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Hartmut Seifert
Lernzeitkonten: Baustein für ein Konzept des lebenslangen Lernens


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1. Problemstellung

Kaum eine der anstehenden gesellschaftlichen Zukunftsaufgaben findet eine derartig breite Zustimmung im politischen und wissenschaftlichen Bereich wie die Entwicklung eines tragfähigen Konzeptes für lebenslanges Lernen. Gleichwohl sind die bisherigen Vorstellungen über den institutionellen, organisatorischen, zeitlichen, finanziellen oder curricularen Rahmen überraschend rudimentär und vage geblieben. Dieses eklatante Politikdefizit muss um so mehr überraschen, als unisono die herausragende Bedeutung von Weiterbildung für die zukünftige Wettbewerbsposition der deutschen Wirtschaft, für die Sicherung von Beschäftigung und Einkommen reklamiert wird. Eine Erklärung hierfür könnte sein, dass sich keiner der politischen Akteure zutraut, eine derartig ambitionierte Herausforderung allein zu schultern. Die abwartende Untätigkeit könnte aber auch damit zu tun haben, dass die potenziellen Akteure angesichts der von ihnen möglicherweise eingeforderten Konzessionen gegenüber liebgewordenen Positionen ihre, den Status quo sichernde, Passivität als strategischen Vorteil begreifen. Gefordert ist eine lastenteilige Kooperation von Staat und Tarifvertragsparteien, von Betrieben und Beschäftigten. Dabei werden die Beteiligten kaum umhin kommen, ihre bisherigen Positionen zu überdenken und neu auszurichten. Im Gegenzug steigen dann in dem Maße, wie die genannten Akteure ihre spezifischen Kompetenzen und Ressourcen einbringen und bündeln, die Aussichten, das gesellschaftliche Großprojekt des lebenslangen Lernens zu realisieren.

Einen wegweisenden Hinweis, in welche Richtung zumindest die zeitorganisatorischen Voraussetzungen für ein Konzept des lebenslangen Lernens zu entwickeln sind, haben jüngst die im Bündnis für Arbeit kooperierenden Akteure gegeben. In ihrer gemeinsamen Erklärung des 6. Spitzengespräches vom 10. Juli 2000 heißt es: „Wir sehen in langfristigen Arbeitszeitguthaben eine Möglichkeit, Lebenslagen orientiert in Weiterbildung, in Alters-

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vorsorge und in ein vorzeitiges Ausscheiden aus dem Erwerbsleben im Rahmen der Altersteilzeit zu investieren„ (Presse- und Informationsamt 2000).

Diese tripartistisch abgestimmte Vorgabe dient den nachfolgenden Überlegungen als Richtschnur. Sie greifen die Idee der Lernzeitkonten auf und versuchen, sie weiter zu entwickeln und zu präzisieren. Die Grundidee sieht vor, für jeden Beschäftigten ein Lernzeitkonto einzurichten, das sich aus unterschiedlichen Quellen speist. Sowohl der Gesetzgeber als auch die Tarifvertragsparteien sowie Betriebe und Beschäftigte tragen zum Aufbau von Guthaben auf den Lernzeitkonten bei. Dieser Ansatz wird in drei Schritten entwickelt: Zunächst ist zu prüfen, welche Anknüpfungspunkte die bestehenden zeitorganisatorischen Strukturen sowie Rechtsansprüche auf berufliche Weiterbildung für eine flächendeckende Einführung von Lernzeitkonten bieten. Eine erste Bestandsaufnahme soll Auskunft geben, welche Verbreitung Arbeitszeitkonten bislang gefunden haben und welche Nutzungsmöglichkeiten sie für berufliche Weiterbildung bieten (Kap. 2). Eine zweite Bestandsaufnahme überprüft das Spektrum an bestehenden Weiterbildungsansprüchen (Kap. 3). Welche Basis bieten sie für generelle Lernzeitansprüche, welche Lücken gilt es zu schließen? Auf den Ergebnissen dieser beiden Bestandsaufnahmen basieren die abschließenden konzeptionellen Überlegungen. Sie entwerfen einen Rahmen für die Organisierung und Institutionalisierung von Lernzeitkonten (Kap. 4). Diese Überlegungen begreifen sich als Grobplan, der die zeitorganisatorischen Grundlagen für ein Konzept des lebenslangen Lernens skizziert. Angeschnitten sind damit auch Fragen der Kostenverteilung. Andere wichtige Bausteine, die die organisatorischen, institutionellen, curricularen Voraussetzungen betreffen, bleiben hier ausgeklammert.

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2. Zeitkonten

Bei der Einrichtung von Lernzeitkonten ist es denkbar, entweder bestehende Arbeitszeitkonten als Basis zu nutzen und entsprechend zu modifizieren oder separat spezielle Konten einzurichten und zu führen. Die Entscheidung für eine der beiden Varianten hängt vor allem von der Komposition derjenigen Zeitelemente ab, die zur Bildung von Guthaben auf den Lernzeitkonten beitragen sollen. Bedeutsam ist ferner die Frage, inwieweit Lern-

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zeitkonten auf bestehenden Zeitkonten aufbauen und diese sowohl hinsichtlich ihrer Anspar- als auch Verwendungsmöglichkeiten nutzen können. Deshalb sind zunächst die zeitorganisatorischen Voraussetzungen für die Einrichtung von Lernzeitkonten zu überprüfen. In welchem Maße finden Zeitkonten bislang Anwendung, und welche Ansatzpunkte bieten sie für eine qualifikationsorientierte Nutzung?

Zeitkonten stellen eine neue Form dar, die tariflich oder individuell vereinbarte Regelarbeitszeit variabel zu bewirtschaften. Sie bieten Möglichkeiten, die jeweilige Regelarbeitszeit innerhalb festgelegter Bandbreiten unterschiedlich auf der Zeitachse zu portionieren und Abweichungen nach oben als Zeitguthaben und nach unten als Zeitschulden zu verbuchen. Das Ansparen und spätere Auflösen von Zeitguthaben erlaubt, die Arbeitszeit innerhalb definierter Zeiträume zu verkürzen oder zu unterbrechen. Die Entnahme von Zeitkonten lässt unterschiedliche Dosierungen zu: stundenweise, in Form einzelner freier Tage oder größerer Freizeiträume bis hin zu Sabbaticals oder auch in Verbindung mit Altersteilzeit oder vorzeitigem Ausstieg aus dem Erwerbsleben. Zeitguthaben lassen sich aber auch für Maßnahmen der beruflichen Weiterbildung nutzen. Welche Verbreitung haben Zeitkonten bislang gefunden, und inwieweit dienen sie für berufliche Weiterbildung?

Zeitkonten haben in den letzten Jahren rasche Verbreitung gefunden. In etwa zwei Drittel aller Betriebe [Die Werte der bislang vorliegenden Untersuchungen streuen. Die WSI-Betriebsrätebefragung 1999/2000 beziffert den Anteil der Betriebe mit Zeitkonten auf 78%. Dieser höhere Wert ist darauf zurückzuführen, dass diese Erhebung Kleinbetriebe mit weniger als 20 Beschäftigten ebenso wenig erfasst wie betriebsratslose Betriebe. Die Ergebnisse der WSI-Betriebsrätebefragung 1999/2000 werden in Heft 2/2001 der WSI-Mitteilungen vorgestellt.] bilden sie die Grundlage für neue Formen einer variablen Zeitbewirtschaftung (DIHT 2000). Der Anteil der Beschäftigten, die ihre Arbeitszeit mit Hilfe von Zeitkonten verwalten, liegt niedriger [Die WSI-Betriebsrätebefragung quantifiziert ihn mit 69% gemessen an sämtlichen Beschäftigten in Betrieben mit Betriebsrat und Arbeitszeitkonten. 78% dieser Betriebe haben Zeitkonten eingeführt. Der im Vergleich zur DIHT-Untersuchung höhere Wert hat zum einen damit zu tun, dass die WSI-Befragung nicht auch Betriebe mit weniger als 20 Beschäftigten einbezogen hat und zum anderen in betriebsratsfreien Betrieben der Grad formaler Arbeitszeitregelung niedriger liegen dürfte.].
Eine Erhebung des ISO-Instituts kommt auf 37% (Bundesmann-Jansen et al. 2000), wobei dieser Wert wegen einer restriktiven Zeitkontendefinition

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das tatsächliche Ausmaß dieser Arbeitszeitform unterschätzt. Die Verbreitung von Zeitkonten korrespondiert eng mit der Betriebsgröße.

Aufgekommen waren Zeitkonten mit der Einführung der Gleitzeitarbeit in den 60er Jahren. Mittlerweile ist diese Urform in zahlreichen Varianten modifiziert und ausdifferenziert worden. Auf Zeitkonten können unterschiedliche Zeitelemente verbucht werden. Am häufigsten handelt es sich um Überstunden, gefolgt von Zeitelementen aus Gleitzeitarbeit, Korridorregelungen, tariflichen Arbeitszeitverkürzungen, Zeitzuschlägen für Nacht- oder Wochenendarbeit. Die Nutzung der aus diesen Quellen gespeisten Zeitguthaben für berufliche Weiterbildung ist bislang noch seltene Ausnahme und nur bei 7% der Betriebe (mit Betriebsrat) mit Zeitkonten möglich. Auf eine ähnliche Größenordnung kommt auch die Betriebsbefragung von Uni-Duisburg/WSI aus dem Jahre 2000.

Die Möglichkeiten, Zeitkonten für berufliche Weiterbildung zu nutzen, hängen von deren zeitorganisatorischen Strukturen, wie vor allem den Ausgleichszeiträumen sowie den Höchstgrenzen für Guthaben ab. Mehrtägige Weiterbildungsmaßnahmen erfordern den Einsatz entsprechender Zeitguthaben, die erstens zunächst einmal gebildet werden und zweitens auch über einen bestimmten Zeitraum zur Verfügung stehen müssen. Wie die Ergebnisse der WSI-Betriebsrätebefragung von 1999/2000 zeigen, dominieren Zeitkonten mit eher kurzfristigem Charakter [Knapp die Hälfte der Betriebe begrenzt den Ausgleichszeitraum für Zeitkonten auf weniger als ein Jahr, ein Drittel der Betriebe hat Jahreskonten eingeführt, 14% sehen einen längeren Ausgleichszeitraum vor und 5% verzichten hierauf völlig. Langzeitkonten, die ein Ansparen von Zeitguthaben über ein Jahr hinaus ermöglichen, sind bislang eher noch Ausnahme.]. Knapp die Hälfte der Konten lässt zu, Guthaben über einen Zeitraum von höchstens einem Jahr anzusparen.

Zeitguthaben müssen bestimmte Mindestgrößen erreichen können, da ansonsten Zeitrestriktionen die Teilnahme an Weiterbildungsmaßnahmen auf ein enges Spektrum begrenzen würden. Höchstgrenzen limitieren die Bildung von Zeitguthaben. Sie sind in der weit überwiegenden Mehrheit der Zeitkonten üblich und liegen bei durchschnittlich gut 70 Stunden. Die Auflösung von Zeitpolstern in dieser Größenordnung würde Weiterbildungszeiten von etwa zwei Wochen erlauben. Zeitkontingente in dieser Größenordnung würden jedoch nur gut die Hälfte des durchschnittlichen

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Zeitaufwandes pro Weiterbildungsteilnehmer abdecken können, der 1997 aufgebracht wurde (Kuwan et al. 2000, S. 61). Bei einem nicht unerheblichem Teil der bestehenden Zeitkonten sind sowohl Zeitguthaben als auch die Ausgleichszeiträume auf enge Margen begrenzt, so dass die einsetzbaren Zeitvolumina lediglich für kurze (zwei- bis dreitägige) Weiterbildungsmaßnahmen ausreichen. So lässt ein Viertel der bestehenden Zeitkonten nur Zeitguthaben von maximal 20 Std. zu. Da derzeitig eher kürzere Weiterbildungsmaßnahmen (Kuwan et al. 2000) vorherrschen, würde die Mehrheit der bestehenden Arbeitszeitkonten genügend zeitlichen Spielraum bieten. Sieht man einmal von grundsätzlichen arbeitszeitpolitischen Überlegungen und Zielen ab, dann sind die Rahmengrößen der bestehenden Zeitkonten als technische Größen zu verstehen, deren Anpassung an veränderte Zielsetzungen und Verwendungszwecke keine grundsätzlichen organisatorischen Probleme aufwerfen sollte.

Für die weiteren Überlegungen zur Einrichtung von Lernzeitkonten erscheint schließlich noch der Befund bedeutsam, dass in etwa jedem fünften Betrieb (mit Betriebsrat und Zeitkonten) die angesammelten Zeitguthaben verfallen, sobald definierte Grenzwerte überschritten werden. Sie werden ersatzlos gestrichen, weder in Geld noch in Zeit vergütet und auch nicht auf andere, z. B. Langzeitkonten umgebucht. Zukünftig bietet sich an, diese Zeiteinheiten auf Lernzeitkonten zu transferieren und investiv für berufliche Weiterbildung zu nutzen.

In einem ersten Resümee lässt sich festhalten:

  1. Zeitkonten sind mittlerweile weit verbreitet, es verbleiben allerdings „Zeitkontenfreie Zonen„, vor allem im Bereich der kleineren und mittleren Betriebe.

  2. Die Nutzung von Zeitkonten für berufliche Weiterbildung steckt noch in den Kinderschuhen.

  3. Potential für eine investive Zeitnutzung im Rahmen von Lernzeitkonten bieten die bislang bei Überschreiten von Grenzwerten ersatzlos liquidierten Zeitguthaben.

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3. Ansprüche auf Lernzeiten

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Als Grundstock für Lernzeitkonten kommen bestehende Ansprüche auf Lernzeiten in Frage. Deshalb ist im Rahmen einer weiteren Bestandsaufnahme zu prüfen, welches „Startkapital„ sich durch bereits bestehende Weiterbildungsansprüche mobilisieren ließe. Rechtsansprüche auf berufliche Weiterbildung bieten sowohl verschiedene Gesetze als auch Tarifverträge sowie zunehmend auch Betriebsvereinbarungen (Seifert 2000). Etwa ein Drittel aller Teilnehmer an Maßnahmen der beruflichen Weiterbildung hat 1997 eine dieser verschiedenen Anspruchsgrundlagen auf Freistellung genutzt (Kuwan et al. 2000). Die Freistellungen verteilen sich vor allem auf folgende Regelungsebenen [Neben den hier genannten Regelungsbereichen spielen ferner eine Rolle: individuelle Bildungsfreistellungsregelungen (15%), Betriebsverfassungs- und Personalvertretungsgesetz (5%) und sonstige Regelungen.] (Kuwan et al. 2000, S. 344):

(1) Gesetzliche Anspruchsgrundlagen bilden trotz abnehmender Bedeutung immer noch den wichtigsten Bezugspunkt für Freistellungen. Auf sie entfielen 1997 insgesamt 30% aller Freistellungen für berufliche Weiterbildung. Drei Jahre zuvor waren es noch 38%. Das Hauptgewicht liegt mit einem Anteil von 21% bei den in 11 Bundesländern existierenden Weiterbildungsgesetzen. Sie reservieren Beschäftigten eine fünftägige bezahlte Freistellung pro Jahr, die auch der beruflichen Weiterbildung dienen kann. Die Ausschöpfung dieser Freistellungsansprüche ist mit einer Teilnehmerquote von durchschnittlich etwa 1,5% jedoch gering, gemessen am Potenzial.

(2) Tarifvertragliche Regelungen liefern (1997) für 12% der Freistellungen eine Anspruchsgrundlage. Bislang existieren noch keine flächendeckenden Vereinbarungen analog zu den traditionellen Regelungsinhalten Einkommen und Arbeitszeit (Bispinck/WSI-Tarifarchiv 2000). Zudem sind die meisten Weiterbildungsvereinbarungen kontextgebunden und dienen der Lösung eng definierter Ziele (Rationalisierungsschutz, Frauenförderung, Entgeltfragen). Tarifvertragliche Weiterbildungsansprüche können sich auf längere Zeiträume von bis zu zwei Jahren beziehen und Maßnahmen der beruflichen Umschulung ermöglichen.

(3) Betrieblichen Vereinbarungen kommt mit einem Anteilswert von 29% an allen Freistellungen eine ähnliche Bedeutung zu wie sämtlichen gesetzlichen Anspruchsgrundlagen zusammen genommen. In fast jedem fünften

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Betrieb (mit Betriebsrat) haben die Betriebsparteien Vereinbarungen über berufliche Weiterbildung abgeschlossen. Unbekannt ist bislang, welche durchschnittlichen Zeitkontingente betrieblich vereinbarte Weiterbildungsansprüche vorsehen. Ebenso fehlt es an systematischen Informationen über die Anspruchsbedingungen [Erste Einblicke liefert eine Auswertung von 80 Betriebs- und Dienstvereinbarungen (Heidemann 1999).].

In jüngster Zeit ist gewisse Bewegung in die betriebliche Gestaltung von beruflicher Weiterbildung gekommen. Verschiedene Firmentarifverträge und Betriebsvereinbarungen haben generelle Ansprüche auf berufliche Weiterbildung verankert (Heidemann 1999). Sie betreffen jeweils den nicht-betrieblich initiierten Teil der beruflichen Weiterbildung, der von den Beschäftigten gewählt wird und vorrangig deren Aufstiegsorientierung dienen soll. Dabei erfolgt die Verteilung von Lernzeit, Arbeitszeit und Freizeit nach folgenden zwei Mustern: Ein Modell definiert diesen Teil der Weiterbildungszeit als Freizeit, das andere Modell verteilt ihn auf Freizeit und Arbeitszeit. Für die erste Variante steht ein bereits 1988 im Zusammenhang mit der Verkürzung der tariflichen Wochenarbeitszeit abgeschlossener Firmentarifvertrag bei der Deutschen Shell AG. Er bietet den Beschäftigten die Option, die um eine Stunde pro Woche verkürzte Arbeitszeit entweder als Freizeit oder als Lernzeit zu nutzen und diese Zeitkontingente durch andere Zeitelemente (z. B. Überstunden) aufzustocken. Optieren die Beschäftigten für Weiterbildung und bringen sie die hierfür benötigten Zeiteinheiten auf, übernimmt der Betrieb die direkten Kosten der Weiterbildung. Die Erfahrung mit diesem Modell zeigt, dass ein knappes Drittel des gesamten für betriebliche Weiterbildung aufgewendeten Zeitvolumens auf Freizeit entfällt (Deutsche Shell 2000). Im Unterschied zu diesem auf Freizeit basierenden Lernzeitmodell sehen einige jüngere betriebliche Weiterbildungsregelungen (z. B. bei der Debis AG oder bei Compaq) eine Art „time-sharing„ vor. Beschäftigte und Betrieb teilen bei nicht-betrieblich initiierter Weiterbildung die vereinbarten Lernzeitkontingente nach unterschiedlichen Proportionen (hälftig oder ungleichgewichtig) untereinander auf. Gemeinsam ist beiden Lernzeit-Modellen, dass die Betriebe die direkten Kosten der Weiterbildung tragen.

Als zweites Zwischenresümee lässt sich festhalten, dass eine Vielzahl von unterschiedlichen Einzelregelungen auf unterschiedlichen Ebenen Ansprü-

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che auf berufliche Weiterbildung normiert. Sie sind jedoch lückenhaft, zudem in Teilen kontextgebunden und nicht aufeinander abgestimmt. Von einem flächendeckenden Konzept kann nicht die Rede sein. Gleichwohl liefern die bestehenden Weiterbildungsregelungen zeitorganisatorische Bausteine für ein Konzept des lebenslangen Lernens, die zu einer stimmigen Plattform zusammenzufügen und zu ergänzen sind.

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4. Ein Vorschlag für ein Konzept der Lernzeitkonten

Die vorangegangenen Bestandsaufnahmen haben eine Reihe von bestehenden Anknüpfungspunkten für ein Konzept der Lernzeitkonten aufgezeigt. Sowohl die bestehenden Arbeitszeitkonten als auch die verschiedenen gesetzlichen, tariflichen und betrieblichen Anspruchsgrundlagen auf berufliche Weiterbildung legen nahe, diese Ansatzpunkte weiter auszubauen und auf zukünftige Qualifizierungserfordernisse zuzuschneiden. Die nachfolgenden Überlegungen stützen sich auf dieses Fundament und versuchen, bestehende Lücken zu schließen. Dabei wird von folgenden Annahmen ausgegangen:

  1. Nicht nur die Notwendigkeit des lebenslangen Lernens ist unterstellt. Aufgrund absehbarer, sowohl nachfrageseitiger (steigender und sich zudem rasch wandelnder Bedarf an qualifizierten Arbeitskräften, Tertiarisierung der Wirtschaft, Vordringen atypischer Erwerbsformen) als auch angebotsseitiger (Alterung der Erwerbsbevölkerung, hohe Migrationszahlen) Veränderungen des Beschäftigungssystems wird ferner von einem steigenden Weiterbildungsbedarf und einem erhöhten durchschnittlichen Lernzeitaufwand ausgegangen.

  2. Aus der Entscheidung, die bestehenden Anspruchsgrundlagen auf berufliche Weiterbildung als Ausgangspunkt für weitere konzeptionelle Überlegungen zu nutzen, ergibt sich folglich ein Regelungsmix, an dem neben dem Staat auch die Tarifvertragsparteien sowie die Betriebsparteien beteiligt sind.

  3. Lernzeitkonten basieren auf dem Prinzip des time-sharing. Ihr Nutzungsbereich bleibt auf den von den Beschäftigten initiierten Teil der beruflichen Weiterbildung begrenzt. Der zeitliche Aufwand für betrieblich initiierte Weiterbildung gilt weiterhin ausschließlich als Arbeitszeit.

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Vor diesem Hintergrund besteht ein erster Schritt darin, für jede/n Beschäftigte/n ein individuelles Lernzeitkonto einzurichten, das Ansprüche auf berufliche Weiterbildung normiert. In einem zweiten Schritt sind die Quellen zu bestimmen, die den zeitlichen Grundstock für Lernzeitkonten liefern. Es bieten sich an:

  1. Die Weiterbildungsgesetze der Länder bringen die Hälfte der bestehenden Lernzeitansprüche von fünf Tagen pro Jahr ein. Jedes individuelle Lernzeitkonto erhält eine jährliche Gutschrift von mindestens 2,5 Tagen [Die übrigen 2,5 Tage Anspruch verbleiben für allgemeine Weiterbildung. Diese hälftige Aufteilung entspricht in etwa den derzeitigen Verwendungsproportionen. ].
    Denkbar ist aber auch, den gesamten bisherigen Anspruch auf Bildungsurlaub für berufliche Weiterbildung zu reservieren. Ein Bundesgesetz lässt die fünf Bundesländer ohne Weiterbildungsgesetze aufschließen, um eine egalisierte Ausgangssituation herzustellen.

  2. Eine weitere Quelle bieten die zahlreichen tariflich und betrieblich vereinbarten Ansprüche auf Weiterbildungszeiten.

  3. Einen dritten Beitrag können Zeitelemente beisteuern, die bislang wegen Überschreitens von Grenzwerten verfallen. Ein einfach zu organisierendes Verfahren könnte vorsehen, sämtliche auf Kurzzeitkonten bei Erreichen von Grenzwerten angesammelten Zeiteinheiten automatisch auf Lernzeitkonten umzubuchen.

  4. Sollten sich die unter den vorstehenden Punkten 1. bis 3. genannten Quellen für die Bildung von Zeitguthaben als nicht ergiebig genug erweisen, könnten weiterbildungsorientierte tarifliche Arbeitszeitverkürzungen nach dem (oben skizzierten) Muster des Tarifvertrages bei der Shell AG die Lernzeitkonten weiter aufstocken.

Der hier grob skizzierte Vorschlag zur Einrichtung von Lernzeitkonten bricht mit zwei von den Tarifvertragsparteien verteidigten Prinzipien. Da seine Realisierung auf Konsens der Tarifvertragsparteien angewiesen ist, steigen die Chancen, wenn die Gewerkschaften Weiterbildungszeit nicht mehr ausschließlich als Arbeitszeit definieren. Im Gegenzug müssten die Arbeitgeberverbände bereit sein, sich mit generellen Anspruchsrechten auf berufliche Weiterbildung zu arrangieren. Da diese beiden Prinzipien, wie gezeigt, partielle Auflösungserscheinungen erkennen lassen, besteht berechtigte

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Hoffnung, dass unter definierten Bedingungen ein modifizierter Umgang mit Lernzeiten und generellen Ansprüchen möglich wird und damit kontraproduktive Blockaden vermieden werden. Für eine nach dem beschriebenen Muster des „time-sharing„ geregelte Einführung von Lernzeitkonten spricht ferner, dass dieses Modell die wildwüchsige Verlagerung von Zeiten der beruflichen Qualifizierung in den Bereich der Freizeit [Mittlerweile fallen mindestens 20% der für berufliche Weiterbildung insgesamt aufgewandten Zeit in den Freizeitbereich (Weiß 2000). Diese Größenordnung dürfte die Untergrenze markieren, da in Betriebsbefragungen das tatsächliche Ausmaß der von den Beschäftigten während der Freizeit aufgebrachten Weiterbildungszeiten angesichts defizitärer Informationen kaum zu erfassen ist.] kanalisieren würde.

Die vorgeschlagenen konzeptionellen Überlegungen lassen eine Reihe von Fragen und Problemen ungelöst, mit denen bei der betrieblichen Umsetzung und Organisierung zu rechnen ist. Zu klären sind Fragen alternativer Verwendungsmöglichkeiten von nicht ausgeschöpften Lernzeitguthaben einschließlich deren Konvertierbarkeit in Geld, Fragen des Insolvenzschutzes, der zwischenbetrieblichen Transferierbarkeit sowie der Abgrenzung von betrieblich oder individuell initiierter Weiterbildung. An dieser Stelle können mögliche Lösungen der angeschnittenen Probleme nur knapp angedeutet werden.

  • Alternative Verwendungen: Da aufgrund bisheriger Erfahrungen davon auszugehen ist, dass nicht sämtliche Beschäftigtengruppen den gleichen zeitlichen Bedarf für berufliche Weiterbildung reklamieren und ausschöpfen werden, ist die Frage nach alternativen Verwendungsmöglichkeiten zu klären. Eine denkbare Möglichkeit wäre, nicht ausgeschöpfte Zeitguthaben differenziert nach ihrer Aufbringungsquellen zu behandeln und die aus den Weiterbildungsgesetzen stammenden Zeiteinheiten zweckgebunden nur für berufliche Weiterbildung und nicht auch für andere Verwendungen wie Frühverrentungen, Sabbaticals usw. zu reservieren.

  • Insolvenzsicherung: Verschiedene Lösungen bieten sich an (MASSKS 1999): tarifvertragliche Vereinbarungen nach dem Muster der Bauindustrie, Fondslösungen nach dem Vorbild der Volkswagen AG, Kautionsversicherungen, Bankbürgschaften usw. Kapitalfondslösungen versprechen Verzinsungen der Zeitkonten, bergen aber auch Risiken der

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    Aktienkursentwicklung. Die anderen Varianten sind mit Kosten verbunden.

  • Transferierbarkeit: Bei einem Wechsel des Unternehmens bietet sich angesichts der zunächst noch zu erwartenden Heterogenität der Lernzeitkonten vor allem im Hinblick auf die individuellen Zeitansprüche an, Guthaben, soweit sie nicht aus den Weiterbildungsgesetzen stammen, in Geld zu transformieren mit der Möglichkeit, die Geldeinheiten bei Wechsel des Arbeitgebers in neuerliche Lernzeitansprüche zurückzutauschen.

  • Abgrenzungsprobleme: Da die vorgeschlagenen Lernzeitkonten nur für Weiterbildungsaktivitäten reserviert sind, die von den Beschäftigten initiiert werden, können Abgrenzungsprobleme gegenüber betrieblich initiierten Maßnahmen entstehen. Formal erscheint die Abgrenzung problemlos. Nicht auszuschließen sind jedoch Grauzonen, die vor allem unter ökonomischem Druck in betrieblichen Krisenphasen zu Konflikten führen können. Betriebsinterne, paritätisch besetzte Kommissionen, wie sie bereits in einigen Betrieben existieren, stellen einen praktikablen Weg der Konfliktlösung dar.

  • Kleinere und mittlere Unternehmen: Unternehmen in dieser Größenordnung verfügen bislang über vergleichsweise bescheidene Voraussetzungen, Lernzeitkonten einzuführen und systematisch für berufliche Weiterbildung zu nutzen. In organisatorischer Hinsicht dürfte die formale Einrichtung von Zeitkonten keine Schwierigkeiten bedeuten und letztlich nur eine informell bereits häufig praktizierte variable Arbeitszeitgestaltung kodifizieren. Die Organisierung von Weiterbildung scheint eher das Problem. Hier bietet sich das Konzept der Qualifizierungsnetzwerke an, die dazu dienen können, „einen zwischenbetrieblichen Transfer von Weiterbildungsleistungen zu organisieren„ (Bosch et al. 1997). Solche Netzwerke funktionieren aber auch nur dann, wenn die Betriebe entsprechende personalpolitische Voraussetzungen schaffen und zumindest rudimentäre Formen einer Weiterbildungsplanung einrichten.

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5. Abschließende Bemerkungen

Erfolgversprechende Anknüpfungspunkte für ein Konzept des lebenslangen Lernens bieten sowohl die bereits eingeführten Zeitkonten als auch die vorhandenen gesetzlichen, tariflichen und betrieblichen Lernzeitansprüche. Sie lassen sich zu einer tragfähigen Plattform zusammenfügen und ergänzen, so dass für sämtliche Beschäftigte individuelle Lernzeitkonten eingerichtet werden können. Bislang von beruflicher Weiterbildung ausgesparte Beschäftigte erhalten neue Chancen, sich an die raschem Wandel ausgesetzten Qualifikationsanforderungen vorzubereiten und anzupassen. Erst eine solche, sämtliche Wirtschaftszweige, Betriebstypen und Beschäftigtengruppen einbeziehende Weiterbildungsgrundlage schafft die nötigen Voraussetzungen, dass die den Beschäftigten abverlangte stärkere Eigenverantwortung für die Sicherung ihrer Beschäftigungsfähigkeit (employability) eine realisierbare Perspektive erhält.

Die hier entwickelten Vorschläge für die Einrichtung von Lernzeitkonten können notwendige, aber noch nicht hinreichende Grundlagen für ein Konzept des lebensbegleitenden Lernens schaffen. Sie sind zu ergänzen durch die Entwicklung differenzierter Curricula, die an den spezifischen Kenntnissen und Lernfähigkeiten der Beschäftigten anknüpfen, die ferner in modularisierter Form den Erwerbsprozess begleiten und zu entsprechenden (Teil-)Abschlüssen führen.

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Literatur

Bispinck, R., WSI-Tarifarchiv (2000): Qualifizierung und Weiterbildung in Tarifverträgen. Elemente qualitativer Tarifpolitik Nr. 42, Düsseldorf

Bosch, G., Dobischat, R., Husemann, R. (1997): Berufliche Weiterbildung und regionale Innovation, in: Dobischat, R., Husemann, R. (Hg.): Berufliche Bildung in der Region, Berlin, S. 87 - 103

Bundesmann-Jansen, J., Groß, H., Munz, E. (2000): Arbeitszeit '99, (Hg.), Ministerium für Arbeit, Soziales und Stadtentwicklung, Kultur und Sport des Landes Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf

Deutscher Industrie- und Handelstag (2000): Arbeitszeitflexibilisierung zur Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit, Berlin

Deutsche Shell (2000): Geschäftsbericht 1999, Hamburg

Heidemann, W. (1999): Betriebsvereinbarungen „Betriebliche Weiterbildung„. Analyse und Handlungsempfehlungen, edition der Hans-Böckler-Stiftung, Düsseldorf

Kuwan, H., Gnahs, D., Seidel, S. (2000): Berichtssystem Weiterbildung VII, (Hg).: Bundesministerium für Bildung und Forschung, Bonn

Ministerium für Arbeit, Soziales und Stadtentwicklung, Kultur und Sport des Landes Nordrhein-Westfalen (1999), (Hg.): Die Insolvenzsicherung von Arbeitszeitguthaben, Düsseldorf

Presse- und Informationsamt der Bundesregierung (2000): Sozialpolitische Umschau, Ausgabe 22, vom 17. Juli, Berlin

Seifert, H. (2000): Lernzeiten - Investitionen in die Zukunft organisieren, in: Hessische Blätter für Volksbildung, S. 154 - 161

Weiß, R. (2000): Wettbewerbsfaktor Weiterbildung. Ergebnisse der Weiterbildungserhebung der Wirtschaft. Institut der deutschen Wirtschaft. Beiträge zur Gesellschafts- und Bildungspolitik 242, Köln

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