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TEILDOKUMENT:
[Seite der Druckausg.:7] Günther Schultze
Der Vertrag von Amsterdam überführt wesentliche Bereiche der Auslän-der-, Asyl- und Flüchtlingspolitik in die Zuständigkeit der Europäischen Gemeinschaft. Innerhalb eines Zeitraums von fünf Jahren soll der Rat europäische Regelungen erarbeiten. Cornelie Sonntag-Wolgast weist darauf hin, dass europäische Entscheidungen in Zukunft wesentlich die nationalen Handlungsspielräume bestimmen werden. Ein Ziel ist die Schaffung eines gemeinsamen europäischen Asylsystems. Hierzu müssen Regelungen über Zuständigkeiten, Asylverfahren, Aufnahmebedingungen und Anerkennungskriterien gefunden werden. Diskussionen finden zur Zeit darüber statt, wie die Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des für die Prüfung eines Asylantrages zuständigen Mitgliedsstaates überarbeitet werden können. Mit der Inbetriebnahme von Eurodac soll ein europaweites System zum Vergleich von Fingerabdrücken von Asylbewerbern und illegal eingereisten Ausländern geschaffen werden. Vorschläge gibt es für Mindestnormen, für die Gestaltung von Asylverfahren und für die Mindestnormen für Aufnahmebedingungen. Ein Entwurf, wie die Flüchtlingsanerkennung geregelt werden soll, wird die Kommission erst in zwei bis drei Jahren vorlegen. Beschlossen hat der Justiz- und Innenrat Ende September 2000 die Errichtung eines europäischen Flüchtlingsfonds. Der Vorschlag für eine Richtlinie zur Familienzusammenführung ist Teil der Migrationspolitik. Deutschland hat einen Prüfungsbedarf angemeldet, da einzelne Vorschriften zu einer erheblichen Ausweitung des Potentials der Nachzugsberechtigten führen würden. Der Amsterdamer Vertrag sieht vor, dass nach fünf Jahren entschieden wird, ob das Mehrheitsprinzip auf die Asyl-, Ausländer- und Flüchtlingsangelegenheiten übertragen wird. Während das Auswärtige Amt in allen Bereichen der Europäischen Gemeinschaft Entscheidungen mit qualifizierter Mehrheit anstrebt, kann das Bundesinnenministerium den Übergang zur qualifizierten Mehrheit nur in Bereichen akzeptieren, in denen es bereits gemeinsame Normen gibt. In der EU leben zur Zeit ca. 19 Millionen Ausländer, davon 70% aus Nicht-EU-Ländern. Nach Klaus Sieveking ist davon auszugehen, dass auch in [Seite der Druckausg.:8] Zukunft Wanderungsbewegungen in die EU stattfinden werden und diese wegen der Bevölkerungsentwicklung von nahezu allen Mitgliedsstaaten in erheblicher Größenordnung für erforderlich gehalten werden. Die europäische Einwanderungs- und Asylpolitik findet im Kontext internationaler, europäischer und nationaler Politikgestaltung statt. Auf der Ebene internationaler Politikentwicklungen sind der Zusammenhang der Globalisierung der Wirtschaft und der Wettbewerb um qualifizierte Migranten von Bedeutung. Auf der europäischen Politikebene stellt sich die Frage der Staatswerdung Europas, das heißt speziell, wie die Kompetenzabgrenzungen zwischen der Gemeinschaft und den Mitgliedsstaaten und den unterschiedlichen europäischen Gremien gelöst werden können. Auf der Ebene der Mitgliedsstaaten der EU sind die Fragen der Zulassung und die der Folgenbewältigung von Einwanderung durch Arbeitsmigration und Asyl zu bewältigen. Von 1974 bis 1999 hat ein Kompetenzwandel im Bereich von Einwanderung und Asyl vom sozialpolitisch motivierten Konzertierungsverfahren hin zur eigenständigen Kompetenz für Inneres stattgefunden. Endpunkt dieser Entwicklung stellt der Vertrag von Amsterdam dar, in dem eine weitgehende Vergemeinschaftung der Asyl- und Einwanderungspolitik festgeschrieben ist. Seit 1999, insbesondere im ersten Halbjahr 2000, sind auf der Grundlage dieses Vertrages eine Reihe von Vorschlägen verabschiedet worden. Diese beziehen sich auf die Visa, Asyl- und Vertriebenenpolitik, die Einwanderungspolitik und das Aufenthaltsrecht für Drittstaatsangehörige. Auch in Zukunft werden Migrationsfragen tendenziell mit Fragen der inneren Sicherheit verbunden bleiben. Der Vergemeinschaftungsprozess führt zu einer teilweisen Europäisierung der Innenpolitik. Die Einbeziehung von Nichtregierungsorganisationen in den politischen Konsensbildungsprozess ist das auffälligste Merkmal einer Fortentwicklung der Gemeinschaft hin zu einer politischen Union. Für Margot Kessler vom Europäischen Parlament stellt sich die Flüchtlingspolitik unterschiedlicher europäischer Länder wie ein Flickenteppich dar. Sehr unterschiedlich sind die nationalen Probleme und die Lösungsansätze. Als das gravierende Hindernis für eine gemeinsame europäische Einwanderungs- und Flüchtlingspolitik sieht sie nach wie vor das bis 2004 geltende Einstimmigkeitsprinzip bei Entscheidungen. Die Kommission und das Europäische Parlament wirkt darauf hin, dass danach Mehrheitsentscheidungen in diesem Politikfeld gelten werden. Dies bedeutet zugleich [Seite der Druckausg.:9] mehr Macht für das Europäische Parlament, da in der Regel bei Mehrheitsentscheidungen die Zustimmungen des EP nötig sind. Auch in den Ausschüssen des EP sind die Integrations- und Migrationspolitik Reizthemen, bei denen die gegensätzlichen Positionen der unterschiedlichen politischen Lager aufeinander treffen. Das EP beschäftigt sich intensiv mit den unterschiedlichen Vorschlägen zur Gestaltung einer gemeinsamen Flüchtlingspolitik. Spezielle Aktionspläne gibt es für Afghanistan, Albanien, Marokko, Somalia, Sri Lanka und Irak. Das Hauptziel ist es, die politische, wirtschaftliche und Menschenrechtssituation in den betroffenen Staaten zu untersuchen und Ursachen für Flucht und Auswanderung zu erkunden. Auf Druck des EPs wurde inzwischen auch eine neue Haushaltslinie für dieses Gebiet eingestellt. Auch über den Vorschlag der Kommission zur Neuregelung der Familienzusammenführung gab es kontroverse Debatten im Europäischen Parlament. Für die von der Kommission vorgelegte neue Gesetzgebung stimmten insgesamt 323 Abgeordnete, dagegen 212 Abgeordnete. Weiterhin beschäftigte sich das EP mit einer Initiative Frankreichs zu einer Richtlinie zur illegalen Einreise. Neben repressiven Maßnahmen ist es notwendig, mit den Ursprungs- und Transitländern dieser illegalen Migrationsbewegungen eine justitielle Zusammenarbeit einzugehen und in diesen Ländern Informationskampagnen über die Gefahren der illegalen Einreise durchzuführen. Aufgerüttelt hat die Abgeordneten die Nachricht vom tragischen Tod von 58 Einwanderern im Juni 2000, die in einem Lastwagen an der britischen Grenze in Dover gefunden wurden. Das Europäische Parlament hat in einer gemeinsamen Entschließung den Rat aufgefordert, Schritte zu unternehmen, um insbesondere kriminelle Organisationen zu bekämpfen und Menschenhandel zu unterbinden. Der Vertrag von Amsterdam hat den europäischen Institutionen beträchtliche Befugnisse verliehen, gegen Diskriminierung aus Gründen der Rasse vorzugehen. Jan Niessen führt aus, dass der neue Artikel 13 des EG-Vertrages Institutionen ermächtigt, geeignete Maßnahmen zu ergreifen, um Diskriminierungen Einhalt zu gebieten. Diskriminierungen aus Gründen des Geschlechtes, der Rasse, der ethnischen Herkunft, der Religion oder der Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Ausrichtung können in Zukunft bekämpft werden. Diese Anti-Rassismusrichtlinie verbietet mittelbare und unmittelbare Diskriminierung. Sie gestattet auch positive Maßnahmen und verpflichtet die Mitgliedsstaaten zum Erlass von [Seite der Druckausg.:10] Rechts- und Verwaltungsvorschriften zu ihrer Durchsetzung. Sie muss bis Juli 2003 in die nationale Gesetzgebung der Mitgliedsstaaten aufgenommen werden. Dieser Prozess setzt die aktive Beteiligung der EU-Kommission, des Europäischen Parlaments und der europäischen nicht-staatlichen Akteure einerseits sowie der nationalen Parlamente und nationalen nicht-staatlichen Akteure andererseits voraus. Wichtig ist insbesondere eine Informationskampagne über den Inhalt dieser Richtlinie. Dieses Thema muss auch mit den neuen Beitrittskandidaten besprochen werden. © Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | November 2001 |