie in ihrer Gesamtheit wird wahrscheinlich keine großen Beschäftigungsimpulse auslösen. Das sind aus der Vergangenheit abgeleitete Sichtweisen für den westdeutschen Arbeitsmarkt.

Es bleibt die unsichere Erwartung bezüglich der weiteren Arbeitsmarktentwicklung in den neuen Bundesländern. Auch wenn sich dort mittlerweile in einigen Bereichen die Wende zum Positiven ankündigt, wird der Arbeitsmarkt längere Zeit noch unter Belastung stehen. Gemessen am Beschäftigungsrahmen vor der Wende wird voraussichtlich jeder dritte Arbeitsplatz wegfallen. Das bedeutet: Ohne die breit angelegten arbeitsmarktpolitischen Stützen beläuft sich in den neuen Bundesländern das Ausmaß der Unterbeschäftigung auf eine Größenordnung von drei Millionen Personen.

Auf dieses unterbeschäftigte Arbeitskräftepotential können folglich alle am gesamtdeutschen Arbeitsmarkt expandierenden Bereiche zurückgreifen, bevor sich etwa auf ausländischen Arbeitsmärkten ein zusätzlicher Arbeitskräftebedarf artikuliert. Wir wissen, daß die Mobilitätsbereitschaft in den neuen Bundesländern zumindest zur Zeit noch ausgeprägt ist. Die west- und die ostdeutschen Arbeitsmärkte wachsen immer enger zusammen und die Ausgleichsmechanismen ähneln dem Prinzip der kommunizierenden Röhren: Sei es, daß dieser Ausgleich durch Übersiedlung zustande kommt oder durch vorübergehendes Pendeln. Fragen wir also ganz einfach danach, wie sich der Arbeitsmarkt in Deutschland entwickeln wird, wenn nach Überwindung des Strukturbruchs 30 Millionen Arbeitsplätze in Westdeutschland und sieben Millionen Arbeitsplätze in Ostdeutschland tatsächlich zur Verfügung stehen (Hof, 1991 c). Kann dieser Arbeitskräftebedarf auf dem Binnenmarkt gedeckt werden oder sind wir auf Zuwanderung angewiesen?

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5. Längerfristige Perspektiven des Arbeitskräfteangebotes

Die Beantwortung dieser Frage verlangt eine Bevölkerungsvorausschätzung und im hier gesteckten Zeitraum vor allem eine Vorausschau des Arbeitskräfteangebotes. Dazu wurden speziell im deutsch-deutschen Zusammenhang mehrere Alternativrechnungen vorgelegt (Hof, 1990). Vom Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung stehen die Ergebnisse ähnlicher Berechnungen jetzt zur Publikation an. Danach gibt es nach meinen Erkenntnissen in den Tendenzaussagen keinen Dissens. Hier einige Ergebnisse eigener Alternativrechnungen.

5.1 Vier Wanderungsvarianten

Von Bedeutung ist zunächst der Status quo, eine Vorausschau also, die alle Stellvariablen so beläßt, wie sie im Auslauf der achtziger Jahre gemessen wurden. Das bedeutet zunächst: In Deutschland lebten 1990 knapp 80 Millionen Menschen. Nach neuesten Schätzungen gab es insgesamt 40,6 Millionen Erwerbspersonen. Von dieser Basis aus werden vier Modellvarianten vorgestellt (Schaubild 3, siehe S. 17).

Variante 1

In Deutschland geht bei Abschottung der Außengrenzen und unveränderter Erwerbsbeteiligung das Arbeitskräfteangebot bis zum Jahr 2000 um 1,8 Millionen zurück. Im Jahr 2020 liegt das Arbeitskräfteniveau bei 32,5 Millionen, acht Millionen niedriger als 1990. Insgesamt ist klar, daß eine solche Arbeitskräftelücke in Deutschland nicht entstehen wird. Wo aber sind die Ausgleichspotentiale zu suchen?

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Variante 2

Ab 1992 strömen bis 2017 pro Jahr 300.000 Zuwanderer in das Bundesgebiet. Das sind Aussiedler aus Osteuropa, Wanderungsbewegungen auf dem europäischen Binnenmarkt, nachziehende Familienangehörige von außerhalb sowie Migranten als Asylbewerber oder als Arbeitssuchende. Es leuchtet ein, daß sich diese Zusammensetzung mit zunehmendem Zeithorizont verändern wird. Aber alle Zuwanderergruppen weisen in etwa eine ähnliche Altersstruktur auf.

Ergebnis von Variante 2: Eine längerfristige Zuwanderungskomponente von etwa 300.000 Personen pro Jahr reicht aus, das derzeitige Arbeitskräfteniveau von knapp 41 Millionen bei unverändertem Erwerbsverhalten zu stabilisieren. Erst ab dem Jahr 2007 wäre eine höhere Zuwanderungskomponente notwendig, um dieses Ziel unter den genannten Bedingungen weiter zu verfolgen.

Variante 3

Unterstellt man im Zeitraum bis 2017 eine Zuwanderung von 400.000 Personen, dann würde das Arbeitskräfteangebot bis zum Jahr 2000 auf 41,3 Millionen und bis 2010 auf 41,8 Millionen ansteigen.

Variante 4

Stellt sich hingegen eine Zuwanderung von 500.000 Personen pro Jahr ein, dann läge im Jahr 2000 das Arbeitskräfteangebot bei 41,9 Millionen und im Jahr 2010 bei 43,0 Millionen. Im Jahr 2020 wäre das Niveau des Jahres 1990 in etwa wieder erreicht.

Alle vier Varianten machen deutlich, wie sensibel das Arbeitskräfteangebot auf unterschiedliche Zuwanderungskomponenten reagiert. Die Schrumpfungsphase wird sofort eingeleitet, wenn die Zuwanderung wegfällt. Das ist die Wucht der altersstrukturellen Verschiebungen, die in der Erwerbspersonenpyramide angelegt sind.

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An dieser Stelle sei auch folgender Hinweis erlaubt. Migration ist kein Ersatz für fehlende Kinder. Migration verhindert lediglich das Schrumpfen der Bevölkerung oder des Arbeitskräftepotentials. Eine Verjüngung der Bevölkerung ist dauerhaft nur durch einen Geburtenanstieg, präziser durch einen Anstieg der Nettoreproduktionsrate möglich. Wir können durch Migration der Überalterung nicht begegnen.

5.2 Veränderungen im Erwerbsverhalten der Frauen

Nun ist beim Ausgleich der demographischen Arbeitskräftelücke nicht nur an Migration zu denken. Es sind auch Veränderungen im Erwerbsverhalten zu registrieren, die zu einer Ausdehnung des im Inland verfügbaren Arbeitskräfteangebotes führen. Da ist zuallererst die seit Jahren steigende Erwerbsquote der Frauen. Trotz dieser Tendenz ist im internationalen Vergleich das westdeutsche Frauenerwerbsverhalten immer noch niedrig. In den Vereinigten Staaten, in Schweden oder in der Schweiz liegen die Frauenerwerbsquoten deutlich höher als in den alten Bundesländern.

In der Analyse zum gesamtdeutschen Arbeitsmarkt (Hof, 1990) wurde möglichen Veränderungen des Frauenerwerbsverhaltens in Ostdeutschland und in Westdeutschland ausführlich nachgestiegen. An dieser Stelle nur soviel: Steigt in Westdeutschland die Frauenerwerbsneigung entsprechend dem Trend der letzten Jahre und geht sie in Ostdeutschland von dem ehemals sozialistisch überhöhten Niveau zurück, ohne dabei zusammenzubrechen, dann könnte sich bis zur Jahrtausendwende das Frauenerwerbspotential aller Bundesländer durchaus um rund eine Million Personen erhöhen. Das ist aber nichts weiter als der Trend, der an den derzeitigen Arbeitsplatz- und Arbeitszeitrealitäten eine Begrenzung finden dürfte.

5.3 Veränderung der Altersstruktur

Über diese globalen Tendenzaussagen hinaus sind für den Arbeitskräftebedarf der Wirtschaft die Verschiebungen in den Altersstrukturen von erheblicher Bedeutung. Das macht der Vergleich mit den sechziger Jahren deutlich. Dabei wird unterschieden zwischen der künftigen Entwicklung der aktiven Kernerwerbs-

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bevölkerung im Alter zwischen 30 und 55 Jahren und dem Verlauf der Altersgruppe der 15- bis 3Ojährigen. Das sind die Neueintritte am Arbeitsmarkt, der Nachwuchs also. Der obere Rand der Erwerbspyramide mit dem Übergang in Rente ist unter Wanderungsgesichtspunkten nicht so bedeutsam, aber sie werden der Vollständigkeit halber einbezogen.

Die Modellrechnung zeigt (Schaubild 4, siehe S. 2l):

  • Die aktive Kernbevölkerung steigt auch ohne Zuwanderung weiter an. Zugleich werden sich auf diese Altersgruppen die Wanderungseffekte konzentrieren. Hinzu käme noch das steigende Erwerbsverhalten der Frauen. Das führt zu einem sicheren Anstieg der Arbeitskräfte in diesen Altersgruppen bis etwa in das Jahr 2005.
  • Die von unten nachrückenden Jahrgänge, der Arbeitskräftenachwuchs im Alter zwischen 15 und 30 Jahren hingegen, wird von der negativen demographischen Komponente bestimmt. Selbst bei der unterstellten Zuwanderung von insgesamt 500.000 Personen pro Jahr ist bei der unterstellten Altersstruktur der Zuwanderungen der schwindende Arbeitskräftenachwuchs nicht zu umgehen.
  • Beim Übergang in Rente (55- bis 65J'ährige) sind die Wanderungseffekte gering.

Vor allem zur Abdeckung des Fachkräftenachwuchses bleibt der deutsche Arbeitsmarkt auf die Zuwanderung junger ausländischer Arbeitnehmer angewiesen. Kann diese Lücke nicht gefüllt werden, ist auch eine andere Hypothese denkbar: Fehlender Nachwuchs könnte dazu führen, daß das Kapital verstärkt dort hingeht, wo zunächst noch ausreichend Nachwuchs verfügbar ist, etwa nach Spanien oder nach Portugal.

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6. Schlußfolgerung

Zuwanderungen nehmen also am inländischen Arbeitsmarkt nichts weg, sondern sie füllen Lücken im Arbeitskräftepotential. Mit kontrollierten Zuwanderungen lassen sich ansonsten unumgängliche Anpassungen am Produktionsstandort Bundesrepublik vermeiden. Dabei sollten die Wanderungsbedingungen dynamisch gestaltet werden, denn der Zuzug von außen wird künftig eine höhere qualitative Bedeutung bekommen müssen. Das ist eine entscheidende Veränderung im Vergleich zu den sechziger Jahren, demographisch wie produktionstechnisch. Wenn diese höhere Anforderung tatsächlich erreicht werden soll, können Zuwanderungen nicht adhoc-Entscheidungen überlassen werden. Die Wanderungspolitik sollte vielmehr klar erkennbare Orientierungspunkte setzen. Es gilt, zwischen Abschottung auf der einen und Integration auf der anderen Seite einen Ausgleich zu finden, der die wirtschaftliche Unterstützung in den Abgabeländern einschließt.

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Literatur

Hof, Bernd: Arbeitsmarkt bei verringertem Produktivitätswachstum. Empirische Analyse und wirtschaftspolitische Folgerungen, Köln 1987

Hof, Bernd: Gesamtdeutsche Perspektiven zur Entwicklung von Bevölkerung und Arbeitskräfteangebot 1990 bis 2010, Köln 1990

Hof, Bernd: Für mehr Verantwortung - Langzeitarbeitslosigkeit und Soziale Marktwirtschaft, in: Beiträge des Instituts der deutschen Wirtschaft Köln zur Wirtschafts- und Sozialpolitik, Nr. 193, Köln 1991 a

Hof, Bernd: Die Beschäftigungsschwelle, in: Wirtschaftswissenschaftliches Studium, Zeitschrift für Ausbildung und Hochschulkontakt, 20. Jg., Heft 6, München und Frankfurt/Main 1990 b

Hof, Bernd: Sektorale und regionale Arbeitsmarkttendenzen in den neuen Bundesländern 1989/95, in: IW-Trends, Heft 3, Köln 1990 c


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