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Irene Runge
Wer hat Angst vor dem Schwarzen Mann? - Gedanken zu Fremdenhaß und Solidarität


Wer ist er eigentlich, dieser schwarze Mann, von dem der Kinderreim spricht? Ein Schornsteinfeger, ein Afrikaner, ein frommer Jude, in der schwarzen Tracht der Altvorderen? Im Reim folgt auf diese sonderbare Frage, wenn ich mich recht entsinne, ein deutliches: Niemand, niemand hat Angst. Die Frage ist genaugenommen interessanter als mögliche Antworten, verweist sie doch auf ein Unbehagen, verschleiert sie natürlich ein Problem, und löst sie das Geheimnis schließlich auf banalste Art, indem niemand gemeint und nichts geschehen ist. Die Angst vor dem schwarzen Mann ist eine Angst vor dem Fremden schlechthin, das nichts wieder-erkennen läßt. Plötzlich ist der Mensch nicht mehr identisch mit sich und seiner Umwelt. Plötzlich steht er daneben, außerhalb, wird zum Außen-Seiter, auch zum Aus-Länder. Ist das der Grund, auf Hawaii nach deutschem Bier zu rufen, und am italienischen Strand deutsche Gemütlichkeit einzufordern? Kurz nach der Wende sagte eine Frau, endlich habe sie Italien besucht. Schön war es gewesen, das Wasser, die Sonne, an den Wochenenden allerdings habe die Freude nachgelassen: Zu viele Ausländer seien an den Strand gekommen.

In der Ferne gibt es immer erste Eindrücke. Erinnern sie uns an das längst Bekannte, dann nennen wir unser Gefühl Vertrautheit, meinen, es wäre wie zu Hause, bis endlich die Wirklichkeit jäh den Traum beendet und uns ins Aus weist, in die Rolle des Außenstehenden, die uns in diesem Falle auch zukommt. Je nach Temperament und Toleranz fühlen wir uns verraten von diesem Land und seinen Menschen, enttäuscht um unsere angenommene Zugehörigkeit. Die Fremde wird nun zum Problem. Um in der Fülle neuer Eindrücke nicht zu ersticken, bedienen wir uns mit Vorliebe vorgefertigter Urteile, Vor-Urteile erlauben eine schnelle Zuordnung beunruhigend unbekannter Ereignisse erleichtern auch das Wegsehen, mildern den Erklärungsdruck. Wir können mit einem gediegenen Vorurteil jede uns unbekannte Situation meistern. Nationale Stereotype gedeihen unwidersprochen, Ausländer werden zum Sammelbegriff und assoziieren Anonymität. Wenn es konkret wird, haben wir es mit 50 Nationen und 200 ethnischen Gruppen zu tun, mit Traditionen, Sitten, Ritualen, Gewohnheiten und Erfahrungen, die ganz anders sind als das, was bisher im Thü-

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ringer Wald für das einzig Richtige gehalten wurde. Jetzt wird wieder summiert, und aus den Mohammedanern, Kopten, Buddhisten und Juden werden Ausländer, die Probleme machen, die das Fleisch nicht mögen und nichts vom Heiligen Abend halten. Dann ist wieder Fremdheit eingezogen, und Unbehagen auf allen Seiten, vom Undank ist die Rede und von deutscher Fremdenfeindlichkeit. Wie lange bleibt jemand ein Ausländer? 15 Jahre oder 30 oder nur zwei? Ich kenne Leute, die schon seit Jahrzehnten in Berlin sind, aber Berliner sind sie noch immer nicht, diese Libanesen und Russen, das jedenfalls meinen die Nachbarn. Es ist bequemer, die Welt nach eigenem Maß zu vermessen, anstatt sich ihrer Maßlosigkeit auszusetzen. Warum ist es so schwer, das Fremde in seiner ihm immanenten Logik zu erkennen? Warum sträuben sich Menschen, die fremden Rituale hinzunehmen. Wichtig sind sie für die, die sie ausüben. Für Nichtjuden ist die Seder-Tafel, falls sie überhaupt von ihr wissen, ein romantisches Fest. Für Juden tradiert sie den Wechsel von Sklaverei zu Freiheit, 3.300 Jahre Geschichte, so erzählt, als wäre ein jeder, der davon hört, dabei gewesen. Der Respekt sollte dem Unvertrauten gehören, denn daraus wird neue Einsicht gewonnen. Die vertraute Norm, was für normal angesehen wird, ist keiner Frage mehr ausgesetzt: Gegessen wird, was auf den Tisch kommt, auf den Tisch kommt, was schon immer gegessen worden ist. Auch diese Borniertheit wird vererbt, während die Fähigkeit schwindet, gleiche Gültigkeit anzuerkennen. Meine ersten deutschen Worte habe ich als Emigrantenkind in Leipzig gelernt. Hier war ich auch zum ersten Mal im Leben fremd. Ich habe seither eine Ahnung davon, was es bedeuten könnte, unter den Weißen schwarz zu sein, wenn soziale Spannungen einen Sündenbock brauchen. In einer Straßenbahn in Berlin fährt eine rassistische Äußerung spazieren: "Afrika den Affen. Deutschland den Deutschen." In Berlin wird keine Mühe aufgewandt, den Satz zu beseitigen, aber Rassismus verstößt gegen das deutsche Grundgesetz. Werden Vietnamesen gejagt, weiß die Polizei nicht, wie sie sich verhalten soll. In der Zeitung steht, daß Kriminelle häufiger Ausländer sind, dem irrationalen Fremdenhaß werden Gründe nachgeliefert. Die Gewalt gegen Ausländer ist öffentlich geworden, während sich die Gegengewalt privatisiert. Früher war Sicherheit Staatsanliegen, jetzt kostet es das eigene Geld. Ausländer müßten sich eigentlich um Privatschutz kümmern, wie die neuen Unternehmen und Unternehmer. Unser Problembewußtsein nimmt die Realität noch immer nicht wahr.

Wenn ich in New York ankomme, wenn ich in die Subway einsteige, gerate ich übergangslos in die neue Welt: Sofort fühle ich, daß ich eine weiße Frau bin.

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Daran habe ich in Berlin noch nie gedacht. Meine Kleidung, meine Frisur, meine Art, mich hinzusetzen und die Fahrgäste anzusehen, die in der Regel spanisch sprechen, das alles könnte sein wie überall, aber ich bin weiß, was nur ich zu bemerken scheine. Schwarze steigen ein, später Asiaten. Weiße Frauen, Männer im gutsitzenden Anzug. Das ist die Wallstreet. Jetzt habe ich mich eingewöhnt. Wenn der Zug tiefer in Manhattan ist, kommen fromme Juden dazu, die kurzsichtig Traktate des Lubawitscher oder eines anderen Rebben lesen, aus der Ecke höre ich nissische Worte, während sich ansonsten, ich bin an die 40 Minuten weit gefahren, das englische Palavern gegen Spanisch durchgesetzt hat. Sobald die Subway Midtown gegen Norden verläßt, steigen wieder Schwarze ein, Männer und Frauen, asiatische und puertoricanische, und wieder wird laut spanisch gesprochen. Über der Fensterfront werben Tafeln in der inzwischen zweiten Landessprache. In Amerika habe ich einen Begriff davon, was es heißt, Europäer zu sein. Wieder in Berlin, erscheint mir die Stadt künstlich aufgehellt. Einmal stürzen in New York am frühen Freitagnachmittag zwei etwa 13jährige Knaben auf mich zu und fragen, "Are you jewish?", 'Sind Sie jüdisch?' Im ersten Moment bin ich verblüfft, im zweiten nicke ich, und im dritten wollen sie wissen, ob ich am Erew Schabbat die Kerzen zünde. Dann drücken sie mir ein Faltblatt mit frommen Sätzen in die Hand und rennen weiter. Koreaner verkaufen an der gleichen Ecke 24 Stunden lang frisches Gemüse, der ambulante Regenschirmhandel soll jetzt in der Hand der Männer aus Ghana sein, und in Chinatown sehen Chinesen anders aus als im Börsenviertel, wo sie mit schräggestellten Augen die Börsennachrichten verfolgen. Wegen Krieg und Sieg am Golf haben Italiener in Little Italy Girlanden mit kleinen US-Staatsflaggen quer über die Straße gespannt. Überall in der Stadt betteln vor allem schwarze Männer um ein paar Pfennige. Die Armut hat sichtbar mit Haut und Herkunft zu tun. Eine verwirrende Stadt, ein ethnisches Konglomerat, in dem koexistiert und konkurriert wird, New York, das jedem Volk dieser Welt ein Stückchen Heimat offeriert.

In Berlin sitzen manchmal Türken im S-Bahn-Abteil, ganz fremd, ganz für sich. Die Frauen, Kopftücher verhüllen wie bei den frommen Jüdinnen das Haar, senken den Blick, wenn ein Mann ihnen ins Gesicht sieht. Nur wenn sie jung sind, kann das passieren, daß sie wie alle ihres Alters meinen, daß ihnen von dieser Well ein Teil gehören muß. Mit Erstaunen erlebe ich Debatten, in denen deutsche Studenten meinen, die Kopftücher der Frauen müßten weg, sie stünden für männliche Unterdrückung. Was ist, wenn deshalb türkische Mädchen, auf

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deutsche Art unter Druck gesetzt, den Brauch brechen? Wer hilft, wenn diese Frauen ihrer eigenen Kultur verlustig gehen? Es gibt ein Spannungsfeld zwischen Anpassung und Selbstbehauptung, das mindestens zwei Seiten hat.

Türken sind Ausländer. Sind Türken immer Ausländer? In Deutschland gibt es Deutsche, und wer kein Deutscher ist, muß ein Ausländer sein, auch, wenn der Geburtsort Berlin, Hamburg oder Leipzig heißt. Der Mensch hat seine Staatsbürgerschaft, zu der man sich in Deutschland in der Regel nur eine Nationalität denken kann: die deutsche. Ethnizität hat in diesem ethnisch homogenen Gebiet folkloristischen Wert. Aber ich weiß von einem Inder, der jetzt einen deutschen Paß hat. Er ist ein Deutscher, seine Frau, seine Kinder sind Deutsche. Daß sie dennoch Inder bleiben, verrät nicht nur der Turban. Amerikanische Bekannte von mir haben es auch geschafft. Jetzt sind aus den polnischen Juden, die vor den Nazis nach Amerika flohen und dort Staatsbürger wurden, nach 30 Jahren DDR Neu-Deutsche geworden. Es hatte mit Wohnung und Rente zu -tun, aber immer sprechen sie englisch miteinander und sagen "the Germans", wenn sie ihren neuen Landsleute meinen. Ein Land ist so gut wie sein Paß.

Das Problem des schwarzen Mannes ist kein theoretisches. Ist nicht jeder auf seine Weise schwarz, wenn ausgegrenzt, wenn Mein und Dein nationalem Ermessen dienen, wenn Ausnahmegesetze das gleiche Recht für alle brechen, wenn Vietnamesen abgeschoben, Afrikaner denunziert und polnische Touristen vom in Deutsch grölenden Mob überfallen werden, wenn die Öffentlichkeit vorgibt nicht zu wissen, was getan werden muß? Das Problem in diesem Lande hier sind nicht die Ausländer. Es ist die allgemeinmenschliche Unfähigkeit von Einheimischen zu akzeptieren, daß der wahre Reichtum letztlich aus der geistigen Vielfalt kommt. Das Problem nenne ich mentale Enge, die sich mit Kälte gepanzert hat. Die Frage ist jetzt, wie dieser Kreislauf unterbrochen werden kann, wenn sogar der Bürgermeister in Frankfurt/Oder meint, die Polen sind schuld, wenn sie in ungeordneter Weise über die Grenze strömen, anstatt sich der deutschen Empfindsamkeit zu versichern. Es gibt intellektuellen Konsens zwischen Ost und West, was solche Äußerungen angeht, es gibt aber ganz offenkundig auch einen administrativen Konsens, solche Äußerungen zu tun. Medien und Kommunalpolitik sind niemals unschuldig, Unfähigkeit im Amt macht schuldig.

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Wer sind sie, diese Menschen von überall her, die neue Existenzen gründen und sich einrichten wollen? Warum sie kommen, läßt sich schnell erzählen. Wie sie aufgenommen werden, ist ein weites Feld. Am einfachsten ist es für jene aus dem EG-Bereich. Gleiches Recht für alle, ein Vorgriff auf Europa, nur die Feindseligkeiten erinnern daran, daß auch in dieser Frage investiert werden muß. Man kommt, weil Reisen ein Menschenrecht ist, weil Reichtum Sogwirkung hat, weil Frieden eine Zukunft offeriert. Asylbewerber und Aussiedler, Flüchtlinge und Arbeitssuchende, Ganoven und Familienväter, Enttäuschte und Abenteurer, die Liste ist beliebig. Die Tatkräftigen verlassen den angestammten Boden, so ist es immer gewesen, sie müssen eine Sprache lernen und eine neue Kultur. So denke ich im Osten, und vergesse, daß es längst die zweite Generation der Hiergeborenen gibt, die zwischen den Kulturen steht, deren doppelte Loyalität sie manchmal zerreißt. Wie ernst wird der Verlust ihrer eigenen Werte genommen, die sich in einer engen fremden Welt schwer reproduzieren lassen? Und warum tut man sich so schwer in Deutschland mit der zweisprachigen Erziehung für In- und Ausländer, wenn die Schulklassenstärke es erforderlich macht?

Ethnische Nischen sind Rückzug ins Private, im Osten fehlt die Halböffentlichkeit, die Tradition der Landsmannschaften, der Heimatverbände, der Vereine und Klubs derer, die sich ihre Geschichte nicht nehmen lassen wollen. Assimilation ist nur eine der Möglichkeiten. Auf den deutschen Markt streben die andersethnischen Arbeitnehmer und zunehmend werden es die Arbeitgeber sein. Im Osten gehört diese Tatsache noch nicht zum Tagesgeschehen, aber im Berliner Prenzlauer Berg lud das Bezirksamt sowjetische Juden zu einer Beratung ein, die in der Stadt eigene Gewerbe gründen wollen. Es geht den Menschen wie den Leuten: Der Grad an Zufriedenheit hat mit Erfolg zu tun. Erfolgreiche verarbeiten ihre persönlichen Probleme besser. Doch Ausländerfeindlichkeit und soziale Isolation bleiben, was sie sind: Gründe, um sich zu ängstigen, um Gegengewalt zu etablieren. Unsicherheit macht sich bei den Eingewanderten breit, wenn die Debatten um Bleibe- und Aufenthaltsrecht, Kontingentierung der Integration, Ausländerrecht und Ausländerhaß nicht den Standpunkt der Betroffenen berücksichtigen, wenn die subtile Diskriminierung nicht auf Recht zum Einspruch weist, weil es kein eindeutiges Gesetz dafür gibt. Daß autoritäre Erziehung die Feindseligkeit gegen Menschen mit anderen Grundhaltungen und Lebensweisen untermauert, ist eine Binsenweisheit. Daß dieser Erziehungsstil zur deutschen Tradition gehört, daß die autoritäre Erziehung in der DDR an der

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Tagesordnung war, weiß eigentlich jeder. Am Mangel demokratischer Tradition leiden Menschen. Wer nicht hören will, muß fühlen, sagt das Sprichwort, und es ist auch so gemeint. Es ist bequem, die Umstände für alles verantwortlich zu machen, das Unangenehme als Begleiterscheinung der Wende zu bezeichnen, die Gewendeten selbst sind nicht mehr für sich und andere zuständig. Arbeitslosigkeit und Wohnraummangel, auch so wird gern argumentiert, liefern den Grund für Ausländerhaß. Aber das kann so nicht stimmen, denn überall in der Welt gibt es eine Fremdenfeindlichkeit, nur äußert sie sich ziemlich verschieden.

Ich kann mir nicht vorstellen, wie das vehemente deutsche Nein gegen ein kommunales Ausländerwahlrecht zustandekommt. Ich kann auch nicht verstehen, warum in der ersten freien und letzten Volkskammer der DDR nur Bündnis 90 und PDS dafür votierten, weshalb die SPD sich einer großen Koalition der Ablehnung anschloß. Werden diese Abgeordneten jemals dafür Rechenschaft ablegen? Deutschland ist ein so reiches Land, mit so vielen kleinen Großstädten. In Deutschland-DDR tat man sich schwer mit der eigenen Identität: Staatsbürgerschaft DDR, Nationalität deutsch. Die Sorben standen für eine nicht ernstzunehmende Toleranz, der regionale Provinzialismus blühte, und doch gab es jene elementare Solidarität, von der ich zu gern wüßte, was eigentlich aus ihr geworden ist. Die Menschen bleiben sich bei allen Wendungen doch mehr oder weniger gleich, da ist ein Potential, das niemand mehr will, das sich keiner Aufgaben mehr bewußt scheint.

Wenn heute Türken sagen, daß sie schon immer Kurden sind, spielt es im deutschen Alltagsbewußtsein so gut wie keine Rolle: Der Paß entscheidet, und ein Kurdenland mit kurdischer Staatsbürgerschaft gibt es nirgends. Hier könnten wir uns einmischen. Aber wir tun es nicht. Ethnische Katastrophen gehören zu unserer Abendunterhaltung.

Deutschland ist kein multinationales Land, in Deutschland gibt es keine koloniale Gelassenheit gegenüber Menschen, die anders sind. Das heißt natürlich nicht, daß ich Kolonialgeschichte glorifiziere, aber es hat mit Gewohnheiten zu tun, mit der Erfahrung eines Commonwealth und der Maghreb-Kultur, es ist etwas anderes, mit der Fremde aufzuwachsen, als ihren Zweck vorrangig touristisch zu sehen. Deutschland hat den nationalen Gedanken vor 60 Jahren zur Ideologie der Vernichtung anderer Völker vorgeschoben, biologistisch argu-

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mentiert und rassenpolitisch gehandelt. Wer nicht ins arische Raster paßte, mußte ausgesondert, später vernichtet werden, Rassismus auf deutsch führte zu Auschwitz. Die Nazis haben fast ein judenreines Europa zurückgelassen, ein Europa, fast ohne Sinti und Roma. Es ist ein Europa der Grenzen, aus dem das Grenzenlose werden soll. Wird es ein deutsches Europa oder ein europäisches Deutschland geben? Schon werden in Deutschland die Proteste lauter, der Ruf nach besserer Begrenzung, während der Grenzabbau den freien Fluß des Kapitals, der Waren, auch der Ware Arbeitskraft bedeutet. Dialektisch muß man das mal wieder sehen. In Deutschland denkt man nicht daran, daß rund zwei Millionen Menschen das nachrevolutionäre Rußland verließen, um sich westlicher anzusiedeln, auch nicht daran, daß Amerika seinen Fortschritt auch sieben Millionen Deutschen verdankt, die nach Übersee gingen. Zwischen Sog und Zugzwang findet Ein- und Auswanderung statt. So ist es schon immer gewesen. Im Jahre 1990 reisten rund 5.000 Sowjetjuden nach Deutschland ein, die Medienresonanz läßt vermuten, daß es Hunderttausende sind. Im gleichen Zeitraum kamen rund 400.000 ethnische Deutsche, von ihnen war weit weniger zu erfahren. Asylbewerber machten Schlagzeilen, der Osten ist aktuell, aber die Aussiedler und Asylbewerber zieht es in die anderen Teile des Landes und mit Recht: Der Alltag begegnet ihnen hier nicht gerade freundlich. Das Leben bleibt von diesen Dingen weithin ungeprägt. Ich fürchte, man weiß bei uns weithin nichts von der Idee Europa, in deren Gefolge Spanier und Franzosen sich in jedem kleinen Ort beheimaten können. Es gibt eine Gier nach schnellem Übergang, doch die Erfahrung eines unverschuldeten Versagens bremst. Arbeitslosigkeit und Zukunftsangst machen blind für die Realität und auch für das Leid anderer.

In Berlin verkaufen Vietnamesen Zigaretten aus Diplomatenkoffern heraus, immer darauf hoffend, daß niemand sie verjagt, keine Polizei nach der Gewerbeerlaubnis fragt, kein Sturmtrupp schwarzuniformierter Jugendlicher ihnen das Bleiberecht nehmen will. In Berlin sehen sogar die schönen Asiaten grauer aus als anderswo in dieser Welt, gedrückter, und die wenigen dunkelhäutigen Kinder gehören nicht wie selbstverständlich in den Alltag. Das hat mit geistigem Klima, nicht aber mit dem Wetter zu tun. "Ausländer raus", steht an manchen Wänden, und zu Hitlers Geburtstag schrien Neonazis vor Stepan Lewins Fenster unisono ihr "Juden raus". Stepan ist russischer Jude und vor einigen Monaten gekommen, jetzt nennt man ihn einen Kontingentflüchtling. Als er in jener Nacht an die Haustür des Marzahner Wohnheims ging, in dem die Juden auf Wohnungen und

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Arbeit warten, rannten die Jugendlichen weg. Sie hätten Stepan zusammenschlagen können. Im Neubau vis-à-vis wurde kein einziges Fenster geöffnet. Stepan wollte ursprünglich nach Amerika, das war vor 10 Jahren und ausreisen war nicht möglich, dann waren die Quoten voll und er hörte, Deutschland nehme unquotierte Juden. Die USA sind ein Einwanderungsland und Deutschland will keins sein, auch wenn inzwischen 4 Millionen Nichtdeutsche zugezogen sind. Amerika quotiert die Einreise nach Land und Chancen. In Deutschland werden komplizierte Regeln des Aufenthalts bestimmt. Amerika entscheidet an der Grenze, ob jemand bleiben darf oder nicht. Deutschland läßt die Bewerber lange in Ungewißheit harren, als ließen sich damit Einwanderer vertreiben. Stepan, der Elektroingenieur, hat Arbeit als Elektriker gefunden. Er hat seinen Kollegen erzählt, warum er, der Jude, als Tourist mit Frau und Kind aus Moskau nach Berlin kam und mit einem Koffer voller Sachen geblieben ist. Eigentlich halten ihn die Kollegen für einen Russen, Ausländer ist er allemal, daß er Jude ist, war ihnen fremd. Sie dachten, Judentum sei eine Religion, nicht aber ein Volk.

Nein, Deutschland ist wahrlich kein Vielvölkerstaat, auch kein multikulturelles Land. Vielfalt ist meine Hoffnung, mit der sich keine Bundestagswahl gewinnen läßt. Aber warum ist es so? Eine Befragung zur Ausländerfeindlichkeit in der Ex-DDR ergab, daß Österreich, Frankreich, Dänemark und - eine ostdeutsche Besonderheit! - die CSFR, Niederlande, Griechenland, Ungarn, Sowjetunion, auch das dürfte im Allbestand anders ein, Italien und die USA Länder sind, die den Befragten im Winter 1990 sehr, oder wenigstens relativ sympathisch waren. Die Türkei, Polen, Rumänien, Algerien, Mozambique, Kuba, Angola, China, Chile und Nicaragua vereinten eine starke oder gemäßigtere Abneigung auf sich. Wie kommt die Türkei an diese negative Spitze? Es hat niemals Erfahrungen mit Türken in der DDR gegeben. Sind die Türken zum Synonym für Ausländer schlechthin geworden? Ist der Sammelbegriff durch das zuvor abstrakte Wort Türkei zu scheinbarer Bekanntheit gekommen, das nationale Stereotyp unbefragt in das Alltagsleben eingedrungen? Kann man Vorurteile exportieren? Es gibt keine einfachen Antworten, die meisten Menschen haben differenzierte Auffassungen zum Thema. Man muß klären, wohin die in Fragen Integration unentschiedene Bevölkerungsmajorität treibt, anstatt nur gebannt auf die militante Minorität deutschnationalistischer Gruppen zu starren. Gegen Brutalität ist Vernunft machtlos. Hier ist das offizielle Deutschland angefragt. Irre ich mich, oder höre ich wirklich so wenig von Solidarität aus deutschem Politikermund?

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Die Erfahrung muß herhalten: Wenn Sowjets, Tschechen, Ungarn nicht irrational als Ausländer angefeindet werden, dann spricht Umgang und Kenntnis, Vertrautheit über Land und Leute dafür, daß Normalität Alltäglichkeit voraussetzt. Wenn vom Miteinander gesprochen wird, wüßte ich gern, wo es stattfinden soll, wenn in ostdeutschen Schulen keine Kinder mit anderer Religion und Kultur neben den Einheimischen sitzen und die Lehrer nicht wissen, was Heimweh bedeutet. Es reicht nicht, dem Döner Kebab die Aufgabe zu überlassen, um Sympathie für die Türkei zu werben. Wir brauchen einander auf dieser Welt, auch auf deutschem Boden. Das stimmt nur für den, der dieses Bedürfnis entwickelt hat. Nein, ich glaube nicht an diese These, daß Deutsche und Ausländer sich zu arrangieren haben, ich glaube nur daran, daß Menschen unterschiedlicher Nationalität und Ethnie miteinander umgehen müssen. Wenn eine Mauer der Nationalität das Recht zerteilt, wird man Folklore für Integration halten. Im deutschen Fernsehen ist die Zahl der Ansager, die anders aussehen, gering:

Wieso gibt es keinen schwarzen Nachrichtensprecher, keinen türkischen, keinen jugoslawischen, keinen aus Asien, der Sprache mächtig, in der Politik bewandert? Ist das nur Diskriminierung oder einfach nur Üblichkeit? Im Osten mußten die Kinder der afrikanischen Väter nicht unbedingt zur Armee, und sie sollten auch nicht in den Leistungssport.

Im Westen lebten vor der Einigung 4.489.100 gegenüber 191.190 Ost-Ausländern. Die Zahl der westlichen dürfte von der Staatseinigung kaum beeinflußt worden sein, doch im Osten wurde getan, als seien die Ausländer schuld am Dilemma der vorhersehbaren Zukunft. Eine widerliche Ausländerfeindlichkeit richtete sich allerorten ein, offen und verdeckt trägt sie mehrere Gesichter, ist rassistisch, wenn es gegen Afrikaner und Asiaten geht, erkennbare Nichteuropäer also, xenophobisch nationalistisch gegen Polen, Türken, Rumänen, gegen Araber, Kubaner, Sinti und Roma und andere. Moralische Appelle sind nutzlos, auf den Bauch reagiert der Bauch, der Kopf kann mit dieser Sinnlosigkeit nicht umgehen. Wird das Jahrhundert im nationalistischen Zwist untergehen, weil es so begonnen hat? Ich habe keine Visionen für eine schnelle und freundlichere Lösung, wenn nicht einmal das kommunale Ausländerwahlrecht ohne Hysterie zu diskutieren geht.

Bleiben wir bei Deutschland-Ost, bleiben wir dabei, daß Überfälle auf polnische Touristen noch immer keine Massenproteste hervorrufen, daß das neue Ausländergesetz definitiv verschiedene Kategorien des Fremdseins bestimmt

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und politisches Wohlverhalten fordert, daß deutscher Familiensinn versagt, wenn Türken und andere, auch Sowjetjuden ihre alten Eltern oder ihre über 16jährigen Kinder holen wollen. Vielleicht führt auch das zur Haltlosigkeit arbeitsloser türkischer Jugendlicher. Solidarität ist ein Fremdwort geblieben. Vom Teilen kann nicht die Rede sein, wenn der Besitz an Überflüssigem zur Norm avanciert, während der größte Teil der Menschheit Mangel am Nötigsten leidet.

Wer hat denn nun Angst vor dem Schwarzen Mann? „Black is beautiful„ war die Losung der Studenten und bewegten Bürger in den 60ern in den USA. Die Wende der DDR zum Osten eines einheitlichen Deutschlands war nicht von solchen Losungen begleitet. Die Welt der anderen war vorübergehend ausgeblendet. Aus der neuen Freiheit wurde Angst vor der Freizügigkeit der anderen. Grenzen zu, war der schnelle Ruf der Einheit, und er richtete sich gen Osten. Heute kommen 20 Prozent aller Asylbewerber, Aussiedler und Flüchtlinge in die neuen Bundesländer, die Altländer-Administration hat sich ihr Bild einer sonderbaren Gerechtigkeit gemacht. Wie immer werden die Menschen hierbei übersehen und nicht gefragt. Im Osten gab es nur Fernweh. Jetzt kommt die Ferne vor die Haustür und stört. Doch In- und Ausland gehören zusammen, sind diese Welt. Man könnte auch sagen: Außerhalb der Landesgrenzen leben andere Einheimische, für die alles andere Ausland und die Deutschen Ausländer sind.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | Mai 2001

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