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TITELINFO / UEBERSICHT



TEILDOKUMENT:


[Seite der Druckausg.: 94 ]


Siegfried Müller
Ausländerfeindlichkeit und Möglichkeiten ihrer Überwindung -Gewerkschaftliche Perspektiven


Zur Situation

Nach dem Ergebnis der Betriebsratwahl 1990 gab es in den rund 10.000 Betrieben der Metallwirtschaft 3,71 Millionen Beschäftigte. Darunter waren 443.000 ausländischer Nationalität. Ihr Anteil an den Beschäftigten lag bei 11,9 %. Gewählt wurden rund 65.000 Betriebsräte, darunter 3.423 oder 5,3 % ausländischer Nationalität. Zur Zeit laufen in den Betrieben der alten Bundesländer die Vertrauensleutewahlen. Einige Betriebe haben schon gewählt, andere befinden sich in der Vorbereitung oder im Wahlverfahren. Die IG Metall setzt auf eine stärkere Repräsentanz unserer ausländischen Kolleginnen und Kollegen. Bei der letzten Vertrauensleutewahl 1988 gelang es, 8.917 ausländische Vertrauensleute zu gewinnen, das entsprach einem Anteil von 9,2 %. Der durchschnittliche Organisationsgrad (BR-Wahl 90) liegt bei den ausländischen Mitgliedern bei 59,5 %. Am 30.3.1991 waren in der IG Metall 333.500 ausländische Mitglieder zusammengeschlossen, das entspricht einem Anteil von 9,2 %. Die größten Gruppen nach Nationalitäten bilden die Türken mit 150.000, Jugoslawen mit 53.500, Italiener mit 41.300, Griechen mit 32.400, Spanier mit 12.600, Portugiesen mit 5.700 und rund 32.500 haben unterschiedliche Nationalitäten. (Nach dem Nationalitätenschlüssel sind 55 verschiedene Gruppen erfaßt.)

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Beschäftigungssituation

Rund ein Drittel der sozialversicherungspflichtig beschäftigten ausländischen Arbeitnehmer arbeitet in der Metallwirtschaft. Sie arbeiten überwiegend in folgenden Branchen: Elektrotechnik 129.000 (11,5 %), Maschinenbau 91.000 (8,4%), Eisen, Blech, Metallwarenindustrie 58.000 (13,8%), Ziehereien, Stahlverformung 44.800 (14,7 %), Eisen- und Stahlerzeugung 32.800 (13,8 %), Stahl und Leichtmetallbau 30.200 (8,5 %), Gießereien 27.400 (24,3 %), Feinmechanik und Optik 16.000 (7,8 %). Die übrigen verteilen sich in kleineren

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Kontingenten auf die anderen Metallbranchen. Ausländische Arbeitnehmer sind überwiegend mit angelernten oder ungelernten Tätigkeiten beschäftigt. Der Anteil der Facharbeiter liegt etwa bei 21-23 %.

Die Forderungen der IG Metall richten sich insbesondere auf eine bessere Qualifizierung der ausländischen Kolleginnen und Kollegen, auf eine Beseitigung der Einstellungsbarrieren und auf eine gesicherte Grundausbildung ausländischer Jugendlicher, Obwohl die absoluten Zahlen inzwischen auf rund 83.000 für alle Ausbildungsbereiche der Wirtschaft gestiegen sind, erhält nach wie vor nur ein Drittel der ausländischen Jugendlichen eine qualifizierte berufliche Ausbildung. Bei den Mädchen ist nur jede Fünfte beteiligt. In der Wirtschaft kann man nicht immer über Mangel an Facharbeiternachwuchs klagen, wenn man auf der anderen Seite ein derart großes Potential nicht ausschöpft und brach liegen läßt.

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Zum Thema Ausländerfeindlichkeit und Möglichkeit der Überwindung -Einige Anmerkungen

Die IG Metall sieht in der direkten Zusammenarbeit mit den ausländischen Arbeitnehmern eine der zentralen Aufgaben der sozialen Integration und damit eine Chance zum Abbau von Vorurteilen und Ängsten. Dabei geht es auch in unserer Organisation nicht ohne Reibungen ab. Aber die Einsicht, daß nur eine geschlossene Arbeitnehmervertretung erfolgreich ihre Interessen gegenüber dem Management durchsetzen kann, hat uns darin bestärkt, diesen Weg konsequent zu gehen. Dafür haben wir uns in der IG Metall mit den Strukturen der Ausländerausschüsse ein Instrument geschaffen, das Chancen und Möglichkeiten bietet, die Interessen der ausländischen Arbeitnehmer zu artikulieren, aber auch die spezifischen Forderungen in der Gesamtpolitik der Organisation unterzubringen.

So hat zum Beispiel der jüngste Tarifabschluß mit der allgemeinen Lohnerhöhung von 6,7 % die zusätzliche Variante, daß die beiden untersten Lohngruppen um 12 bzw. 9,3 % angehoben werden. Damit ist eine alte Forderung unserer ausländischen Kolleginnen und Kollegen nach strukturellen Verbesserungen auch in praktische Politik umgesetzt worden. Die in vorangegangenen Tarifkämpfen durchgesetzte Annäherung an die Facharbeiterlohngruppen gingen

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ebenfalls in diese Richtung (1950: 70 %, heute 82 %). Auch der Lohnrahmen II von 1973 hat insbesondere für die Bandarbeiter bessere Arbeitsbedingungen geschaffen. Arbeits- und sozialrechtliche Gleichstellung im Betrieb reicht aber allein nicht aus, um die soziale Integration voranzutreiben. Einhergehen muß der Kampf um gesellschaftliche Gleichstellung. Dafür setzt sich die IG Metall ein. Sie kämpft für eine Beteiligung an den politischen Rechten, engagiert sich im Kampf gegen Ausländerfeindlichkeit und Rassismus und setzt sich für den Abbau von Vorurteilen ein.

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Politische Forderungen

Die Gewerkschaften fordern eine soziale Integrationspolitik, die das Ziel verfolgt, die rechtliche und politische Gleichstellung der ausländischen Arbeitnehmer und ihrer Familien zu verwirklichen. Die Gewerkschaften fordern, Gesetze und Verordnungen so zu novellieren, daß eindeutige und unmißverständliche Bestimmungen den Aufenthalt sichern, die freie und uneingeschränkte gewerkschafts- und gesellschaftspolitische Betätigung ermöglichen und die Gleichbehandlung in allen Bereichen gewährleisten. Die Gewerkschaften fordern eine humanere Freizügigkeit für Arbeitnehmer aus den EG-Staaten und die Gleichstellung der Arbeitnehmer aus den Drittstaaten. Die Gewerkschaften fordern eine Neuorientierung der Ausländerpolitik, d.h. eine Abkehr von der bisherigen Ausländerbeschäftigungspolitik. Sie darf nicht mehr an rein ökonomischen Interessen orientiert sein, sondern muß von der Tatsache ausgehen, daß die ausländischen Arbeitnehmer und ihre Familien ein integraler Bestandteil des wirtschaftlichen, kulturellen und des politischen Lebens in der Bundesrepublik sind. Die Anerkennung der Tatsache, daß für viele der in der Bundesrepublik lebenden und arbeitenden Ausländer die Bundesrepublik das Land geworden ist, in dem sie ihren Lebensmittelpunkt haben und ansässig wurden, hat zur Konsequenz, daß sie eine umfassende rechtliche und politische Gleichstellung erfahren. Mit der Verwirklichung der Chancengleichheit als Voraussetzung für ihre gleichberechtigte, persönliche, soziale, kulturelle und berufliche Entwicklung nehmen sie dann am gesellschaftlichen Leben mit gleichen Rechten und Pflichten mitverantwortlich teil. Die Anerkennung der ausländischen Wohnbevölkerung als selbstverständlicher Teil der Gesellschaft ist die Voraussetzung und die Grundlage einer jeden demokratischen Gesellschaft und des sozialen Rechtsstaates. Die Gewerkschaften sehen zur Integration keine Alternative. Soziale

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Integration aus der Sicht der Gewerkschaften bedeutet nicht Assimilation. Sie bedeutet nicht die totale Anpassung, völlige Übernahme der Sitten und Gebräuche: und auch nicht Kultur- und Geschichtslosigkeit. Integration bedeutet vielmehr, daß Deutsche und Ausländer zueinanderfinden, in ihrem Anderssein sich gegenseitig akzeptieren. Integrationspolitik heißt also, den in der Bundesrepublik lebenden ausländischen Arbeitnehmern und ihren Familien die Entwicklung einer langfristigen Lebensperspektive bei Beibehaltung ihrer ethnischen, kulturellen und religiösen Identität zu ermöglichen. Das Nebeneinander von verschiedenen Kulturen soll nicht als Ärgernis, sondern als Beitrag praktizierter Toleranz im Sinne eines solidarischen Miteinanders verstanden werden. Um eine solche Integrationspolitik glaubwürdig zu betreiben, bedarf es vertrauensschaffender Maßnahmen, konkreter Förderung der kulturellen Aktivitäten, Rechtssicherheit für den Aufenthalt und der schrittweisen Einführung einer politischen Beteiligung. Die 1972 im Betriebsverfassungsgesetz begonnene Gleichstellung im Betrieb bedarf der Ergänzung im sozialen Bereich und auf der politischen Ebene.

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Europa und internationale Zusammenarbeit

Im Zusammenhang mit dem EG-Binnenmarkt 1993 sehen die Gewerkschaften in der Anwesenheit ausländischer Arbeitnehmer eine große Chance für die soziale Gestaltung eines gemeinsamen Europas. Bei aller Skepsis, die sozialen Standards und die erworbenen Mitbestimmungsrechte auszubauen und zu erhalten, verfügt die europäische Arbeiterbewegung über ein Potential ausgebildeter und engagierter Gewerkschafter, die zwei- oder mehrsprachig in der Lage sind, in Kenntnis der jeweiligen politischen und gewerkschaftlichen Situation des Entsende- und Aufnahmelandes, Verbindungen zu den Arbeitnehmern herzustellen und direkte Kontakte und Erfahrungen zu vermitteln. Viele inzwischen zurückgekehrte Gewerkschafter sind in ihren Heimatländern wieder aktiv.

Die IG Metall ist gewillt, dieses Potential zu nutzen. Im gemeinsamen Arbeitsausschuß des Internationalen- und des Europäischen Metallarbeiterbundes werden von den gewerkschaftlichen Interessenvertretern der Entsende- und Aufnahmeländer die Probleme der ausländischen Arbeitnehmer diskutiert, Zielvorstellungen und gemeinsame Konzeptionen abgesprochen. Darüber hinaus gibt es bilaterale Kontakte und Treffen. Dies geschieht unter direkter Beteiligung der Betroffenen. Ein regelmäßiger und ständiger Erfahrungsaustausch ist

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notwendig, um die Politik der Regierungen kritisch zu begleiten und erforderliche Maßnahmen abzustimmen.

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Positive Erfahrungen

Die breite Palette an Angeboten für eine kontinuierliche Mitarbeit in den Gewerkschaften hat Vertrauensgrundlagen geschaffen, auf denen einheimische und ausländische Arbeitnehmer ihre gemeinsame Zukunft aufbauen können. In der Geschichte der Bundesrepublik hat es seit der Existenz der ausländischen Arbeitnehmer keinen bedeutenden Arbeitskampf gegeben, an dem nicht ausländische Arbeitnehmer an hervorragender Stelle beteiligt waren. Sie haben mit ihren deutschen Kollegen in schwierigen Zeiten wichtige Ziele der Arbeiterbewegung, wie z.B. die Arbeitszeitverkürzung, Mitbestimmung in den Betrieben, Humanisierung der Arbeitswelt durchgesetzt. Die langjährigen solidarischen Erfahrungen in den Arbeitskämpfen in der Gestaltung der Situation in den Betrieben sind das Fundament für die Solidarität, die uns verbindet. Für die IG Metall sind ausländische Arbeitnehmer ein selbstverständlicher Teil der Interessenvertretung im Betrieb und in der Gesellschaft. Natürlich geht alles nicht reibungslos und oft sind viele Anläufe nötig, aber bei aller Kritik, die es sicher in den verschiedenen Bereichen gibt, konnte über Jahre hinweg eine erfolgreiche Arbeit kontinuierlich fortgesetzt werden. Rund 60 % aller in der Metallwirtschaft beschäftigten ausländischen Arbeitnehmer sind inzwischen Mitglieder der IG Metall geworden, sie stellen mit insgesamt 333.000 Arbeitnehmern einen der verläßlichsten und kampfbewußtesten Teile der Organisation dar.

Viele der Arbeitnehmer haben erst in der Bundesrepublik Erfahrungen mit einer freien Gewerkschaftsbewegung gemacht. Sie kamen zum Teil aus Ländern, in denen eine Gewerkschaftsarbeit unterdrückt bzw. verboten war. Sie möchten die Mitarbeit in dieser Organisation nicht missen. Die IG Metall kann andererseits auf das Engagement unserer ausländischen Kolleginnen und Kollegen nicht verzichten.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | Mai 2001

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